Wir dokumentieren: Ungehorsam ist aller Wende Anfang

In einem Rundumschlag beleuchtet die bolivianische Feministin María Galindo die großen Themen der heutigen Zeit und stellt die Frage, was passiert, wenn wir die vermeintliche Komfortzone der Normalität verlassen. Galindo ist Gründerin der Gruppe Mujeres Creando, Künstlerin, Aktivistin, Intellektuelle, Filmemacherin und Autorin mehrerer Bücher,    darunter „A Despatriarcar“ (De-Patriarchalisierung jetzt!). Ihr Text ist zugleich Chronik, Anklage und Poesie, vor allem aber eine Streitschrift gegen Gehorsam und Resignation.  

(La Paz, 7. Juni 2020, Radio Deseo).- Als lebenslange Bewohnerin des Unnormalen betrachte ich es als meine Pflicht, euch zu sagen: Die Sphäre der Unnormalität existiert, ihre Eingangspforte ist himmelblau, der Schlüssel zur Pforte heißt Ungehorsam, und was ihr dahinter vorfindet, ist nicht weniger als das gesamte Universum.

Normalität heißt Unterwerfung, Unnormalität Gehorsamsverweigerung

Normal ist, jede Art von Klassifizierung, jedes Etikett und jeden Bewertungsparameter bezüglich deines Körpers, deiner Hautfarbe, deines Alters und deiner Existenz an sich zu akzeptieren, unnormal ist, sämtlichen Klassifizierungen deiner selbst und deiner sozialen und emotionalen Beziehungen zu widersprechen.
Normal ist, dich ohne nachzufragen anzupassen, unnormal ist, grundsätzlich alles zu verweigern, was dir nicht gefällt, zu hinterfragen und in Zweifel zu ziehen, was dir nicht gerecht erscheint. Rassismus ist Normalität, Liebe über alle Unterschiede hinweg ist Unnormalität.
Normal ist, den Mund zu halten, unnormal ist, zu reden und deine Gedanken offen auf den Tisch zu legen, auf der Arbeit, auf der Straße.
Normal ist, Frau zu sein oder Mann, unnormal, keins von beiden zu sein oder beides gleichzeitig oder, männliche und weibliche Anteile zu kombinieren, so wie das Chaos deines Körpers es verlangt, oder, Tag und Nacht an der Dekonstruktion des Weiblichen und an der Dekonstruktion des Männlichen auf immer und ewig zu arbeiten.
Normal ist, Auto zu fahren, unnormal, ein Fahrrad zu besitzen.

Gewalt: normal, Respekt: unnormal

Normal ist es, Mutter zu sein, auch wenn du nicht willst, aus dem einfachen Grund, weil du schwanger geworden bist. Unnormal ist, selbst entscheiden zu können, ob du Mutter sein willst oder nicht, ohne bei einer heimlichen Abtreibung zu sterben.
Normal ist, Tiere im Zoo einzusperren, sie zu begaffen und zu lernen, wie man sie fängt, erniedrigt, tötet, weil wir die höher entwickelte Spezies sind. Unnormal ist, Tiere zu respektieren, sie nicht zu töten, zu jagen oder zu erniedrigen.
Normal ist, zu konsumieren, unnormal ist, zu wissen, wie du jenseits des Konsums Freude empfinden kannst.
Dass die Waffenindustrie weiter Waffen produziert, ist normal, unnormal wäre, wenn sie Bankrott ginge und schließen müsste, und wenn statt der Lebensmittel plötzlich die Waffen knapp würden.
Normal ist, den Regenwald abzuholzen, um die landwirtschaftlichen Nutzflächen weiter auszuweiten, genetisch veränderten Soja und Mais anzubauen, damit Kellogg und Monsanto weiter Kapital anhäufen können, unnormal wäre, wenn sich die Agroindustrie in ein schlechtes Geschäft verwandelte, weil niemand sie auf seinem Boden möchte.
Normal ist, wenn ein transsexuelles Kind sich umbringt, weil es in der Schule gemobbt wird, unnormal ist, es von klein auf zu respektieren.
Normalität nennt man die Privatisierung des Wassers, der Gesundheit, der Bildung, unnormal wäre, wenn alles allen gehörte, wenn alle Zugang zu gesundheitlicher Versorgung und Bildung hätten. Wenn alle Arbeit hätten und ein Dach über dem Kopf.
Normal ist, dass wir uns verschulden, um zu existieren und zu konsumieren, unnormal wäre, wenn unsere Schulden von den Bankern beglichen würden, wenn sie von denen bezahlt würden, die uns schon immer ausgebeutet haben.
Normal ist, dass Frauen ohne Bezahlung kochen, waschen, aufräumen, putzen, bügeln und die Kinder großziehen, unnormal wäre, wenn sie uns dafür entlohnten. Unnormal wäre, wenn wir einfach aufhören würden, die ganze Arbeit zu übernehmen. Unnormal wäre, wenn unsere gesamte Care-Work nicht mehr als Liebesdienst betrachtet würde sondern als Arbeit.

Was das Normale vom Unnormalen trennt, ist eine Mauer, ein Wort, eine Wunde, eine Entscheidung

Lehrerinnen und Nachbarinnen, meine Mutter, mein Vater, meine Geschwister, Freundinnen und Freunde – sie alle hatten schon früh erkannt, dass ich nicht normal bin, und  öffentlich auf mein Unnormal-Sein hingewiesen. Sie drohten, mich so lange in die Psychiatrie zu sperren, bis ich mich mit der Normalität abfinde. Ich bekam Panik. Sie drohten, mich aus ihrer wunderbaren Welt auszuschließen, mich aus der Familie zu verstoßen, von der Schule zu werfen, und warnten, es werde mir nie im Leben gelingen, Liebe und Respekt zu verdienen, wenn ich die Sphäre des Unnormalen zu meinem bevorzugten Lebensraum erkläre. Ich weiß, wie sie sich anfühlt, diese Angst, von der gesamten Welt ausgeschlossen zu werden, diese Rastlosigkeit, weil die Antworten, die du suchst, nicht in den Büchern stehen. Ich erinnere mich an den Angstschweiß, das Herzklopfen, das Gefühl, klein und hilflos zu sein, es nicht zu schaffen, sondern beim Versuch zu sterben, weil sie dich fertigmachen, indem sie dich ausgrenzen, während alle Türen sich vor deinen Augen schließen.
Es ist die Angst der Lesbe, die versucht, hetero zu leben. Die Angst der Frau, die einen Übergriff erlebt hat und sich zwingt, zu schweigen und zu akzeptieren, was passiert ist. Die Angst der Transsexuellen und der Sexarbeiterin. Die Angst der Indígena, die nicht länger Hausangestellte sein will, die Angst der Schwarzen Frau, die sagt: „Nein, es reicht“. Die Angst der alleinerziehenden Mutter. Die Angst der Migrantin, wenn sie an der Grenze ihren Pass vorzeigt.

Die neue Normalität ist der alte Anpassungszwang

Die gesamte Gesellschaft steht heute an dem Punkt, nur die Frage zu kennen, nicht jedoch die Antwort. Wir können uns der sogenannten neuen Normalität unterwerfen, die im Übrigen nichts anderes ist als der altbekannte Anpassungszwang, oder wir bleiben unseren innersten Wünschen treu und entscheiden uns für die Sphäre des Unnormalen. Wir hätten am Coronavirus sterben können und können es immer noch, aber lassen wir es nicht zu, dass die Resignation uns das Leben kostet.
Die Normalität besitzt keinen Alleinanspruch auf Lebensfreude, auf Tanzen und Feiern, auf Genuss und Heiterkeit, sie hat kein Monopol auf Gärten oder auf Umarmungen, denn unsere Gefühle gehören uns selbst.
Neue Normalität bedeutet, dass es immer die gleichen sind, die herrschen und die Welt kaputtmachen, unnormal ist, aus der Spur auszubrechen, uns nicht mehr betrügen zu lassen und der Normalität den Rücken zu kehren.
Die neue Normalität ist der alte Anpassungszwang.
Die neue Normalität ist die Fortsetzung der Zerstörung und der kapitalistischen Ausbeutung.

Wir sind nicht am Leben, weil es Banken gibt, sondern obwohl es sie gibt

Den Krankenschwestern, der Musik, den Büchern, der Geduld und der warmen Milch, dem Balsam der Mate-Runden im vertrauten Kreis und der Hoffnung ist es zu verdanken, dass wir der Angst entkommen sind. Der Autoindustrie, dem Staat, den Konserven, den krebserregenden Stoffen und den schmerzstillenden Mitteln verdanken wir nichts. Wir sind nicht am Leben, weil es Banken gibt, sondern obwohl es sie gibt.
Die Briefe und Nachrichten geliebter Menschen sind es, die uns aus der Angst geholt haben.
Während Millionäre Geld machen und ihre Privilegien verteidigen, sorgen Krankenschwestern für saubere Betten und leere Mülleimer. Ohne sie wären wir nicht hier.
Während Millionäre einen privilegierten Zugang zu Informationen haben, versorgen Erntehelfer die Märkte mit Obst und Gemüse, auf eigenes Risiko und ohne Zugang zu irgendwelchen speziellen Informationen. Ohne sie wären wir nicht hier.

Wir müssen die Kolonisierung beenden und lernen, für uns selbst zu denken

Europäische Normalität beinhaltet, dass Ausländer*innen, die die Betreuung von Kindern und alten Menschen übernehmen, keine Rechte haben. Unnormal wäre, wenn sie nicht nur Rechte hätten, sondern wenn ihre Arbeit außerdem als unentbehrlich wertgeschätzt würde.
Zur europäischen Normalität gehört auch, dass die ausländischen Erntehelfer*innen keine Rechte haben, unnormal wäre es, ihnen einen legalen Status zu verschaffen.
In der südlichen Hemisphäre ist es normal, voller Bewunderung nach Europa zu blicken und den europäischen Lebensstil als Vorbild zu betrachten, unnormal ist es, die Kolonisierung zu beenden und für uns selbst zu denken.
Gewalt und Übergriffe in Familien sind Normalität. Unnormal wäre eine Gemeinschaft, die die Täter verstößt und die aufhört, normal zu sein, um glücklich zu werden.
Normal sind viel Arbeit und wenig Vergnügen. Unnormal wäre weniger Arbeit und mehr Vergnügen.
Dass wir lernen zu konkurrieren, gilt als normal. Unnormal wäre, wenn wir lernten, zusammenzuarbeiten und uns zu ergänzen.
Normal ist, keine Zeit zum Denken zu haben und das Denken und die Entscheidungen anderen zu überlassen. Unnormal ist es, dir Zeit zum Nachdenken zu nehmen.
Normal ist, in unserem Körper zu leben, als hätten wir ihn gemietet, unser Leben zu leben, als wäre es geliehen, und unsere Zeit zu organisieren, als wären wir Leibeigene.

Die Sphäre des Unnormalen zu bewohnen ist wie fliegen lernen, die Dinge mit einem weiten Blick zu betrachten wie ein Condor, sich an die eigenen Träume zu erinnern und in der Lage zu sein, sie zu deuten, und Freiheit und Erfülltheit in einer Weise zu spüren, die die Welt der Normalität nicht zulässt, aus Angst vor der Gefahr, die die Erkenntnis birgt.

Übersetzung: Lui Lüdicke

 

 

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