Schluss mit der Korruption! Für ein plurinationales Guatemala!

(Guatemala-Stadt, 12. August 2021, LINyM).- Es bewegt sich wieder was in Guatemala. Tausende von Menschen gingen in den letzten Wochen auf die Straße, besetzten Zufahrtswege und Brücken und legten in verschiedenen Teilen des Landes den Verkehr lahm. Ihre Forderungen: Rücktritt von Präsident Alejandro Giammattei und Generalstaatsanwältin Consuelo Porras, ein entschiedenes Vorgehen gegen Korruption und Straflosigkeit sowie die Einberufung einer plurinationalen verfassunggebenden Versammlung.

Anti-Korruptions-Ermittler gefeuert

Am 23. Juli war der Anti-Korruptions-Ermittler Juan Francisco Sandoval seines Amtes enthoben worden. Gegenüber internationalen Medien erklärte Sandoval, im Prinzip sei man mit den Ermittlungen gegen Personen im Umfeld des Präsidialkabinetts gut vorangekommen. Dabei sei es um Korruptionsdelikte und Wahlmanipulation bei der Bestimmung neuer Richter am Obersten Gerichtshof gegangen. Seit dem Amtsantritt von Generalstaatsanwältin Consuelo Porras sei die Arbeit seiner Kommission FECI (Fiscalía especial contra la impunidad) jedoch ins Stocken geraten. Das Ende des Mandats der UN-Kommission gegen Straflosigkeit in Guatemala (CICIG) im September 2019 hatte die Arbeit der Sonderstaatsanwaltschaft bereits erheblich erschwert.

Die Bedürfnisse der Bevölkerung werden ignoriert

Wie schon im November 2020 bietet das guatemaltekische Volk dem korrupten, räuberischen System die Stirn und erklärt: „Es reicht!“ Im vergangenen Herbst hatte die Ankündigung des neuen Staatshaushalts die Massenproteste ausgelöst. Vorgesehen waren Kürzungen im sozialen Bereich und die Begünstigung der ohnehin schon Reichen. Der staatliche Umgang mit der Pandemie und die Unfähigkeit, mit den Auswirkungen zweier Wirbelstürme fertigzuwerden, hatten den Unmut weiter befeuert. „Im Moment sehen wir in verschiedenen Teilen des Landes bei politischen Initiativen und der Bevölkerung im Allgemeinen eine große Bereitschaft, ihren Protest auf die Straße zu tragen“, freut sich Leiria Vay García vom Ausschuss für bäuerliche Entwicklung Codeca. „In Guatemala leben die Menschen in einem Stadium der Rechtlosigkeit. Wir weisen da schon seit langem drauf hin. Der Staat interessiert sich nicht für die Bedürfnisse der Bevölkerung, sondern orientiert sich an den Interessen der Konzerne. Der Staatshaushalt oder die Entlassung des Staatsanwalts sind zwar die konkreten Anlässe, die das Fass zum Überlaufen bringen, aber eigentlich geht es bei den Massendemonstrationen um eine allgemeine große Unzufriedenheit. Für uns von Codeca ist eigentlich auch ziemlich klar, dass der Rücktritt eines Präsidenten, eines Ministers oder eines Staatsanwalts nicht wirklich etwas ändert. Das haben wir 2015 schon beim Rücktritt und der Inhaftierung von Otto Pérez und Roxana Baldetti gesehen. Sechs Jahre später gehen wir wieder auf die Straße und protestieren wegen der gleichen Themen. Rücktritte von Politiker*innen und die strafrechtliche Verfolgung korrupter Amtsträger*innen alleine reichen eben nicht aus. Wir brauchen strukturelle Veränderungen“, so die indigene Sprecherin. „Wir wollen einen plurinationalen Staat, und den müssen wir, die Völker und die Sektoren, die in der Vergangenheit nie in die politische Entscheidungsebene einbezogen wurden, selbst aufbauen.“

Armut und Ausgrenzung

Laut den Angaben der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik CEPAL (Comisión Económica para América Latina y el Caribe) leben in Guatemala fast 10 Millionen Menschen in Armut. Das entspricht etwa 60% der Bevölkerung. Weitere 22% (3,6 Millonen) sind von extremer Armut betroffen. Dazu herrscht ein deutliches Stadt-Land-Gefälle: In ländlichen Gebieten und indigenen Gemeinschaften leben sogar 80% der Bevölkerung in Armut (Stand 2020). Die Hälfte der guatemaltekischen Kinder leidet an chronischer Unterernährung. Damit steht Guatemala laut einer UNICEF-Erhebung zur Unterernährung von Kindern in Lateinamerika an erster und im Weltmaßstab an sechster Stelle. Nur ein Fünftel der Bevölkerung hat Zugang zu sauberem Trinkwasser. Die wenigen sauberen Quellen in ländlichen Gemeinden werden von Unternehmern für die Rohstoffförderung genutzt. Das Gesundheitssystem ist weitestgehend zusammengebrochen. Seit dem Ausbruch der Pandemie vor anderthalb Jahren wurden bisher nur 14% der Bevölkerung mit einer Dosis geimpft. Lediglich 2% haben bereits beide Dosen erhalten.

Derweil werden immer neue Konzessionen für die Erschließung und Ausbeutung von Bergbau- und Erdölvorkommen und Energiegewinnungsanlagen an nationale und transnationale Konzerne vergeben. Agroindustrie und Monokulturen können sich ungestört ausbreiten, Landgemeinden vertreiben und sich Gebiete unter den Nagel reißen. Menschenrechts- und Umweltaktivist*innen, die sich dieser Entwicklung entgegenstellen, erleben zunehmend Repression, Kriminalisierung und Verfolgung bis hin zu tödlichen Anschlägen.

Je stärker die Unterdrückung, desto massiver der Widerstand

Den aktuellen Berichten von Front Line Defenders und Global Witness zufolge zählte Guatemala 2019 für Menschen, die sich für Landrechte und Umweltschutz engagieren, zu den gefährlichsten Ländern der Welt, und im Hinblick auf die Morde an Menschenrechtsverteidiger*innen sogar als das gefährlichste Land weltweit. Auch die Zunahme tödlicher Angriffe auf Aktivist*innen innerhalb von einem Jahr (von 2018 auf 2019) war in keinem anderen Land so hoch wie in Guatemala.

Die Initiative Udefegua für den Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen in Guatemala (Unidad de protección a defensoras y defensores de derechos humanos de Guatemala) zählte im ersten Jahr der Amtszeit von Präsident Giammattei 1004 tätliche Angriffe, 15 Morde und 22 Mordversuche an Menschenrechtsverteidiger*innen. „Der Staat ist offensichtlich nicht gewillt, für die Freiheit und Sicherheit von Leuten einzutreten, die die Menschenrechte verteidigen“, so die Einschätzung von Udefegua. „Diejenigen, die derzeit die Staatsanwaltschaft kontrollieren, fühlen sich weder der Justiz noch dem Volk gegenüber verpflichtet, sondern nur gegenüber der korrupten Machtelite, die hier schon immer die Fäden in der Hand hatte. Und dann gibt es da noch einen weiteren Faktor: Die USA lassen zwar keine Gelegenheit aus, um zu betonen, wie sehr sie Korruption ablehnen, aber dass in Ländern wie Guatemala strukturelle Veränderungen stattfinden, passt ihnen wiederum nicht. Sie tun immer so, als liege ihnen der Kampf gegen Korruption am Herzen; wenn hier und da mal ein Beamter verhaftet wird, dann berichten sie darüber groß in den Medien, damit der Eindruck entsteht, das Problem sei gelöst, aber über das korrupte Vorgehen der wirtschaftlich Mächtigen in diesem Land berichten sie wiederum nie. Damit können wir uns nicht zufriedengeben. Die Menschen müssen sich organisieren, für sich selbst sprechen. Die Herausforderung besteht darin, das System zu verändern und in die Machtstrukturen einzugreifen. Das ist es, wofür wir kämpfen müssen. Seit Jahren werden Codeca und andere Organisationen, die hier im Land etwas verändern wollen, systematisch von Präsidenten und Politiker*innen angegriffen. Allein in den letzten zwei Jahren wurden zwanzig Codeca-Aktivist*innen ermordet. Das ganze letzte Jahr haben die transnationalen Bergbaukonzerne durchgearbeitet, trotz Pandemie und Ausnahmezustand, so als ob nichts wäre. Auch alles, was mit Repression zu tun hat, lief weiter wie bisher, die Unterdrückung, die Angriffe und die Ermordung von Menschenrechtsaktivist*innen. Im vergangenen Jahr haben wir von Codeca 166 Fälle von Repression mit mindestens 662 Betroffenen registriert. Politische Organisationen sind hier permanenten Aggressionen ausgesetzt. Die Staatsanwaltschaft gibt immer mehr Geld aus für Verfolgung und Kriminalisierung, und Armee und Polizei fühlen sich ausschließlich dafür zuständig, die Interessen transnationaler Unternehmen zu verteidigen und zu schützen und alle anzugreifen, die mit deren Projekten nicht einverstanden sind“, emört sich Vay.

200 Jahre Unabhängigkeit: 200 Jahre Rassismus und kein Ende

In diesem Jahr feiert Mittelamerika den 200. Jahrestag seiner Unabhängigkeit. Nicht nur die indigenen Völker sind der Meinung, dass es da nicht viel zu feiern gibt. Dazu Vay: „Für uns sind es 200 Jahre Plünderung, Unterdrückung, Rassismus, Ausgrenzung, Ausbeutung, Armut und Tod. Sie versuchen weiterhin, uns unser Land streitig zu machen, sie plündern Gemeinschaftseigentum, beuten Arbeiter*innen aus und drängen die Landgemeinden in die Armut. Und das alles im Namen der Entwicklung. Wenn wir organisiert auftreten, um unsere Gebiete und unsere Rechte zu verteidigen, lassen sie ihren gesamten Repressionsapparat auf uns los, und wir werden ins Gefängnis gesteckt oder getötet. Alber wir werden so lange weitermachen, wie die Völker es für nötig halten. Wir hoffen, dass wir alle uns auf die Forderung nach strukturellen Veränderungen und einem plurinationalen Staat einigen können. Schluss mit der Korruption! Lasst uns das System verändern!“

Übersetzung: Lui Lüdicke

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