(Quito, 30. Januar 2020, Desinformémonos.-) Luisa Lozano ist Frauen-Vertreterin des Dachverbands Indigener Nationalitäten Ecuadors Conaie (Confederación de Nacionalidades Indígenas del Ecuador). Von der politischen Praxis in ihrem Land hält sie wenig: „Ecuador ist ein patriarchaler, rassistischer Staat, der sich für die Belange der Frauen nicht interessiert. Beim landesweiten Streik im vergangenen Oktober wurden wir betrogen und angegriffen.“
Zum umstrittenen Dekret 883, Hintergrund der Protestaktionen, erklärt Lozano: „Dieser Beschluss hatte direkte Auswirkung auf das Leben der indigenen Völker, auf Arbeiter*innen und insbesondere auf die Frauen. Deshalb haben wir dagegen protestiert.“ Sie selbst hatte aktiv an der 11-tägigen Mobilisierung gegen das Dekret zur Abschaffung der Kraftstoffsubvention teilgenommen. Dank der heftigen Proteste konnte der Beschluss gekippt werden. Die indigenen Frauen spielten bei der Mobilisierung eine entscheidende Rolle: „Den Staat hat es noch nie interessiert, unter was für Bedingungen Frauen leben.“ Auf die Frage, was das für Bedingungen seien, erklärt sie: „Wir haben keine stabile Gesundheitsversorgung, es gibt keine Sicherheiten für Frauen, die ein eigenes Unternehmen haben, keine Bildungsmöglichkeiten auf dem Land, keine Schulen, wo sie ihre Kinder hinschicken können, denn die Gemeinschaftsschulen wurden geschlossen, und in den Gesundheitszentren, die eigentlich für die medizinische Versorgung zuständig wären, gibt es keine Ärzt*innen. (…) Die Frauen in den Gemeinschaften sind die Wächterinnen der Gebiete und schützen das Wissen der Indígenas, aber sie sind nie respektiert worden. Im Gegenteil. Sie wurden immer diskriminiert und von jeglicher Organisierung und politischen Beteiligung ferngehalten. Als indigene Frauen erleben sie Rechtsverletzungen und Diskriminierung auf verschiedenen Ebenen, weil sie Frauen sind, weil sie einem indigenen Volk angehören, weil sie keine akademische Bildung vorweisen können, weil sie sich nicht auf demselben Niveau bewegen und andere Lebensumstände haben. Wir verfügen über umfassende Kenntnisse, aber weil wir keinen Studienabschluss haben, auf dem Land leben und in unseren traditionellen Kleidern daherkommen und weil wir Frauen sind, werden wir ausgeschlossen”, beschwert sich Lozano, selbst Angehörige der Ethnie kichwa aus der Gemeinschaft Lagunas.
– Wird in den Gemeinschaften die Beteiligung von Frauen anerkannt und wertgeschätzt?
Innerhalb der Gemeinschaften haben wir eine Begrenzung. Auch hier gibt es keine 50-50-Besetzung, das wäre nicht praktikabel und würde auch nicht funktionieren. Die Frauenbeteiligung ist zwar höher geworden, aber nicht einmal in den Gemeinschaften bekommen wir den gleichen Respekt.
– Und die Organisation, die Bewegung?
Innerhalb der Organisation mussten wir uns heftig streiten. Dahin zu kommen, wo wir jetzt sind, war ein Dauerkampf. Im Leitungsgremium der Conaie liegt die Frauenbeteiligung inzwischen bei 30 Prozent: drei Frauen und sechs Männer. Das haben wir immerhin geschafft, aber was wir anstreben, ist eine 50-50-Verteilung, denn als indigene Völker ergänzen wir einander und wir bilden zusammen dieses Gremium, also sollte es auch eine ausgewogene Verteilung geben.
– Welche Rolle übernehmen die Frauen bei der Verteidigung der Gebiete und im Kampf gegen den Extraktivismus?
Wir Frauen fühlen uns sehr stark betroffen vom Extraktivismus. Es geht um die Plünderung unserer Territorien und um unsere Vertreibung. Als Mütter, als Frauen müssen wir sehen, wo wir mit unseren Kindern bleiben. Die Bergbauunternehmen und transnationalen Konzerne verschmutzen und zerstören die Umwelt, und es gibt keinerlei Garantien im gesundheitlichen Bereich.
Wir haben uns nicht nur in die Auseinandersetzungen eingebracht, sondern uns auch selbst die Frage gestellt, wie wir die Umwelt schützen und umweltschonende Alternativen entwickeln können. Wir wissen, dass die Erde gefährdet ist. Nur so können wir verantwortlich handeln und gleichzeitig die Regierung auffordern, die Umwelt zu respektieren und Lebensformen zu fördern, die nicht zu Lasten unserer Mutter Erde gehen.
– Haben wir es mit einem patriarchalen Staat zu tun?
Der Staat ist superpatriarchal. Das hat sich bei den Demos im Oktober klar gezeigt. Da habe ich die Unterdrückung und Verfolgung selbst erlebt. Wir haben uns den Polizisten entgegengestellt und gesagt: Wir sind Mütter, wir sind Schwestern, und wir wollen nicht, dass unsere Genossen getötet werden. Aber der Staat hat sich nicht korrekt verhalten. Leider tragen wirklich alle das Patriarchat in sich. Kein Polizist hat sich darüber Gedanken gemacht, dass sie uns wehtun. Es regnete Bomben, Kugeln und Ladungen aus Schrotgewehren. Viele Frauen wurden überfallen. Das Haus der Kultur, die Universidad Católica, die Universidad Politécnica Salesiana – alle diese Orte wurden angegriffen, ohne dass es für uns irgendeine Garantie für unser Leben gegeben hätte, aber die ist für uns Menschen essentiell.
– Was waren die Strategien und Dynamiken der Frauen bei der Mobilisierung im Oktober?
Wir haben uns alle zusammengeschlossen. Solidarität ist für die indigenen Frauen eine Maxime genauso wie das gemeinsame Kämpfen. Das Prinzip kari-warmi, Frauen und Männer gemeinsam, ist für uns sehr wichtig. Wir haben Genossinnen in Quito und in den angrenzenden Provinzen. Es ist nicht so, als hätten die indigenen Völker und die Frauen nicht ihre eigenen wichtigen Themen, aber wir glauben nun mal an den Kampf im breiten Bündnis. Bei der Mobilisierung im Oktober ging es ausschließlich darum, das Dekret 883 zu verhindern. Später haben die Leute aus der Bevölkerung sich bei uns bedankt und uns beglückwünscht. Die indigenen Völker seien ja so tapfer, hieß es. Aber wir hatten auch Tote zu beklagen, Verwundete, es gab weinende Frauen und Kinder. Da war Unterstützung gefragt, und die Leute schlossen sich zusammen, um zu helfen, und wir Frauen waren immer dabei.
Ich habe dabei meine Angst verloren. Angst hatte ich keine mehr. Alle Frauen haben uns das gesagt: dass sie die Angst vor dem Staat verloren haben. Wir kümmerten uns nicht um Ausgangssperre und Ausnahmezustand. Wir haben einfach weitergemacht und uns sogar den Polizei- und Militärkommandos entgegengestellt.
– Welche Rolle spielten die Frauen bei der Aktion vor dem Kongress, und wie reagierte der Staat?
An dem Tag haben wir Frauen uns organisiert und das Kommando übernommen. Wir waren Frauen aus verschiedenen Organisationen. Wir sind 18 Völker und 14 Nationalitäten. Frauen aus der Stadt waren auch da. Die Polizei forderte uns auf, uns zurückzuziehen. Aus den oberen Stockwerken zielten sie mit ihren Gewehren auf uns, aber wir sind einfach Schritt für Schritt weiter gegangen, und dann waren wir drin, und die Polizisten standen da mit erhobenen Händen. Wir Frauen haben ihnen gesagt, dass wir keine Waffen dabei hätten, und haben sie gebeten, uns nicht zu töten, wir wollten nur Gerechtigkeit und dass der Staat uns anhört. Wir sind da reingegangen, weil wir eine Antwort von den Abgeordneten wollten, wir haben sie schließlich gewählt.
Als wir dann im Kongressgebäude waren und Druck gemacht haben, habe ich mich getraut, auf die Polizei- und Militärkommandos zuzugehen. Sie haben mir die Hand geschüttelt und versichert, dass nichts passieren würde. Dann haben sie mich gefragt, was wir denn eigentlich wollten. Ich darauf: „Wir fordern die Zurücknahme des Dekrets 883“, dies hier sei eine friedliche Demonstration ohne Waffen, wir seien Frauen, Kinder, ältere und anders befähigte Menschen. Mit erhobenen Händen haben wir Kampflieder gesungen. Wir alle saßen da oder standen, einige lachten. Wir haben unser Essen geteilt. Wir haben uns einfach darauf verlassen, dass hier nichts weiter passiert. Das Wort ist uns heilig. Aber an diesem Tag haben sie uns reingelegt. Die Frauen wurden brutalst angegriffen. Wir hätten sterben können. Die Frauen rannten oder lagen auf dem Boden, schrien und weinten. Die Polizei und die Militärs kennen mich. Sie hätten mich durch die Hintertür rausgelotst, aber das kam für mich nicht in Frage, durch das Tränengas waren Frauen zu Boden gegangen. Also bin ich wieder rein und habe ihnen aufgeholfen. Fast wäre ich auch ohnmächtig geworden. Die Schießerei ging weiter. Als ich schließlich draußen war, dachte ich, dass es bestimmt Tote gegeben hatte. Viele Genossinnen waren verwundet, als sie herauskamen, oder hatten Schläge abbekommen, aber sonst nichts weiter. Sie waren verwundet, man hatte sie geschlagen, und man hatte sie betrogen. Das war ein harter Tag. Danach ging die Repression weiter. Das war nicht das Ende.
– Was waren die Erfolge der Mobilisierung, und wo habt ihr euch geirrt, was würdest du sagen?
Der erste Erfolg war, dass wir uns überhaupt mobilisiert haben, wir waren eine starke Bewegung, bestehend aus Indígenas. Allerdings sagen wir es immer wieder: Das war keine Indígena- Mobilisierung sondern ein ecuadorianischer Volksaufstand. Das gesamte ecuadorianische Volk hat protestiert, von Norden nach Süden und von Westen nach Osten. Für uns war es ein sehr großer Erfolg. Seit über 530 Jahren leisten wir Widerstand, und sie haben uns nichts geschenkt. Alles wurde mit Blut bezahlt, Genoss*innen wurden verwundet, von Repressalien niedergedrückt. Alle unsere Erfolge haben wir durch gesellschaftlichen Druck erreicht. Die Bilanz der Mobilisierung im Oktober: mehr als 1000 Verhaftete und Verwundete, neun Tote, ein Schwerverletzter auf der Intensivstation – das geht uns alle an, in der Stadt wie in den Provinzen. Irgendwelche Fahnen von politischen Organisationen haben wir nicht gesehen. Dafür ist die Conaie nun viel stärker als vorher. Über den Dachverband haben wir eine Aktion gestartet, um die Genossen aus dem Gefängnis zu holen, Unterstützung in den Ärztezentren und Krankenhäusern zu organisieren und Gerechtigkeit für die Toten zu fordern. Viele Leute sind gekommen und haben gefragt, ob wir Unterstützung brauchen, und uns bestärkt, dass wir Gerechtigkeit vom Staat fordern sollen. Wir sind also nach wie vor dabei und stehen zu unserem Wort, ohne den Kampf zu verraten.
Es hat sich auch schon eine Betroffenengruppe gebildet, die zur Conaie gehört. Mir als landesweiter Frauen-Vertreterin haben sie die Leitung der Gruppe übertragen. Diese Arbeit ist mir sehr wichtig. Bei den Protesten 2015 war ich nämlich selber betroffen, das heißt, ich weiß, wovon die Rede ist.
– Was sind denn nach dem Streik die spezifischen Frauen-Standpunkte?
Das Thema Gerechtigkeit, nach wie vor. Es ist mir schon fast peinlich, das zu sagen, aber sowas wie Transparenz und eine unparteiische Gerichtsbarkeit existieren in Ecuador einfach nicht. Die Staatsanwaltschaft, die Krankenhäuser, dieses ganze patriarchale System wird von der Polizei kontrolliert. Neben der staatlichen Gewalt gibt es noch die Gewalt in den Familien, es gibt sexuellen Missbrauch, Gewalt gegen Frauen, Missachtung der Arbeiterinnenrechte und Ausbeutung.
Für Frauen gab es in Ecuador nie Gerechtigkeit. Das ist unsere Forderung. Wir fühlen uns verletzt. Sexueller Missbrauch von Kindern, sexuelle Belästigung Minderjähriger, Frauenmorde – so viele Verbrechen, für die nie jemand zur Rechenschaft gezogen wird. Wenn dir irgendwas passiert, weißt du einfach nicht, an wen du dich wenden kannst. Wegen der Umweltverschmutzung im Regenwald sind viele Frauen hier an Krebs erkrankt, ganze Ortschaften sind von Umweltveränderungen betroffen. In der Provinz Cotopaxi wurden nur die Blumen- und Gemüseplantagen mit Wasser versorgt, während unsere Brüder und Schwestern ohne Wasser leben müssen. Aber der Staat übernimmt dafür keine Verantwortung.
– Gibt es Rassismus in Ecuador? Wie sah das bei dem Streik aus?
In den offiziellen Medien der Amazonasregion, die die Macht haben und in enger Verbindung mit dem Staat stehen, tritt der Rassismus offen zutage: die ablehnende Haltung gegenüber den Indígenas, die Diskriminierung und mit welchen Worten die Kongressabgeordneten sich auf uns beziehen. Da sieht man, wie eindimensional sie denken. Aber die aus der Mittelschicht und den unteren Gesellschaftsschichten fühlen sich durch den Kampf der Conaie vertreten.
– Wie geht es nun weiter?
Wir machen weiter mit unserem Widerstand. Dazu haben wir uns verpflichtet. Wir kämpfen nicht nur dafür, dass die indigenen Völker in Würde leben können sondern alle Ecuadorianer*innen. Wir wollen in einem Land leben, das frei ist von Gewalt. Das ist ganz schön kompliziert.
Aber es gibt ein Vor und ein Nach dem Streik. Früher gab es viel weniger Aktivist*innen, viele Leute haben sich keinen Kopf um diese Dinge gemacht. Das ist heute anders. Nun schauen alle auf die Conaie.
Auszug aus einer Gemeinschaftarbeit von Desinformémonos (México), Radio Periferik (Ecuador) und Mutantia (Suiza)
Übersetzung: Lui Lüdicke
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