Ein Soldat auf 27 Einwohner*innen

(Berlin, 25. Juni 2022, npla).- Die im Nordwesten Kolumbiens, an der Grenze zu Venezuela gelegene Provinz Arauca ist besonders stark vom bewaffneten Konflikt in Kolumbien betroffen. Anfang des Jahres erklärte eine Abspaltung der FARC-Guerilla mehreren Nichtregierungsorganisationen  den Krieg und ermordete mehrere zivilgesellschftliche Akteur*innen. Ein Leben in Würde ist so kaum noch möglich.

Bis in die 1980er Jahre war der kolumbianische Staat in Arauca kaum präsent. Handel und Austausch fanden eher mit Venezuela statt. Wie auch in einigen anderen kolumbianischen Provinzen übernahmen Guerillaorganisationen die staatlichen Funktionen. Aber weil der Staat abwesend war, haben sich zivilgesellschftliche gruppen in zahlreichen Kollektiven zusammen getan, um ihre Lebensbedingungen selbst zu verbessern.

Das änderte sich mit der Entdeckung und Ausbeutung der Ölfelder. Kolumbien ließ Straßen und Infrastruktur zur Erdölförderung errichten und vom Militär beschützen, die Lebensbedingungen und Menschenrechte der Bevölkerung waren dabei zweitrangig. „In Arauca gibt es praktisch drei Staaten“, erklärt der Konfliktforscher Luis Eduardo Celis in einem Gespräch mit dem Portal Contagio Radio: „Der kolumbianische Staat kam ab Mitte der 80er Jahre; ihm ging es hauptsächlich um das Erdöl. Und dann gibt es noch zwei informelle Staaten, die das Leben in den Gemeinden regeln. Ein Staat wird von der ELN gebildet und der andere von den FARC, die trotz des Friedensvertrages von 2016 bewaffnete Abspaltungen gebildet haben.“

Disidencias erklären soziale Organisationen zum „militärischen Ziel“

Am 2. Januar 2022 begann eine militärische Auseinandersetzung zwischen der ELN- Guerilla und drei Abspaltungen der FARC, den sogenannten Disidencias, um die Kontrolle über das Gebiet. Bei den bewaffneten Kämpfen werden auch zivilgesellschaftliche Organisationen zum Ziel von Angriffen. Das ist kein Zufall, denn diese werden auch von staatlichen Stellen und konservativen Politiker*innen häufig als Helfershelfer*innen der ELN stigmatisiert. Dasselbe behaupten nun auch die Disidencias. Der Chef des Frente 28 der Disidencias, der sich Antonio Medina nennt, erklärte die sozialen Organisationen Anfang Januar öffentlich zum „militärischen Ziel“.

Kurz nach dieser Ankündigung wurde am 9. Januar eine Granate auf ein gemeindeeigenes Unternehmen geworfen; zehn Tage später detonierte eine Autobombe vor einem Gebäude mit Büros selbstverwalteter Organisationen, mitten im Zentrum der Gemeinde Saravena. Ein Wachmann starb.

Autobombe im Stadtzentrum

Dennoch haben die Behörden nach dem Anschlag nicht ernsthaft ermittelt, staatsnahe Medien taten den Angriff schnell als „Kampf um Drogen“ ab. Selbst die direkt betroffenen Organisationen wie die Menschenrechts- und Bildungsorganisation Fundación Joel Sierra wurden nicht von der Polizei befragt. Kein Wunder, findet deren Sprecherin Sonia López: „Wenn selbst hohe Beamte oder Militärführer die soziale Bewegung diffamieren und mit irgendeiner Guerilla in Verbindung bringen, dann ist das eine Kampfansage, stellt eine unmittelbare Gefahr für unser Leben dar und rechtfertigt Angriffe auf uns.“

Neben dem Anschlag wurden bislang sechs soziale Aktivist*innen in Arauca ermordet. López sieht diese Angriffe als Teil des Versuchs, die zivilgesellschaftlichen Strukturen in Arauca zu vernichten, denn darüber hinaus wurden seit 2002 allein in Arauca Ermittlungen gegen über 500 soziale Aktivist*innen geführt: „Mit genau derselben Stigmatisierung haben sie unsere Genoss*innen in Arauca und ganz Kolumbien ermordet“, beklagt López. „Und jetzt, mit denselben verantwortungslosen Anschuldigungen werden wir mit Hilfe dieser bewaffneten Gruppen ermordet. Aber die Disidencias verhalten sich eher wie Söldnerbanden: Für den Drogenhandel und die Sicherheitskräfte machen sie die Drecksarbeit der Auslöschung der sozialen Bewegung.“

Armee zum Schutz transnationaler Unternehmen

Die Regierung Duque kündigte die Entsendung von weiteren zwei Armeebataillonen in das schon stark militarisierte Gebiet an. Dabei kommt bereits jetzt in Arauca ein Soldat auf 27 Bewohner*innen, und auch das hat die Anschläge und Morde nicht verhindern können. López sieht die mächtige Erdölindustrie und die Grenze zu Venezuela als wahren Grund für die hohe Militärpräsenz in Arauca. Diese diene nicht dem Schutz der Zivilgesellschaft, sondern dem Schutz der Interessen der transnationalen Unternehmen.

Trotz der bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den Disidencias und der ELN, der staatlichen Verfolgung und der Angriffe auch auf ihre Organisation hat sich Sonia López nicht aus Arauca vertreiben lassen, aber sie musste ihr Haus in der Gemeinde Saravena verlassen und ihre Kinder aus dem Departamento evakuieren. Zu ihrem Schutz lebt sie versteckt, so wie etwa hundert weiterer Aktivist*innen: „Wir wissen, dass unsere Häuser, oder die Häuser unserer Angehörigen, von bewaffneten Männern beschattet werden, die auf Motorrädern oder in Fahrzeugen mit getönten Scheiben rumfahren. Und deswegen müssen wir uns selbst schützen, weil wir definitiv nicht darauf vertrauen können, dass die staatlichen Stellen unser Leben und unsere Unversehrtheit schützen können.“

Petro steht vor großen Herausforderungen

Daran könnte sich nun vielleicht etwas ändern. Bei den kolumbianischen Präsidentschaftswahlen Mitte Juni gewannen der linke Kandidat Gustavo Petro und seine zukünftige Vizepräsidentin Francia Márquez. „Wir glauben schon, dass eine demokratischere Regierung, wie sie mit Petro möglich ist, die Angriffe auf die soziale Bewegung etwas verringern könnte“, hofft López. Doch noch bleiben viele Fragen ungeklärt: „Petro muss es schaffen, an der Regierung zu bleiben und regieren zu können. Denn er wird Entscheidungen treffen müssen, die gegen die Interessen der kolumbianischen Elite gerichtet sind. Und das wird eine Menge Konflikte mit sich bringen. Diese Elite hat die paramilitärischen Strukturen und einen Großteil des Militärs auf ihrer Seite.“ López glaubt, dass Petro vor großen Herausforderungen steht, um sich an der Regierung halten zu können und einen sozialen Rechtsstaat zu bilden.

Ende März zog eine humanitäre Karawane durch Arauca und forderte die Aufnahme von Ermittlungen zu den Hintermännern der Anschläge, sowie ein Ende der Gewalt, die allein in diesem Jahr in Arauca bereits über 150 Todesopfer gefordert hat. Doch das reicht noch nicht: „Es gibt Kriege, die sichtbarer sind als andere. Was in der Ukraine passiert, ist natürlich sehr traurig und verabscheuungswürdig“, findet López. „Aber es gibt andere Völker auf der Erde, die seit Jahrzehnten im Krieg leben, die jeden Tag mit Angriffen, Tod und Vertreibung konfrontiert sind. Diese Kriege sind unsichtbar, aber wir sind auch Menschen, die ein Ziel im Leben haben, die ihr Land politisch verändern wollen, und deshalb brauchen wir internationale Solidarität.“

López fordert deshalb, dass die internationale Gemeinschaft angesichts der Ungerechtigkeiten in Kolumbien nicht länger wegschauen dürfe: „Die Leute sollen sich informieren und wissen, was die USA und Europa mit den Konflikten zu tun haben, mit denen wir in Kolumbien konfrontiert sind.“

Zu diesem Artikel gibt es einen Podcast bei Radio onda.

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