Pepe Mujica – bodenständig glücklich

(Berlin, 04. Februar 2022, npla).- Von 2010 bis 2015 war Pepe Mujica, der eigentlich José Alberto Mujica Cordano heißt, Präsident des südamerikanischen Landes. Er war 74, als er die Präsidentschaft übernahm, und 79, als er das Amt seinem Vorgänger und Nachfolger Tabaré Vasquez übergab und wieder einen Platz als Senator im Kabinett einnahm. Bis zum 20. Oktober 2020, an dem sich Mujica mit einer bewegenden Rede von der parlamentarischen Politik verabschiedete.

„Die Pandemie wirft mich raus“

„Ehrlich gesagt gehe ich, weil mich die Pandemie rauswirft. Senator zu sein bedeutet, mit Menschen zu sprechen und überall hingehen zu können. Das Spiel wird nicht in den Büros gespielt. Ich bin massiv gefährdet, und das zweifach: aus Altersgründen und weil ich an einer chronischen Immunkrankheit leide“. Er könne nicht geimpft werden und müsse daher diese Entscheidung treffen, verkündete Pepe Mujica am 20. Oktober 2020 im uruguayischen Senat. Immer wieder hatte Mujica als Abgeordneter, als Senator, als Präsident, als Mensch mit Geschichte betont, dass er trotz all der unfassbar unmenschlichen Torturen, die er in seinem Leben vor 1986 erfahren musste, keinen Hass auf seine Peiniger hege. Mit diesen Gedanken beendete er auch seine letzte parlamentarische, in gewohnter Manier mit philosophischen Lebensweisheiten bestückte Rede im Oktober 2020.

„Hass macht dumm“

„In meinem Garten habe ich seit Jahrzehnten keinen Hass gehegt. Das Leben hat mich eine bittere Lektion gelehrt. Hass macht uns am Ende dumm, weil er uns dazu bringt, die Objektivität gegenüber den Dingen zu verlieren. Hass ist genauso blind wie Liebe. Aber Liebe ist schöpferisch und Hass zerstört uns. Und Leidenschaft ist eine Sache, die Kultivierung von Hass eine andere.“ Ein beeindruckendes politisches Vermächtnis: „Ich habe im Leben alles durchgemacht. Hatte sechs Monate die Hände auf dem Rücken mit Draht festgebunden. Lag vollgeschissen ein oder drei Tage auf einer Lastwagenpritsche, weil ich es nicht ausgehalten habe. Zwei Jahre lebte ich so, bis sie mich dann zum Waschen mitgenommen haben. Waschen mit einem Krug, einem Wasserglas und einem kleinen Lappen. […] Ich habe schon alles durchgemacht. Aber ich hasse niemanden. Den jungen Menschen möchte ich sagen: Ihr müsst dem Leben dankbar sein. Erfolg im Leben heißt nicht, zu gewinnen. Um im Leben erfolgreich zu sein, muss man jedes Mal, wenn man fällt, wieder aufstehen und neu anfangen.“

Eine hochgeschätzte Persönlichkeit

Vieles ist bereits über Pepe Mujica geschrieben worden. Über seine Geschichte als bewaffneter Kämpfer der uruguayischen Stadtguerilla Tupamaros, über seine zwölf Jahre in den Folterkellern der Militärs, verschleppt, gefoltert, der Würde beraubt. Über seine politischen Stationen nach der Diktatur ab 1985, als er als Mitglied der von vielen überlebenden Tupamaros gegründeten Partei MPP – Movimiento de Participación Popular zunächst Abgeordneter, dann Senator, dann Minister und schließlich Präsident von Uruguay wurde. Seit Jahrzenten gehört der MPP dem uruguayischen Linksbündnis Frente Amplio an. Immer wieder wurde Mujica als „Ärmster Präsident der Welt“ definiert, da er lediglich zehn Prozent seines Präsidentengehalts für sich selbst beanspruchte und die restlichen 90 Prozent in soziale Projekte steckte. Diese Bezeichnung widerspricht jedoch Mujicas Lebensphilosophie. Für ihn liegt das Lebensglück nicht in materiellen Werten begründet, nicht in der Anhäufung von Gütern. Mit Ehefrau Lucia Topolansky, ebenfalls ehemalige Tupamara und heute noch Senatorin, lebt Mujica bodenständig auf einem kleinen Bauernhof außerhalb der Hauptstadt Montevideo. Dort züchten sie Blumen und bauen Gemüse an. Auch während der fünfjährigen Präsidentschaft blieben sie dort wohnen. Innerhalb des MPP und des Frente Amplio, der von 2005 bis 2020 das Land regierte, ist Mujica nach wie vor eine wichtige und hochgeschätzte Person. Kurz vor Weihnachten 2021 konnte Erika Harzer mit Pepe Mujica nachfolgendes Interview führen.

– Insgesamt war das Linksbündnis Frente Amplio 15 Jahre an der Macht. In deiner Amtszeit als Präsident von Uruguay von 2010 bis 2015 hast du viel erreicht. Jetzt regiert der konservative und dem neoliberalen Modell zugeneigte Luis Alberto Lacalle Pou von der Nationalen Partei das Land. Mit welcher zentralen Kritik der Wähler*innen wurde das Linksbündnis 2020 abgewählt?

Zuerst einmal: Tatsächlich an der Macht, das waren wir nie. Wir haben einen relativ wichtigen Platz eingenommen, aber das Konzept der Macht ist viel umfassender. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es uns in Uruguay und in vielen lateinamerikanischen Ländern gelungen ist, die Situation vieler vernachlässigter Menschen zu verbessern und dazu beizutragen, das Einkommen der Menschen zu erhöhen. Aber eine Zivilgesellschaft im engeren Sinne des Wortes aufzubauen, ist uns aufgrund der Konjunktur des Marktes nicht gelungen. Viele Menschen, denen es besser ging, hielten dies für Glück oder für das Ergebnis ihrer eigenen Bemühungen, und brachten diese Fortschritte nicht mit der Regierungsarbeit in Verbindung. Zudem glaube ich, dass die Marktwirtschaft einen ständigen Verwertungsdruck auf unsere Massen ausübt. Das hinterlässt Spuren.

Die Menschen entscheiden sich eher gegen etwas, weil sie nie überzeugt oder zufrieden sind und weil sie nicht genau wissen, wofür sie stimmen. Das sind Phänomene, die kaum erklärbar sind. So, wie sie in Brasilien für Bolsonaro gestimmt haben oder in Mexiko über Nacht nach links umgeschwenkt sind, halte ich das für falsch. Ein beachtlicher Teil der Menschen hat einfach gegen das Bestehende gestimmt, aufgrund einer dauernden und latenten Unzufriedenheit, die viel mit der Konsumkultur zu tun hat, von der sie permanent beeinflusst und unterdrückt werden. Der Markt ist gewissermaßen die neue Religion, sowohl in Lateinamerika als auch in anderen Teilen der Welt. Was mit Macron in Frankreich und in ähnlichen Fällen mit dem Verschwinden der alten Parteien und dem Auftauchen der Gelbwesten in kurzer Zeit passiert, bildet eine Art Frustration der Mittelschichten ab, die mehr wollen und nicht können. Warum? Weil der Reichtum in dieser neoliberalen Welt zwar zunimmt, sich aber immer mehr konzentriert. Das Problem liegt bei der Verteilung.

Wo und wann ist die Aufbruchsstimmung stecken geblieben, die  Anfang der 2000er Jahre in Lateinamerika  die Menschen bewegt hat? Es gab die Hoffnung, mit neuen wirtschaftspolitischen Bündnissen, mit einer eigenen Bank aus dem neoliberalen Marktsystem auszubrechen. Alles war angeschoben. Was hat damals gefehlt?

Ich glaube, dass der Kampf weitergeht. Denn auch die rechten Kräfte geben keine Antwort auf die neoliberalen Strukturen. Wie sonst kann man erklären, was in Peru passiert ist, was in Chile passiert, was in Brasilien passieren wird? Der Kontinent ist in Aufruhr. Kolumbien ist nicht so wie früher, Chile ist nicht so wie früher. Kurzum, ich glaube, der Weg geht trotz aller Schwierigkeiten weiter. Es gibt hier keine mathematischen Formeln, sondern Prozesse, beeinflusst von der gesamten Weltlage. Dabei spielt für den Gegner der kulturelle Bereich eine enorme Rolle. Für junge Paare in meinem Land ist Schaufenstergucken ein Zeitvertreib für Liebende. Stell dir das mal vor!

Einkaufszentren beherrschen die Köpfe?

Sie beeinflussen emotional. Der Mensch ist nicht so rational, wie er zu sein scheint. Diese Strategie versucht, den emotionalen Bereich der Menschen so effizient wie möglich zu verwalten. Wir sind darin versunken. Meine Generation hat den Kampf auf kulturellem Gebiet unterschätzt. Dabei definiere ich Kultur nicht nur als Zugang zu Kunst, zu Wissen. Ich meine die Alltagskultur unserer Gesellschaften, und die wird von einer Marketing-Sachlichkeit beherrscht, die dazu führt, dass wir „Sein“ mit „Haben“ verwechseln. Wir müssen ständig neue Dinge kaufen, Schulden machen, Schulden begleichen und noch mehr arbeiten, um alles zu bezahlen. Und das wird als Glück angesehen. Das Lebensziel ist, leistungsstarke Verbraucher zu sein. Durch künstliche Intelligenz verfolgen Marktstrategien deine offensichtlichen Bedürfnisse, und entsprechend bekommst du die Nachrichten aufs Handy oder über Social Media. Und das wird jeden Tag massiver.

Zurück zu der Epoche, als in Brasilien Lula Präsident war, in Bolivien Morales, in Venezuela Chávez und du in Uruguay. Was hat gefehlt, um die Menschen für eine mögliche Zäsur zu gewinnen? Wurden Machtstrukturen falsch analysiert? Oder lag es eher daran, dass es keine gemeinsamen Pläne der linken Politiker aus Ecuador, Venezuela, Brasilien, Uruguay, Argentinien gab?

Wenn man in der Regierung ist, wird man von der Agenda der unmittelbaren Probleme überwältigt. Und obwohl unsere Haltung und unser Diskurs in praktischer Hinsicht lateinamerikanisch geprägt waren, absorbierten die realen Probleme, die jeder von uns hatte, unsere Energie. Mit anderen Worten: Unser amerikanistischer Diskurs blieb schwach in Bezug auf die konkrete Realität. Denn jeder war in die Probleme seines Landes vertieft, was letztlich viel stärker ist als das allgemeine Interesse.

Du sagtest bei einem Treffen in Berlin, damals warst du Landwirtschaftsminister: „Obwohl wir an der Macht sind, ist unser Handlungsspielraum sehr begrenzt, denn die eigentliche Macht liegt bei den transnationalen Konzernen“. Wie hat Dich das als Präsident beeinflusst?

Du befindest dich in diesem Widerspruch. Du musst für Arbeitsplätze kämpfen, für deine Leute, die in Not sind. Und die Investoren, die von außen kommen, verlangen bestimmte Bedingungen, und die sind manchmal besser als die Bedingungen, die du deinen Mitbürgern gibst. Wenn jemand mit viel Geld aus dem Ausland kommt, kommt er nicht, um hier das gleiche Geld zu verdienen wie vorher. Dafür würde er sich nicht die Mühe machen zu kommen. Er kommt, um mehr zu verdienen. Dafür verlangt er entsprechende Bedingungen. Das führt zu einem perversen Kreislauf. Man verliert die Souveränität über den Gewinn. Das transnationale Unternehmen wird diesen Gewinn dorthin bringen,  wo es ihm passt, und ihn einsetzen, um weiteren Gewinn zu machen. Und das wird nicht unbedingt in deinem politischen Einflussbereich sein. Es ist wie eine moderne, etwas anders gestaltete Form der „offenen Adern“.

Beispielsweise bei der Ausweitung der Eukalyptus-Monokulturen?

Die Forstwirtschaft hat uns dieses Problem beschert. Wir hatten für die Anpflanzung von Eukalyptus brauchbares, steiniges Land, bergig und mit geringer Fertilität. Aber wir hatten nicht die Kapazitäten, um Unternehmen zu gründen, die stark genug gewesen wären, sich auf dem internationalen Markt zu behaupten. Es war nicht das fehlende Kapital, sondern fehlendes Fachwissen. Uruguay verfügte über rund 20.000 Millionen Dollar im Ausland, hatte aber keine Fachkräfte, die in der Lage gewesen wären, ein Unternehmen dieser Größenordnung zu führen.

Was wäre wichtig, zukünftigen fortschrittlichen Politiker*innen mit auf den Weg zu geben, um die Ziele zu erreichen, die du immer wieder formuliert hast: soziale Gerechtigkeit, Bildungs- und Klimagerechtigkeit, eine Marktwirtschaft, die sich an den Grundbedürfnissen der Menschen und nicht an der Rendite einiger weniger orientiert?

Der Frente Amplio ist immer noch die größte Partei in Uruguay. Er steht einem Bündnis von vier rechten Parteien gegenüber. Wir haben die Wahlen mit 30.000 Stimmen verloren. Es ist nicht unmöglich, wieder zu gewinnen. Der Frente lebt. Unsere politische Organisation (die Partei MPP), in der wir so viele Jahre lang gekämpft haben, ist sehr stark. Sie stellt mehr als die Hälfte der Abgeordneten des FA und fast die Hälfte der Senatoren. Bald wird die neue Führung des FA gewählt, und höchstwahrscheinlich wird es der frühere Präsident der Föderation der Arbeiter von Uruguay sein [Tatsächlich wählte die FA Mitte Dezember Fernando Pereira zu ihrem neuen Präsidenten, Anm. E.H]. Ich weiß nicht, was morgen passieren wird, aber wir sind keineswegs pulverisiert oder verschwunden, und ich glaube, dass wir in Chile ab diesem Wochenende einen linken Präsidenten haben werden [tatsächlich gewann der linke Kandidat Gabriel Boric am 19.12.2021 die Stichwahl. Anm. E.H]. Das ist sehr wahrscheinlich. Und es ist mehr als wahrscheinlich, dass Lula die Wahlen in Brasilien erneut gewinnen wird. Zumindest zeigen das die Umfragen. Auch in Kolumbien. Ihr werdet sehen… Der Kampf geht weiter.

Viele Deiner Reden gelten als „legendär“ und können auf Youtube angehört werden. Sie stecken voller Lebensweisheiten, wie z.B. die Rede vor der 68. Generalversammlung der Vereinten Nationen am 24. September 2013 oder dein Beitrag auf der Tagung Rio + 20. Die Rede in Ecuador 2014 oder die Ansprache an die Jugendlichen mit dem Aufruf, das Glück zu spüren. Das hat dir viele jugendliche Fans gebracht. Manche Medien nennen dich den „linken Popstar“ Uruguays. Andere erheben dich zum Helden. Braucht unsere Gesellschaft, unsere Jugend Popstars oder Helden, um sich politisch zu engagieren?

Leider scheint es so zu sein, dass wir als Menschen uns über einen Mythos versinnbildlichen müssen, in den wir alles zusammenfließen lassen. Mitte Dezember war ich in Buenos Aires bei der Confederación de Trabajadores, einer alten zu Zeiten Peróns gegründeten Gewerkschaft. Ich war mit Lula dort. Es waren etwa 400 Gewerkschaftsführer aus ganz Argentinien gekommen. Und der Ort glich einer Kirche. Dort steht der Tisch, von dem aus Perón sprach, dort steht der Schreibtisch, an dem Evita die Leute empfing. Wie in einem Museum, und die meisten kannten weder Perón noch Evita. Es ist reine Mythologie, reine Mythologie. Es ist sehr bedauerlich, dass die Massen anscheinend den Mythos brauchen. Das gefällt mir nicht. Ich mag das nicht, aber es ist die Realität.

Wie können wir uns dich im Ruhestand vorstellen? Wirst du die Ruhe finden, mit deiner Frau Lucia auf eurem Bauernhof über euer bewegtes Leben zu reflektieren und vielleicht auch eine Autobiografie schreiben?

Nein, nein, nein. Ich werde nichts schreiben. Ich werde meine Zeit nicht mit diesem Blödsinn verschwenden. Ich arbeite ein bisschen auf dem Land und vergnüge mich damit, und manchmal gebe ich eine politische Einschätzung an meine Kollegen oder Freunde, von denen ich viele habe.

Hier könnt ihr die spanische Version des Interviews lesen und das Interview gibts auch zu hören

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