[Interview]: Der illegale Landraub ist Konsequenz des kolumbianischen Entwicklungsmodells

(Montevideo, 03. September 2014, la diaria).- Danilo Urrea ist Mitglied des Zentrums für Gesundheit, Umwelt und Arbeit Lebendiges Wasser – Freunde der Erde CenSAT (Centro Nacional Salud, Ambiente y Trabajo) Agua Viva – Amigos de la Tierra, eine Organisation, die seit 1989 direkt mit afrokolumbianischen, bäuerlichen und Indígena-Gemeinden im Landesinneren Kolumbiens zusammenarbeitet. In einem Interview mit der uruguayischen Zeitung La Diaria sprach Urrea über die Aufklärungsarbeit seiner Organisation. Dabei wies er auf eine auffällige Übereinstimmung zwischen den Gebieten hin, in denen es zur Vertreibung durch bewaffnete Auseinandersetzungen kam, und jenen, die unter rohstoffabbauenden Firmen begehrt sind.

Was sind die zentralen Vorwürfe, die ihr als Organisation dem kolumbianischen Entwicklungsmodell vorwerft?

Das Modell hat eine koloniale Ausrichtung in der Planung staatlicher Wachstumspolitik, weil in der Ausrichtung der nationalen Politik und des Entwicklungsmodells eine Einmischung seitens anderer Staaten vorliegt – vor allem seitens Kanada, den USA und verschiedenen europäischen Staaten. Aber auch seitens internationaler Finanzinstitutionen, hauptsächlich der Weltbank (IWF) und der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IDB), die für Kolumbien eine Politik entworfen haben, die auf die die Interessen transnationaler Konzerne zugeschnitten ist.

Wie macht sich diese „koloniale Ausrichtung“ bemerkbar?

In Kolumbien wird derzeit eine Politik umgesetzt, die auf einer unrechtmäßigen Einmischung anderer Staaten basiert. Im Bergbau zum Beispiel, hat Kanada 2001 für Kolumbien ein Bergbaugesetz entworfen [der Interviewpartner bezieht sich hier auf die beratende Funktion der kanadischen Behörde für internationale Entwicklung, Anm. d. Red.] und anschließend all seine Bergbaufirmen zur Erschließung und für den Abbau von Bodenschätzen nach Kolumbien geschickt.

Es heißt zwar, wir seien vor 200 Jahren unabhängig geworden, aber es sind die Unternehmen der Kolonialländer, die im Land agieren und denen es auch gelingt, Territorien zu kontrollieren. Wir sehen darin einen kolonialen Aspekt, weil andere Länder die Politik bestimmen und zudem auch noch die Durchführung ihrer Bestimmungen leiten.

Worin besteht die Einmischung seitens der internationalen Finanzinstitutionen?

Die Weltbank und die Interamerikanische Entwicklungsbank haben die Gestaltung der nationalen Entwicklungspläne während der Regierungen unter Álvaro Uribe und Juan Manuel Santos übernommen. Dies hat zu einer wirtschaftlichen Abhängigkeit Kolumbiens von Weltbank und Entwicklungsbank geführt, da beide Institutionen einen wichtigen finanziellen Beitrag lieferten, damit die Planungen, die von den Regierungen umgesetzt werden, aber den Interessen dieser beiden Institutionen entsprechen, erfüllt werden.

Welche Konsequenzen hat die Einführung dieses Entwicklungsmodells bisher gehabt?

Vor allem: Die Rückkehr zu einer Rohstoffökonomie. In den siebziger und achtziger Jahren entwickelte sich die Leichtindustrie, aber in den letzten 20 Jahren sind wir wieder zu einer Wirtschaft zurückgekehrt, wie es sie bereits vor den siebziger Jahren bei uns gab, die auf der Rohstoffausbeutung vor allem von Mineralien, Metallen und Erdöl, basiert. Dies hat bei uns zu einer Inwertsetzung der Wirtschaft und der Natur geführt, d.h. zur Umwandlung des Naturerbes in Vermögenswerte, um damit auf dem internationalen Finanzmarkt spekulieren zu können.

Von einer sozioökologischen Perspektive aus betrachtet, hat dieses Entwicklungsmodell zu einer Verschärfung der Konflikte geführt, die sich vor allem bei den Süßwasservorkommen bemerkbar macht: deren Verschmutzung, ihre Aneignung durch das nationale Entwicklungsmodell des Rohstoffabbaus und die Entstehung von Konflikten zwischen Unternehmen und Gemeinden um die Kontrolle des Territoriums.

Welche Position hat der Staat hierbei eingenommen?

Er hat sich auf die Seite der Unternehmen gestellt und hat die Kontrolle des Territoriums durch den transnationalen Apparat für den Rohstoffabbau garantiert. Der Staat schafft politische Rahmenbedingungen für den Landraub – Bergbaugesetze, Gesetze zur Forstwirtschaft, zu den Wasservorkommen – und kombiniert sie mit der Militarisierung der Territorien, um den Raub sowie die Übernahme der Ländereien durch das Modell des Rohstoffabbaus effektiver zu gestalten.

Wie sehen diese gesetzlichen Rahmen aus? Worauf verweisen sie?

Die gesetzlichen Rahmen werden geschaffen durch ausländische Akteure und setzen fest, dass der Bergbau, die Ölförderung und die Staudämme Wirtschaftstätigkeiten „von öffentlichem Nutzen und allgemeinem Interesse“ sind. Die Zuweisung dieser Charakteristiken erleichtern dem Staat die Enteignung von Territorien auf dem Verwaltungsweg auf Grundlage einer falschen Auslegung des „öffentlichen Nutzens“, weil er den privaten Gewinn begünstigt und nicht die Bevölkerung; die Rechte dieser Bevölkerungsgruppen werden sogar verletzt wegen der gesetzlichen Zuweisung dieses Nutzens. In Kolumbien gibt es eine Privatisierung der staatlichen Politik.

Wie funktioniert der Landraub?

Du übergibst das Grundstück oder sie nehmen es dir weg und entschädigen dich; wenn du Widerstand leistet, kommt die Militarisierung ins Spiel. So könnte ein legaler Landraub aussehen. Wenn der Landraub nicht auf dem Verwaltungsweg möglich ist, findet der Landraub in Form geschaffener Tatsachen statt, wo der Staat und illegale Gruppen aktiv wurden und die Bevölkerung vertrieben haben, damit Projekte zum Rohstoffabbau vorgenommen werden konnten. Wir können bei Letzterem Details bezeugen, weil das ein sehr sensibles Thema ist. Sehr wohl aber gab es bewaffnete Konflikte in Gebieten, in denen sich Jahre später Projekte niedergelassen haben.

Was heißt das genau?

Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, dass es einen bewaffneten Konflikt gab, um eine Niederlassung der Projekte zu erreichen. Aber es gibt eine Korrelation zwischen den Gebieten, in denen es bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen aufständischen Kräften, dem Militär und paramilitärischen Gruppen gegeben hat, und jenen Gebieten, die Ziel von Megaprojekten sind, die zu diesem nationalen Entwicklungsmodell des Rohstoffabbaus dazugehören.

Ein konkretes Beispiel ist das Wasserkraft-Projekt Ituango, eines der wichtigsten im Land, welches auf einem Gebiet im Department Antioquia durchgeführt wird, in dem jahrelang bewaffnete Auseinandersetzungen stattgefunden haben. Während der Regierung von Álvaro Uribe [2002-2010] ist die größte ausländische Direktinvestition vorgenommen worden, die durch die Politik der „demokratischen Sicherheit“ abgesichert wurde. Laut offiziellen Zahlen wurden in diesem Zeitraum 4 Mio. Menschen von den Territorien vertrieben, und es wurden zwischen 6 und 8 Mio. Hektar Land auf gewaltsame Weise erobert.

Einige der von dir angerissenen großen Themen, Kolonisierung der staatlichen Politik, Militarisierung des Territoriums, Landraub, haben Berührungspunkte mit den Ansätzen, die die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) bezüglich der Landfrage bei den Verhandlungen mit der kolumbianischen Regierung in Havanna zur Sprache gebracht haben. Identifiziert ihr euch mit diesen Forderungen der FARC?

Bei seiner Eröffnungsrede der Oslo-Gespräche hat Iván Márquez [Verhandlungsführer der FARC] eine Reihe von Punkten vorgebracht, von denen einige sehr eng an die sozialen Bewegungen angelehnt sind; vielleicht gibt es eine sprachliche Ähnlichkeit, aber keine inhaltliche. Vielmehr handelt es sich um andere Eindrücke und Ansätze bezüglich ähnlicher Themen wie der Landfrage. Uns scheint es notwendig, ein Abkommen zur Beendigung des bewaffneten Konflikts zu unterzeichnen, aber wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass es bei diesen Verhandlungen zwei Akteure gibt: der Staat und die Guerilla.

Anwesend sind allerdings weder die kolumbianische Gesellschaft noch Vertreter*innen jener gesellschaftlichen Sektoren, die aktiv zu den in Havanna besprochenen Themen arbeiten und die Teil der Dynamik politischer und gesellschaftlicher Diskurse der letzten 40 Jahren im Land sind. Wir zumindest sehen keine Gemeinsamkeit zwischen unseren Themen, zumindest bezogen auf die Weise, wie wir diese Themen bisher in unserer Arbeit verfolgt haben, und dem, was in Havanna stattfindet.

Einer der Hauptpunkte der Regierung bei den Verhandlungen ist, dass das Modell unangetastet bleibt. Auf Grundlage der geringen Kenntnisse von dem, was in den Verhandlungen tatsächlich besprochen wird, wissen wir somit allerdings, dass das Modell für den Bergbau oder die Ölförderung nicht zur Disposition steht.

Aber setzt ihr nicht auch darauf, dass wenn eine Übereinkunft erreicht wird, es Änderungen im Produktionsmodell geben könnte?

Wir denken, dass in Havanna über eine Beendigung des Konflikts verhandelt wird, aber es findet kein Friedensdialog statt. Einen Friedensprozess zu erreichen, hieße natürlich, den Konflikt zu beenden, aber ebenso, eine Politik der sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Gerechtigkeit zu schaffen. Weil wir nicht wissen, über was in Havanna geredet wird, wissen wir auch nicht, ob Schritte in diese Richtung gemacht werden, aber es ist unmöglich, einen Friedensprozess zu stiften, ohne die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit mit einzubeziehen.

Ein Vorhaben der sozialen Organisationen in Kolumbien ist, dass es ab diesem ersten Schritt – das wäre die Unterzeichnung eines Endes des Konflikts mit der FARC – eine Öffnung gibt, um weitere Bereiche anzusprechen, die die strukturellen Ursachen des Konflitks sind, und zwar mit Beteiligung der Gesellschaft in der Bildung eines einheitlichen Friedensprozesses. Erst nach einem möglichen Abkommen, welches hoffentlich erreicht wird, wird man darüber reden müssen, wie die anderen Konfliktlinien beseitigt werden können, die sich entlang der sozialen und wirtschaftlichen Ungerechtigkeit in Kolumbien bewegen.

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