Staatsstreich, Amtsenthebung und eine neue Präsidentin

(10. Dezember 2022, pressenza).- Der versuchte Staatsstreich des ehemaligen Präsidenten Pedro Castillo vom 7. Dezember hat Fragen nach den strafrechtlichen Folgen aufkommen lassen. Auch die anschließende Amtsenthebung Castillos und der Amtsantritt von Dina Boluarte als neue Präsidentin haben die Debatte über nötige verfassungsrechtliche Schritte angesichts des Bruchs der demokratischen Ordnung neu angestoßen. In diesem Artikel beantwortet OjoPúblico fünf Schlüsselfragen zum Verständnis der jüngsten politischen Krise und die Aussichten für die kommenden Monate.

Bereits seit 2016 haben sich die politische Krise und die Instabilität der Regierung in Peru verschärft. Als erste Frau hat jetzt Dina Boluarte die peruanische Präsidentschaft übernommen. Sie ist die sechste Präsidentin innerhalb von fünf Jahren.

Der ehemalige Präsident Pedro Castillo wurde verhaftet und in das Hauptquartier der Direktion für besondere Polizeieinsätze (Diroes) im Bezirk Ate in Lima verlegt, wo auch der wegen Korruption und Menschenrechtsverletzungen verurteilte ehemalige Präsident Alberto Fujimori inhaftiert ist. Gegen Castillo wird nun wegen der Straftat der Rebellion ermittelt, nach seinem gescheiterten Versuch eines Staatsstreiches. Er hatte die Schließung des Kongresses angekündigt.

Die Unsicherheit in Peru ist dadurch jedoch nicht vorbei. Verschiedene Expert*innen sind der Ansicht, dass die neue Präsidentin vor großen Herausforderungen steht, ebenso wie das Parlament nach einer langen Konfrontation mit der Regierung. In diesem Artikel erläutern wir einige wichtige Punkte zum besseren Verständnis der politischen Ereignisse und das Szenario für die kommenden Monate.

Warum ist das, was Castillo getan hat, ein Staatsstreich?

Die Ankündigung des gestürzten Präsidenten Pedro Castillo, den Kongress zu schließen und den Ausnahmezustand zu verhängen, wurde als versuchter Staatsstreich gewertet, da eine solche Entscheidung gegen die peruanische Verfassung verstößt. Diese Auffassung vertreten sowohl Jurist*innen als auch das Verfassungsgericht selbst.

Die Verfassungsrechtlerin Beatriz Ramírez ist der Ansicht, dass Castillos Absicht, das Parlament aufzulösen, gegen die Regeln der Magna Carta über das „Gleichgewicht der unterschiedlichen Formen der Staatsgewalt“ verstößt. Denn sie verstößt gegen Artikel 134 der Verfassung, in dem die Bedingungen für die Auflösung des Kongresses festgelegt sind.

„[In der Verfassung] wird erwähnt, dass [die Auflösung des Parlaments] erfolgt, wenn die Vertrauensfrage zweimal abgelehnt wird. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Wer den Kongress außerhalb dieser Regelung schließen will, ändert die Regeln für die demokratische Stabilität in diesem Land“, sagte sie.

Vor dreißig Jahren, am 5. April 1992, rechtfertigte der damalige Präsident Alberto Fujimori die Schließung des Kongresses mit dessen „Blockadepolitik“. In seiner letzten offiziellen Rede wies Castillo auf die „unheilvolle Blockadepolitik der Mehrheit der Kongressabgeordneten“ hin und rief dazu auf, „so bald wie möglich“ Parlamentsneuwahlen einzuberufen.

Nach der Ankündigung Castillos vom 7. Dezember wiesen die Mitglieder des Verfassungsgerichts den „Staatsstreich“ als Verstoß gegen die „verfassungsmäßige Ordnung“ zurück und forderten den Kongress auf, „im Rahmen seiner Befugnisse“ zu handeln. Dies führte dazu, dass die Amtsenthebung eine Mehrheit fand und anschließend Dina Boluarte als Präsidentin vereidigt wurde.

Luis Almagro, Generalsekretär der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten), erklärte in einer Dringlichkeitssitzung des ständigen Rates der OAS, dass die „verfassungsgemäße Ordnung“ in Peru gestört worden sei. Er brachte seine Unterstützung für Dina Boluarte zum Ausdruck, um „den demokratischen Pfad wiederherzustellen“.

Wie sieht Castillos unmittelbare Zukunft aus?

Am Nachmittag des 7. Dezember, nachdem seine Abwahl beschlossen worden war, betrat der ehemalige Präsident Pedro Castillo die Präfektur von Lima (das Präsidentenbüro) an der Avenida España und wurde nach 21.00 Uhr mit einem Hubschrauber zum Gefängnis Barbadillo gebracht, wo Alberto Fujimori inhaftiert ist.

Die von OjoPúblico befragten Fachleute stimmten darin überein, dass die Verhaftung „in flagranti“ erfolgte, was eine maximale Haftdauer von 48 Stunden ermöglicht. Der Strafverteidiger Rafael Chanjan erklärte dieser Zeitung, dass Pedro Castillo als ehemaliger Präsident und gemäß dem Gesetz 27399 nicht in Untersuchungshaft genommen werden könne, eine Maßnahme, die eine Höchstdauer von zehn Tagen vorsieht.

Am Morgen des 8. Dezember setzte sich die Justiz jedoch über das genannte Gesetz hinweg und wandte die Regeln der Strafprozessordnung an, um eine „gerichtliche Festnahme in flagranti“ wegen der angeblichen Straftaten der Rebellion und Verschwörung anzuordnen. Die Maßnahme ist bis zum 13. Dezember in Kraft (an dem Tag beschloss das oberste Gericht in Peru, dass Castillo weiter in Untersuchungshaft bleibt, Anm. d. Red.).

Die Justizbehörde wies darauf hin, dass eine eventuelle Vorbeugehaft nur dann wirksam wäre, wenn der Kongress ein politisches Untersuchungsverfahren einleitet, was die Einleitung von Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft ermöglichen würde. „Die Untersuchungshaft kann erst angeordnet werden, wenn die Ermittlungen formal legitimiert sind, und dazu muss das Untersuchungsverfahren im Kongress durchlaufen werden“, so der Experte.

Für diese Maßnahme gibt es keine Frist, aber bevor sie im Parlament erörtert wird, muss sie im Ausschuss für verfassungsrechtliche Anschuldigungen diskutiert werden. Im Falle einer Untersuchungshaft Castillos nach dem Ermittlungsverfahren würde das Nationale Strafvollzugsinstitut (INPE) bestimmen, in welcher Haftanstalt Castillo diese verbüßen würde, so die Anwälte auf Anfrage.

Nach 20 Uhr gab die Staatsanwaltschaft bekannt, dass sie ein Ermittlungsverfahren gegen Castillo wegen des Verdachts der Rebellion eingeleitet hat. Stunden zuvor hatte Staatsanwalt Daniel Soria Strafanzeige wegen des Verdachts auf Volksverhetzung, Amtsmissbrauch und schwere Störung des öffentlichen Friedens gestellt.

Der Strafverteidiger César Azabache erklärte gegenüber OjoPúblico, dass es bei den mutmaßlichen Straftaten der Rebellion und des Aufruhrs keinen „Unterschied in der Form“ gebe, da sie beide die „verfassungsmäßige Ordnung“ störten und versuchten, „physische Gewalt zu diesen Zwecken“ anzuwenden, ohne sie einzusetzen.

Rafael Chanján vertrat einen gegenteiligen Standpunkt und erklärte, dass es sich weder um eine Rebellion noch um eine Aufwiegelung handle, da in beiden Fällen „zu den Waffen gegriffen“ werden müsse und zu prüfen sei, ob Pedro Castillo zusätzlich zu seiner morgendlichen Botschaft an die Nation noch weitere Aktionen durchgeführt habe.

„Wenn ich mir das Video ansehe, sehe ich weder Aufruhr noch Rebellion. Was ich deutlicher sehe, ist die Anschuldigung des Staatsanwalts [Daniel Soria], dass es sich um versuchten Amtsmissbrauch handeln könnte. Allerdings erfordert [diese Straftat] die Verursachung von Schaden, was untersucht werden müsste“, sagte er.

War die Reaktion des Kongresses auf den Auflösungsversuch verfassungsgemäß?

Ja, in der Sitzung wurde die „Entschließung des Kongresses, die eine dauerhafte moralische Unfähigkeit des Präsidenten und dessen Amtsenthebung erklärt“, gebilligt.

Einer der Gründe für die Absetzung von Pedro Castillo war laut der Sonderausgabe von El Peruano der Versuch, den Kongress aufzulösen; ebenso der Versuch, öffentliche Funktionen an sich zu reißen, „das Funktionieren der Staatsgewalt zu behindern und die durch die politische Verfassung festgelegte Ordnung zu verletzen“.

Ursprünglich war eine Abstimmung über den dritten, von Edward Málaga Trillo initiierten Amtsenthebungsantrag und eine Verteidigung Castillos vorgesehen. Diese wurde nach der versuchten Auflösung des Kongresses nicht durchgeführt. Stattdessen verabschiedete das Parlament die oben erwähnte Entschließung.

„Der Kongress hat ein geplantes Amtsenthebungsverfahren benutzt und bei der Einbringung der Resolution Artikel 117 [der Verfassung] angewandt, der es ihm ermöglicht, die Immunität des Präsidenten aufzuheben. Es gibt eine Ausnahme, nämlich die, den Kongress auf verfassungswidrige Weise aufzulösen“, erklärte die Verfassungsrechtlerin Beatriz Ramírez gegenüber OjoPúblico.

Ist es rechtmäßig, dass Dina Boluarte bis 2026 bleibt?

Ja. Artikel 115 der Verfassung legt die Nachfolgeregelung für den Präsidenten fest. „Im Falle einer vorübergehenden oder dauerhaften Verhinderung des Präsidenten übernimmt der Erste Vizepräsident seine Aufgaben“, heißt es in einem Teil des Artikels.

Die gleiche Regelung wurde im März 2018 verwendet, als der damalige erste Vizepräsident Martín Vizcarra nach dem Rücktritt von Pedro Pablo Kuczynski die Präsidentschaft übernahm.

Was sind die nächsten möglichen Szenarien?

Die von OjoPúblico befragten Fachleute wiesen darauf hin, dass Präsidentin Dina Boluarte ohne eine eigene Fraktion oder politische Macht im Kongress an die Macht gelangt ist. Aus diesem Grund „muss sie eine Gruppe von Parlamentarier*innen finden, die bereit sind, ihr Team im Parlament zu werden. Ich denke, sie ist in der Lage, auf diese Gruppen zuzugehen, auch wenn sie in der Minderheit sind“, sagte die Politikwissenschaftlerin Paula Távara.

Für den Politikwissenschaftler und Juristen Paulo Vilca bedeutet der fehlende politische Rückhalt von Dina Boluarte, dass sie „der Gnade von politischen Gruppen ausgeliefert ist, die nicht ihre eigenen sind“. Der Experte wies jedoch darauf hin, dass dies nicht bedeute, dass sie keine Bündnisse oder Vereinbarungen treffen könne.

Vilca zufolge könnten Boluartes Allianzen mit dem Kongress jedoch ein Risiko für ihr politisches Image darstellen, da sie sich damit in die Nähe eines Sektors begeben würde, der noch mehr in Misskredit geraten ist als der ehemalige Präsident Pedro Castillo. „Wenn sie so wahrgenommen wird, wird sie keine Unterstützung in der Öffentlichkeit erhalten, noch weniger als Castillo.“

Die Politikwissenschaftlerin Paula Távara ist derweil der Meinung, dass die Zusammensetzung des Kabinetts einen besseren Eindruck von der Richtung vermitteln wird, die ihre Regierung einschlagen wird. Das Kabinett wird sie durch verschiedene Verhandlungen bilden, was an sich nicht negativ ist, erklärt Távara.

„Ich glaube, dass das Kabinett, das sie zusammenstellt, uns zeigen wird, ob sie eine Quotenregelung umsetzt, oder ob sie ein breit aufgestelltes, ein neutrales oder technisches Kabinett haben wird oder ein Kabinett mit ethischer Legitimität“, so die Expertin.

Übersetzung: Annette Brox

Den Originalartikel findet ihr bei OjoPúblico.

CC BY-SA 4.0 Staatsstreich, Amtsenthebung und eine neue Präsidentin von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.

Eine Antwort zu “Staatsstreich, Amtsenthebung und eine neue Präsidentin”

  1. Was ist mit der Bevölkerung? Der Artikel beschreibt ja recht spannend, was in der politisch/juristischen Blase in Peru/Lima passiert aber was das alles mit der Bevölkerung zu tun hat wird vollständig ausgeblendet. Bis Stand heute, den 16.12.2022, sind nach bekannt geworden Informationen 8 Menschen bei den Protesten getötet worden, die im Zuge der Absetzung und Inhaftierung des Präsidenten Castillo aufgetreten sind . Alle Getöteten wurden erschossen, man fand Projektile. 7 der 8 Toten sind allein in den letzten 2 Tagen (Stand ebenfalls 16.12.2022) zu beklagen. Das zeigt eine dramatische Steigerung der Staatsgewalt um die Proteste aufzulösen. Ein ziemlicher Treppenwitz der Geschichte ist, der kritisierte Ausnahmezustand ist unter der neuen Präsidentin Boluarte selber verhängt worden. Quellen: ANN-News&Tagesschau

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert