Der Chuquiago Boy gewinnt die Wahl

(La Paz, 20. Oktober 2020, bolpress).- Am 18. Oktober gewann MAS-Kandidat Luis Arce die Präsidentschaftswahlen. In der bolivianischen Politik ist er kein Unbekannter. Während der gesamten Dauer der Präsidentschaft von Evo Morales war Arce als Minister an der Regierung beteiligt, ausgenommen eine 18-monatige Periode zwischen 2017 und 2019, wo er sich aus gesundheitlichen Gründen vorübergehend aus der Politik zurückgezogen hatte. Als Spitzenpolitiker der MAS ist Arce derjenige, der die geringste Unterstützung seitens der Bevölkerung erhält: Zum einen ist er kein Indigener, und zum anderen stammt er aus der Hauptstadt (er wurde 1963 in La Paz geboren). Andererseits wird sein Name selbst von Angehörigen der Mittelschicht mit der wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung des Landes während der MAS-Regierung in Verbindung gebracht: Zwischen 2006 und 2019 verzeichnete die bolivianische Wirtschaft ein konstantes Wachstum von durchschnittlich 4,9 Prozent. Die Armut konnte um 42 Prozent gesenkt werden. Die Obdachlosigkeit ging sogar um 60 Prozent zurück. Zehn Jahre lang führte Arce das Wirtschaftsministerium.

Evo Morales hatte nach seinem Regierungsantritt im Januar 2006 verschiedene strukturelle Veränderungen eingeführt, die spürbare Auswirkungen auf die Dynamik der Wirtschaft des Landes hatten. Die Erlöse aus der Erdöl- und Erdgasförderung konnten dank der Verstaatlichung der Unternehmen im Öl- und Gassektor und der geänderten Vorschriften zu natürlichen Ressourcen fast um das Siebenfache gesteigert werden, wobei die Fördermengen lediglich verdoppelt wurden. Auch die Arbeitslosigkeit ging zwischen 2008 und 2019 von 7,7 Prozent auf 4,4 Prozent zurück, und die Investitionen gingen selbst in Krisenzeiten nicht zurück. Nach Ansicht einiger Analysten verdankt die Regierung Morales ihren Erfolg beim Versuch, Ungleichheiten in der Gesellschaft zu verringern, den begünstigenden Rahmenbedingungen: Die Rohstoffpreise stiegen, und das Volumen der natürlichen Ressourcen – hauptsächlich Öl und Gas – nahm zu. Wirklich ausschlaggebend war jedoch der neue wirtschaftspolitische Kurs des Landes.

Der “Chuquiago Boy”

Arce, Sohn eines Lehrerehepaars, ist diplomierter Wirtschaftswissenschaftler und absolvierte einen Master-Studiengang an der Universität Warwick (England). Seit seiner Studienzeit definierte sich Arce als Sozialist und schloss sich der Sozialistischen Partei an. Er war 19 Jahre lang Angestellter bei der Zentralbank und stets kritischer Betrachter der Regierungspolitik jener Zeit. Während der MAS-Regierung gelang es ihm des Öfteren, impulsive Entscheidungen des Präsidenten auszubalancieren, wie zum Beispiel bei der Verdoppelung der Beamtengehälter und der Enteignung der Vermögenswerte ausländischer Gasunternehmen im ersten Regierungsjahr.

„Karl Marx sagt: Um den Sprung zum Sozialismus zu schaffen, muss man die Produktivkräfte entwickeln. in diesem Stadium befinden wir uns gerade“, erklärte er 2014. Als Gegengewicht zur neoliberalen Weltsicht war 2011 das Neue Wirtschafts-, Sozial-, Gemeinschafts- und Produktionsmodell entstanden. Dazu Arce: „Dieses Modell soll den Übergang zum Sozialismus einleiten: Viele soziale Probleme werden schrittweise gelöst; dazu wird die wirtschaftliche Basis für eine angemessene Verteilung der Überschüsse geschaffen“. Es sei notwendig, „eine Übergangssituation zwischen dem kapitalistischen System und der sozialistische Gesellschaft aufzubauen, die die Bedingungen für den zukünftigen Sozialismus schafft“.

Innerhalb der neuen Regierung, die hauptsächlich aus Indigenen und sozialen Aktivist*innen bestand und in der politischen Basis fest verwurzelt war, vertrat Arce eine kleine Gruppe von Fachleuten, die in Anlehnung an die bekannten „Chicago Boys“ als „Chuquiago Boys“ bezeichnet wurden. Chuquiago ist in der Sprache der Aymara der Name für die Stadt La Paz.

Die Wahlschlappe der Rechten

Nachdem die Vertreter*innen der Diktatur von Jeanine Áñez und ihr Oberstes Wahlgericht die Bekanntgabe der Ergebnisse peinlich lange hinausgezögert hatten, ergab die rasche Auszählung der Stimmen schließlich, dass Luis Arce und mit 52,4 Prozent der Stimmen das Amt des Präsidenten und David Choquehuanca das des Vizepräsidenten Boliviens übernehmen werden. Der konservative Kandidat Carlos Mesa landete mit 31,5 Prozent auf den zweiten Platz, Rechtsaußen Fernando Camacho konnte lediglich 14,5 Prozent der Wähler*innen für sich gewinnen.

Der Wahltag verlief im Allgemeinen reibungslos, wenn auch allenthalben etwas angespannt ob der filmreifen Präsenz von Polizei und Militär. Das Ergebnis zeigte, dass eine deutliche Mehrheit das Narrativ der De-facto-Regierung ablehnt, das die Putschisten zu verbreiten versucht hatten. Weder die Militarisierung des Landes noch das provokative und gewalttätige Verhalten von Innenminister Murillo im Vorfeld hat der De-facto-Regierung irgendetwas genutzt. Anhänger*innen und Aktivist*innen der MAS wurden von ihm bis zum Schluss verfolgt und eine große Zahl der Wahlbeobachter*innen als „Subversive“ und „linke Bazillen“ diskreditiert.

Während des Wahlkampfs war es zu Drohungen seitens der De-Facto-Regierung und des Generalsekretariats der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), Betrugsvorwürfen und der Verbreitung von Falschnachrichten gekommen. Entsprechend groß war die Angst vor weiteren Unruhen, ähnlich denen nach den gescheiterten Wahlen vom Oktober 2019, die zum Sturz von Präsident Evo Morales führten.

Diesmal sendete OAS-Generalsekretär Luis Almagro bereits vor der endgültigen Stimmauszählung seine Glückwünsche an Arce und wünschte ihm eine erfolgreiche Regierungszeit auf der Grundlage der Demokratie. Mehrere lateinamerikanische Führungspersönlichkeiten reagierten empört: „Letztes Jahr gewann Evo die Wahl mit einem Vorsprung von 10 Prozent und wurde von Almagro des Betrugs bezichtigt! Nun hat die MAS mit 20 Prozent Vorsprung gesiegt, und was zeigt das? Der einzige Betrüger ist Almagro. Hätte er einen Funken Anstand – was er nicht hat – würde er von sich aus zurücktreten. Seine Unehrlichkeit hat die Demokratie untergraben und für viel Blutvergießen gesorgt. Jallalla Bolivien!“, schrieb der ehemalige ecuadorianische Präsident Rafael Correa. Der Quechua-Begriff Jallalla steht für Kraft und positive Energien. Vielleicht wäre „Vorwärts für das Leben“ in diesem Kontext eine treffende Übersetzung.

Auch De-facto-Präsidentin Jeanine Áñez gratulierte Luis Arce bereits vor der offizielle Bekanntgabe des Ergebnisses zu seinem Sieg: „Die endgültigen Zahlen liegen uns noch nicht vor, aber nach den bisherigen Daten können wir von einem Sieg der Herren Arce und Choquehuanca ausgehen. Ich gratuliere den Gewinnern und bitte sie, im Sinne Boliviens und der Demokratie zu regieren“, twitterte sie.

Das Land ist gespalten

Die Frage ist, ob sich die bolivianische Rechtsextreme diesmal mit dem Ergebnis abfinden und die Regierung in den Händen derjenigen belassen wird, die bereits im November 2019 die Parlamentswahlen gewonnen hatten und durch einen Staatsstreich gestürzt wurden. Es wird schwierig sein zu erreichen, dass auch die radikalsten, rassistischsten und sezessionistischsten Sektoren des Ostens das Ergebnis in seiner jetzigen Form akzeptieren. Die rechtsextreme militante Gruppierung der Cruceñistas hatte bereits deutlich gemacht, dass sie eher eine Spaltung des Landes akzeptieren würde als eine weitere MAS-Regierung. Luis Arce hingegen bekräftigte seinen Vorsatz, die Versprechen der Kampagne zu erfüllen: „Jetzt, wo das Wahlergebnis bekannt ist, möchten wir dem bolivianischen Volk (…) für seine Militanz danken. Wir haben wichtige Schritte unternommen, wir haben die Demokratie wiederhergestellt und unsere Hoffnung wiedergewonnen. (…) Wir wollen eine Regierung für alle Bolivianer*innen sein und betrachten es als unsere Verpflichtung, uns für die Umsetzung unseres Regierungskonzepts einzusetzen, unsere Einheit zu stärken und die Wirtschaft des Landes wieder in Schwung zu bringen. Wir werden unseren Veränderungsprozess neu ausrichten und dem Hass keinen Raum lassen. Auch wir haben dazugelernt und werden unsere Fehler überwinden“.

Mit den Ergebnissen dieser Wahl scheint den Verantwortlichen für die Massaker von Sacaba und Senkata eine Welt zusammengebrochen zu sein. Nun bleibt ihnen nichts anderes übrig als zu fliehen oder sich darauf vorzubereiten, dass sie unter der neuen Justiz doch noch für ihre Verbrechen gegen die Menschheit zur Rechenschaft gezogen werden.

Ein klarer Sieg, doch keine leichte Aufgabe

Luis Arce konnte in La Paz einen Stimmanteil von 65,3 Prozent der Stimmen und in Cochabamba 63 Prozent erzielen. Mesa gewann in Potosi, Chiquisaca, Tarija und Beni, Camacho in Santa Cruz, der Heimstatt der rechtsradikalen Cruceñistas.

Evo Morales feierte den Wahlsieg seiner Partei in Buenos Aires, wo er sich im Exil befindet. Von dort aus erklärte er, sein Volk habe mit diesem Wahlergebnis eine Lektion in Demokratie und Beharrlichkeit erteilt. Morales, der im vergangenen Dezember nach dem Staatsstreich nach Buenos Aires ging und nun als politischer Flüchtling lebt, erklärte, er sei stolz auf sein Volk, denn es habe sich nicht von den zahlreichen Provokationen beeindrucken, sondern das demokratische Prinzip über das Schicksal Boliviens habe entscheiden lassen, so dass der MAS nun in beiden Kammern der Gesetzgebenden Versammlung mit einer Mehrheit vertreten sein werde.

Tatsächlich steht der neuen Regierung keine leichte Aufgabe bevor, da sich das Land nach der einjährigen Diktatur in einem desaströsen Zustand befindet. Der wichtigste Schritt ist jedoch bereits getan: Mit Hilfe einer demokratischen Abstimmung wurde eine blutrünstige und korrupte Diktatur zu Fall gebracht.

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Eine Antwort zu “Der Chuquiago Boy gewinnt die Wahl”

  1. […] Boliviens neuer Präsident Luis Arce hat das Militär um Kooperation bei der Aufklärung der gewaltsamen Unruhen nach dem Rücktritt der Regierung von Evo Morales aufgefordert. „Ich möchte den Streitkräften ganz ehrlich sagen, dass es nicht möglich ist, der Gerechtigkeit zu entgehen“, schrieb er am Montag auf Twitter. Im November 2019 waren im Stadtviertel Senkata in El Alto und der Stadt Sacaba 35 Menschen bei Demonstrationen gegen den Regierungswechsel ums Leben gekommen. Arce warf der Übergangsregierung unter Jeanine Áñez vor, sie habe „das Militär missbraucht, als sie es gegen das bolivianische Volk einsetzte“, wie das Nachrichtenportal Erbol berichtete. […]

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