Die Indigenen und die neue Verfassung – ein schleppender Prozess

(Santiago de Chile, 1. Dezember 2020, Servindi/poonal).- Es ist einer der größten Makel der derzeit gültigen, nun im Referendum abgewählten Verfassung aus der chilenischen Militärdiktatur: Mehr als zwei Millionen Indigene – etwa 12,8 Prozent der chilenischen Bevölkerung – werden darin in ihrer Existenz und ihren Rechten nicht anerkannt. Mehrere Versuche, dies nach Ende der Diktatur 1990 zu ändern, schlugen fehl. Hinzu kommt, dass die Verfassung natürliche Ressourcen wie Wasser und Bodenschätze auf den Gebieten der indigenen Bevölkerung nicht schützt. Internationale Abkommen wie das Übereinkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und die Deklaration der Rechte indigener Völker der Vereinten Nationen wurden von rechten sowie linken Regierungen ignoriert.

Die Ausbreitung von Bergbau-, Holzwirtschafts-, Wasserkraft- und Aquakulturprojekten auf den Gebieten der Indigenen führten immer wieder zu sozialen Konflikten, Proteste dagegen wurden unterdrückt und verfolgt. Politisch werden die Indigenen nur von etwa 2,5 Prozent der Mitglieder im Kongress vertreten. Und auch ökonomisch wird die indigene Bevölkerung ausgegrenzt: Sieben von zehn der ärmsten Gemeinden Chiles befinden sich in der Region La Araucanía.

Widerstand gegen das Erbe der Diktatur

Bei den sozialen Protesten 2019, deren Hauptrollen Studierende, Arbeitende und Frauen spielten, war die indigene Bevölkerung zwar keine entscheidende Kraft. Doch ihre Flaggen – vor allem die der Mapuche – waren in den Demonstrationen allgegenwärtig. Sie wurden zu einem Symbol des Widerstands gegen die staatlichen Institutionen und das Erbe der Diktatur. Am 15. November 2019 unterschrieben Vertreter*innen verschiedener Parteien das „Übereinkommen über den sozialen Frieden und die neue Verfassung“. Die Proteste hatten einen Fahrplan für einen verfassungsgebenden Prozess erreicht.

Obwohl dieser sich durch die Pandemie verzögerte, hat er die Forderungen der Indigenen sichtbar gemacht. Sie umfassen unter anderem das Recht auf verhältnismäßige Repräsentation in der neuen Verfassung, sowie auf die Anerkennung ihrer Rechte und die Festschreibung eines plurinationalen Staates. Diese Forderungen sind nicht neu. Bereits im vergangenen Jahrzehnt hatten die Partei der Mapuche Wallmapuchen, die Bewegung Lafkenche, die Vereinigung der von Mapuche geführten Kommunen (AMCAM) und der Rat der Atacameños aus dem Norden Chiles für eine verfassungsgebende Versammlung geworben.

Reformen nach dem Vorbild anderer lateinamerikanischer Staaten

2016 und 2017 brachten die Indigenen ihre Forderungen in einem von der damaligen Regierung unter Michelle Bachelet eingeleiteten Verfassungsprozess ein. Zudem verlangten sie die Anerkennung ihrer Territorien, ihrer Rechte über natürliche Ressourcen und das Recht auf Selbstbestimmung. Sie drängten darauf, internationale Abkommen auf Verfassungsebene zu übertragen. Beeinflusst wurden die Forderungen der Indigenen auch von Reformen anderer lateinamerikanischer Staaten in den vergangenen Jahrzehnten, wie in Kolumbien 1991 sowie in Ecuador und in Bolivien 2009.

Aktuell gibt es unter den indigenen Gruppen in Chile jedoch keine einheitliche Position zum neuen Verfassungsprozess und ihrer politischen Partizipation im Allgemeinen. Selbst die Festschreibung indigener Rechte in der Verfassung habe in Staaten wie Ecuador „kein plurinationales Zusammenleben bewirkt“, kritisierte Aucán Huilcamán, Sprecher der Organisation Consejo de Todas las Tierras.

Andere Gruppierungen wie die Organisation Coordinadora Arauco Malleco, die sich für die Schaffung eines autonomen Mapuche-Staates in der Region La Araucanía einsetzt, bezeichneten die Partizipation der Indigenen am aktuellen Verfassungsprozess als einen kolonialen Prozess, der den Kampf für Autonomie ausbremse. Sie vertritt den Standpunkt, Selbstbestimmung sei nur unter Einsatz von Gewalt vor allem gegen die Holzwirtschaftsfirmen auf ihrem Gebiet zu erreichen.

Indigene Partizipation im Verfassungskonvent

Indigene Organisationen, darunter auch Mapuche, haben eine Reform angestoßen, um Sitze für ihre Repräsentant*innen im Verfassungskonvent zu schaffen, der im April 2021 gewählt wird. Im vergangenen März legten Gesetzgeber verschiedener Parteien in der Abgeordnetenkammer dafür einen Entwurf vor. Dieser schlug vor, dass der Anteil der Vertreter*innen der Indigenen im Verfassungskonvent dem im Zensus 2017 gezählten Bevölkerungsanteil entsprechen sollte. Wählen dürfe, wer sich selbst als Indigener identifiziere, hieß es. Andere schlugen die Wahl in geographisch eingegrenzten Gebieten vor. Auch die Vertretung aller indigenen Gruppen nach ihrem jeweiligen Anteil in der Bevölkerung, darunter auch der afrikanisch-stämmigen, die Kandidatur Indigener ohne Zugehörigkeit zu einer politischen Partei und Geschlechterparität wurden vorgeschlagen.

Die Abgeordnetenkammer stimmte Anfang 2020 für diese Reform und leitete sie an den Senat weiter, wo sie jedoch an der notwendigen Mehrheit von drei Fünfteln scheiterte. Deswegen soll das Projekt nun durch ein Komitee aus Mitgliedern des Nationalkongresses überprüft werden. Ob die Reform letztlich genehmigt wird, ist unklar.

Begleichung einer historischen Schuld

Von Seiten der Indigenen herrscht dafür kein Verständnis. Am 12. Oktober veröffentlichten mehr als 40 Organisationen einen offenen Brief als Antwort auf die „mangelnde Bereitschaft“ im Kongress. „Es ist an der Zeit, dass der chilenische Staat sich an die Umstände anpasst und den dringenden Forderungen der Völker, sowohl der Chilenen als auch der Mapuche, nachkommt“, hieß es darin. Es gehe darum, „eine historische Schuld an der indigenen Bevölkerung durch demokratische Mechanismen der Partizipation zu begleichen“.

Eine neue Verfassung bietet die Möglichkeit, einen historischen Konflikt anzugehen, der sich aktuell beschleunigt: Auf der einen Seite durch die staatliche Unterdrückung der Proteste, auf der anderen Seite durch die immer konfrontativere Antwort der indigenen Gemeinden und Organisationen, besonders der Mapuche. Nutzt Chiles Regierung diese Chance nicht, könnte dieser historische Konflikt eine drastische Wende nehmen und die Konfrontation über den Dialog zweier Bevölkerungsgruppen siegen, die dasselbe Territorium teilen.

Übersetzung: Laura Almanza

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