Gustavo Petro oder Rodolfo Hernández?

(Bogotá, 30. Mai 2022, ALAI).- Gustavo Petro, Kandidat des Linksbündnisses Pacto Histórico, hat in der ersten Runde der kolumbianischen Präsidentschaftswahlen die meisten Stimmen erhalten. Euphorie herrscht darüber jedoch in seinem Lager nicht, waren es doch weniger Stimmen als erwartet. Nun wird Petro in der Stichwahl gegen Rodolfo Hernández antreten müssen, den viele als „Trump Kolumbiens“ bezeichnen. Die Rechtskonservativen, die in der ersten Runde auf dem dritten Platz landeten und für eine Fortführung des Uribismo stehen, haben Hernández bereits ihre Unterstützung zugesagt.

Auf der Wahlparty des Pacto Histórico jonglierte eine Animateurin, um einen nicht vorhandenen Eifer zu wecken. Eindeutig beherrschten lange Gesichter die Atmosphäre, während eine kleine militante Gruppe bemüht Sí se puede („Ja, wir schaffen das!“) skandierte. Vor dem Luxushotel Tequendama verfolgten ein paar Hundert Unterstützer*innen die Rede von Gustavo Petro auf einem Bildschirm, alles ohne die Hitze und die Farben, die einige Stunden zuvor erwartet worden waren. In den Straßen von Bogotá gab es keinen Jubel und keine Hupkonzerte, obwohl das Wahlergebnis beispiellos war: Zum ersten Mal in der kolumbianischen Geschichte errang eine Koalition aus Progressivismus und Linken einen deutlichen Sieg und wurde die führende politische Kraft.

Das Glas scheint halbleer, nicht halbvoll zu sein

Zwei Faktoren rücken das halbleere Glas in den Vordergrund und überschatten das halbvolle. Erstens lagen die erzielten 40,3 Prozent für Petro deutlich unter den Erwartungen. Viele hatten sogar gehofft, mehr als 50 Prozent zu erreichen und im ersten Wahlgang zu gewinnen. Vor allem aber wurde zweitens erwartet, dass die Stichwahl mit dem Pro-Uribe-Kandidaten Federico Gutiérrez bestritten werden müsste, der schließlich Dritter wurde. Stattdessen landete der Überraschungskandidat Rodolfo Hernández auf dem zweiten Platz.

Nach den Berechnungen des Endergebnisses stehen die Chancen für Petro und seine Vizepräsidentschaftskandidatin Francia Márquez nicht einfach: Die 28,1 Prozent von Hernández und die 23,9 Prozent von Gutiérrez ergeben zusammen 11 Millionen Stimmen – 2,5 Millionen mehr als die des Pacto Historico.

„Wir müssen in den nächsten drei Wochen diejenigen, die nicht gewählt haben, überzeugen.“

Auf der Straße hatten sich vor allem junge Menschen versammelt. Viele analysierten die Ursachen für das Ergebnis und zeigten sich verhalten: „Wir wussten, dass es nicht einfach ist, dieses Land zu verändern. Die Linke wurde hier schon immer verteufelt und es gab eine sehr heftige Medienkampagne, die Angst und Lügen über unsere Kandidaten verbreitet hat“, erklärt Jazmín, Sozialarbeiterin und Nachbarschaftsaktivistin. Oscar, ein Universitätslehrer, gibt zu: „Wir dürfen uns nichts vormachen, die ganze Sache ist vermurkst, jetzt richten sich alle gegen Petro. Wir müssen in den nächsten drei Wochen hart arbeiten und diejenigen, die nicht gewählt haben, überzeugen.“

Durch die hohe Stimmenthaltung in der ersten Runde könnte Petro seinen Nachteil ausgleichen. Die Wahlbeteiligung lag bei 54 Prozent, was in Kolumbien mehr oder weniger üblich ist: Es besteht keine Wahlpflicht. Im Hinblick auf die Stichwahl gäbe es also die Möglichkeiten, einen Teil dieser historisch politikverdrossenen Wählerschaft anzusprechen und zum Wählen zu mobilisieren.

Hernández wiederum wird die Unterstützung aus dem uribistischen Lager zum Verhängnis

Der andere Faktor, der das Bild wenden könnte, ist der sogenannte piantavotos-Effekt. So konnte Hernández als Kandidat des Anti-Establishments viele Stimmen für sich gewinnen. Die klare Unterstützung aus dem Lager des Uribismus könnte ihm jedoch nun zum Verhängnis werden.

Das politische Lager von Federico Gutiérrez und Kolumbiens aktuellem Präsidenten Iván Duque steht in so schlechtem Licht wie seit langem nicht mehr: Seine Politiker*innen werden mit narco-paramilitärischen Akteuren in Verbindung gebracht, außerdem hat sich die Wirtschaftskrise im Land in der Amtszeit von Duque, Nachfolger des ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe, verschärft. „Wir werden Kolumbien, unsere Familien und unsere Kinder nicht gefährden, und deshalb werden wir am 19. Juni für Rodolfo stimmen“, kündigte Federico Gutiérrez noch am Wahlabend an. Der langjährige Geschäftsmann Rodolfo Hernández wird klug sein müssen, um von diesem eindeutigen Schulterschluss ablenken zu können.

Die Kolumbianer*innen haben den Uribismus abgewählt

Eine zentrale Erkenntnis der Wahlen war der Niedergang des Uribismus. Das Lager der kolumbianischen Eliten hatte in den vergangenen 20 Jahren die Politik dominiert. Weil sie die Kriegsmaschinerie vorantrieb, die für so viele Massaker, „falsos positivos“ und Ermordungen sozialer Führer*innen verantwortlich ist, wuchs die Unzufriedenheit mit dem Uribismus mehr und mehr. Uribe paraco, el pueblo está berraco („Uribe, du Paramilitär, das Volk ist wütend!“), hatten Tausende während des landesweiten Streiks im vergangenen Jahr skandiert. Die Proteste waren ein Meilenstein, der den Zusammenbruch des Uribe-Regimes markierte und einer progressiven Kandidatur zum Aufschwung verholfen hat.

Gustavo Petro feierte das Ergebnis am Wahlabend. In seiner Rede bilanzierte er: „Das politische Projekt von Präsident Duque und seinen Verbündeten ist gescheitert. Das Ergebnis der Abstimmung in Kolumbien ist eine Botschaft an die Welt: Eine Zeit ist vorbei, ein Zeitalter geht zu Ende. Das Land, das nicht mit denselben Leuten weitermachen will, die uns in diese schmerzhafte Situation gebracht haben, hat gewonnen.

Die schlechte Nachricht ist jedoch, dass die kolumbianische Rechte wieder einmal ihre Fähigkeit zur Wiedererfindung unter Beweis gestellt hat und in kürzester Zeit eine Ersatzfigur hervorgebracht hat, die in diese Zeit der Anti-Uribe-Stimmung passt: Rodolfo Hernández.

Viejito pero sabroso – „Alt, aber köstlich“…

…so präsentiert sich Rodolfo Hernández Suárez, der 77-jährige Bauunternehmer und ehemalige Bürgermeister von Bucaramanga im Nordosten Kolumbiens, in seinen sozialen Netzwerken. Seine große Leistung bestand darin, die von den traditionellen Parteien enttäuschte Bevölkerung anzusprechen, indem er sich mit allgemeinen Slogans und einem Anti-Korruptions-Diskurs als Außenseiter präsentierte.

In den vergangenen Wochen hat er einen nahezu schwindelerregenden Aufschwung erlebt. Das dürfte auch an seiner geschickten Darstellung auf TikTok, der großen medialen Aufmerksamkeit und seinem vermeintlich „weder rechten noch linken“ Profil liegen. Fast ohne konkrete Regierungsvorschläge, ohne öffentliche Auftritte oder die Teilnahme an den Präsidentschaftsdebatten ist er in den Wahlkampf eingezogen und gilt nun sogar als Favorit. „Heute hat das Land der politischen Kaste und der Korruption verloren“, schrieb er am Wahlabend in seinen sozialen Netzwerken.

Das Bild, Hernández sei weder rechts noch links, trügt

Hernández baute seinen Charakter mit einem umgangssprachlichen und aggressiven Stil auf und sorgte für Auseinandersetzungen, als er beispielsweise als Bürgermeister einen Stadtrat vor laufender Kamera ohrfeigte. Oder als er gestand, ein Bewunderer Hitlers zu sein. Er macht auch keinen Hehl aus seiner sexistischen und frauenfeindlichen Rhetorik: „Frauen in der Regierung, das mögen die Leute nicht. Es ist gut, dass die Frau sich von zu Hause aus dazu äußert und unterstützt“, sagte er dieser Tage in einem Interview.

Zudem war er Hauptfigur eines noch nie dagewesenen Fauxpas, als ein Anhänger an ihn herantrat und ihn um ein Grußwort für das Departamento Vichada bat. „Für Vichada? Was ist das?“, überraschte ihn der Kandidat. Das Tragische daran ist, dass Hernández in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen dennoch in Vichada der meistgewählte Kandidat war.

Offenes Ende

Die kolumbianische Linke hat die erste Runde der Präsidentschaftswahlen mit historischen Stimmanteilen gewonnen. Petro erhielt fast 3 Millionen mehr Stimmen als in seinem ersten Versuch im Jahr 2018. Die hohen Erwartungen haben jedoch einen bitteren Beigeschmack hinterlassen und stellen eine große Herausforderung für die Stichwahl am 19. Juni dar. Doch die Politik verträgt sich nicht gut mit der Mathematik. Vielleicht sollten wir zu der berühmten, Antonio Gramsci zugeschriebenen Maxime zurückkehren, dem Pessimismus der Vernunft einen Optimismus des Willens entgegenzustellen.

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