(Quito, 24. Januar 2020, alai/npla).- Allein im Januar 2020 wurden 27 Anführer*innen sozialer Bewegungen in Kolumbien ermordet. Seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens im November 2016 ereigneten sich insgesamt mehr als 800 Morde an Aktivist*innen sowie 170 Morde an ehemaligen Kämpfer*innen der Guerillabewegung der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC). Es zeichnet sich eine ernsthafte humanitäre Krise ab, der jedoch nicht mit ausreichend Ernsthaftigkeit und Effizienz begegnet wurde und wird – weder durch die aktuelle Regierung von Iván Duque Márquez, noch während der Vorgängerregierung unter Juan Manuel Santos, unter der die Friedensgespräche mit der ehemaligen Guerillabewegung FARC eingeleitet und zu einem Ergebnis gebracht wurden.
Die Anführer*innen sozialer Bewegungen treten mit Klarheit und Schlagfertigkeit für ihre Anliegen ein und werden genau deshalb ermordet. Der afro-kolumbianische Aktivist Leyner Palacios Asprilla überlebte das Massaker in Bojayá (Chocó) im Jahr 2002. In einem Brief an Präsident Iván Duque informierte er über die Anwesenheit von mehr als 300 bewaffneten Männern in seiner Gemeinde. In seinem Brief vom 8. Januar 2020 signalisierte er dem Präsidenten weiterhin, dass „die Handlungen paramilitärischer Gruppen der Selbstverteidigungskräfte Kolumbiens (AGC), auch „Clan del Golfo“ genannt, in Absprache mit den öffentlichen Sicherheitskräften in den Regionen des Atrato-Flusses und des Pazifiks stattfinden. Dies steht im Widerspruch zu einer Regierung, die sich für die Gesetzmäßigkeit ihrer Handlungen ausspricht.“ Weiterhin wies er darauf hin, dass die Anwesenheit von mehr als 300 bewaffneten Männern in der Gemeinde von Pogue und anderen Nachbarorten nahe dem Fluss Bojayá zunehmend Schrecken verbreitet. So kam es in den vergangenen Monaten in einigen Gemeinden zu körperlichen und sexuellen Übergriffen auf Frauen. Gleichzeitig erklärt er, dass die Präsenz der Guerilla der Nationalen Befreiungsarmee ELN sich verstärkt hat. Die Übernahme des Territoriums resultiert in Angst und einer unmittelbaren Gefahr für die Gemeinden aufgrund der damit einhergehenden Kriegshandlungen, wie der Installation von Minen, die gegen Menschen eingesetzt werden.
Drogenhandel und illegale Absprachen stehen der Umsetzung des Friedensabkommens im Weg
Palacios kritisiert, dass sich die Regierung trotz der kritischen Situation in der Region nur für Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Drogenhandel verantwortlich fühlt. „Es ist allgemein bekannt, dass historisch betrachtet der Konflikt in der Region, ebenso wie der Drogenhandel, mit der Entwicklung des industriellen Bergbaus, der Palmölproduktion sowie der Implementation von Megaprojekten im Bereich Infrastruktur einhergingen.“ Abschließend erläutert er, dass eine Politik implementiert werden müsse, die den indigenen und afroamerikanischen Völkern der Region Autonomie in der Kontrolle ihrer Territorien garantiert. Dafür bedürfe es zunächst einer vollständigen Umsetzung des Friedensabkommens. So besteht in der gesamten Region ein Konsens darüber, dass der Kampf gegen den Drogenhandel weitergeführt und der Anbau illegaler Nutzpflanzen gestoppt werden müsse. Gleichzeitig sollten die Verhandlungen mit der ELN-Guerilla und den paramilitärischen Gruppen aufrechterhalten werden, um diese langfristig unter staatliche Kontrolle zu bringen.
Palacios nennt deutlich das größte Problem, welches hinter der Ermordung von Anführer*innen sozialer Bewegungen steht – nicht nur in Chocó und der Pazifik-Region Kolumbiens, sondern auch in anderen Teilen des Landes wie Antioquia, Cauca, Putumayo und im Norden von Santander, wo sich die Mehrheit der Morde an sozialen Aktivist*innen und ehemaligen Kämpfer*innen der FARC ereignet hat. Ursache des Problems sind laut Palacios die Absprachen der öffentlichen Streitkräfte mit illegalen bewaffneten Organisationen und besonders mit den paramilitärischen Gruppen, welche in der Region vertreten sind. In stark militarisierten Gebieten wie den oben genannten sind paramilitärische Gruppen täglich präsent, verdrängen die Bevölkerung, ermorden Anführer*innen sozialer Bewegungen und beherrschen das Gebiet mit ihren Aktivitäten in Verbindung mit dem Drogenhandel. Dies ist nur möglich, da sie die Nationalarmee und die Polizei infiltriert haben und darüber hinaus gut in der lokalen Regierung vernetzt sind. Im Gegenzug dafür beteiligen sich die paramilitärischen Gruppen an der Finanzierung politischer Kampagnen.
Umsetzung des Friedensvertrags besteht oft nur auf dem Papier
Solange es keine ernsthaften politischen Bemühungen gibt, die paramilitärischen Organisationen zu kontrollieren, wird Kolumbien auch weiterhin Morde an sozialen Aktivist*innen erleben, vor allem in den Gemeinden, die sich gegen den Anbau von Koka und den illegalen Bergbau einsetzen, von dem die kriminellen Gruppen leben. Das Friedensabkommen mit der FARC beinhaltet die notwendigen Maßnahmen und benennt die zuständigen Handlungsakteur*innen, die diese Politik umsetzen müssen. Das Abkommen sieht eine Nationale Kommission für Sicherheit vor, die sich zusammensetzt aus den Ministern für Verteidigung und Inneres, der Generalstaatsanwaltschaft und der Bürger*innenvertretung sowie aus fünf Vertreter*innen der Organisation für Menschenrechte, dem Generalkommandant des Militärs und der Streitkräfte und dem Direktor der Landespolizei. Vorsitzender des Gremiums ist der Präsident der Republik. Die Kommission soll eine Politik zur Auflösung paramilitärischer Gruppen erarbeiten und im Rahmen dessen eine eigenständige Einheit in der Generalstaatsanwaltschaft sowie eine Eliteeinheit bei der Polizei schaffen. Finanziert werden soll dies aus eigenen Mitteln sowie aus dem Staatshaushalt. Außerdem sollen die Mittel für weitere Ermittlungsbeamte bereitgestellt werden.
All dies existiert bislang nur auf dem Papier. In den rund 18 Monaten, die die Regierung Duque im Amt ist, trat die Kommission nur dreimal zusammen, obwohl laut dem Abkommen mindestens einmal im Monat eine Versammlung abgehalten werden muss. Somit hat die Kommission ihrer Hauptaufgabe, die Bekämpfung paramilitärischer Strukturen, vernachlässigt. Erst kurz bevor die Krise aufgrund der steigenden Morde an sozialen Aktivist*innen ihren Höhepunkt erreichte, ist die Kommission erneut zusammengetreten, jedoch kann sie die Kontinuität und Verlässlichkeit ihrer Arbeit nicht gewährleisten.
Mit Blick auf die Spezialeinheit der Staatsanwaltschaft, die mit der Konfrontation und der Bekämpfung krimineller Strukturen beauftragt ist, muss man berücksichtigen, dass der korrupte ehemalige Staatsanwalt Néstor Humberto Martínez durch den Missbrauch seines Amtes die Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft völlig untergraben hat. Daher gleicht diese heute einem ineffizienten Bürokratieapparat, der keinerlei Ergebnisse erzielt. Daher ist Leyner Palacios Einschätzung nicht nur richtig, sondern kann ebenso auf die im Friedensvertrag verankerten Handlungsleitlinien gegen paramilitärische Gruppen übertragen werden.
Kritik an der Regierung bringt erneut Menschen auf die Straßen
Besonders der rasante Anstieg der Morde an ehemaligen Kämpfer*innen der Guerilla und den Anführer*innen sozialer Bewegungen war Auslöser der zivilgesellschaftlichen Mobilisierung am 21. Januar dieses Jahres in insgesamt 103 Gemeinden des Landes. Die Proteste sind Teil eines landesweiten Generalstreikes, welcher seit dem 21. November 2019 anhält. Die Bewegung erlangte zwar nicht die gleiche Größe wie die Demonstrationen im Jahr 2019, dennoch markiert sie den Beginn einer neuen Protestbewegung. Tausende Demonstrant*innen füllten die Straßen und bekräftigten, sie werden nicht aufgeben. Das ist wichtig, denn bislang hat sich die Regierung nicht bereit erklärt, mit dem Nationalen Streik-Komitee zu verhandeln. Die Herausforderung besteht nun darin, die Protestbewegung aufrecht zu erhalten. Entscheidend ist daher die landesweite Versammlung am 30. und 31. Januar in der Hauptstadt Bogotá. Dort werden nicht nur die Inhalte der aktuellen Forderungen diskutiert, sondern auch neue Forderungen und Strategien ausgearbeitet werden. Dies sind neue, große Herausforderungen.
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