(Mexiko-Stadt, 23. August 2023, La Jornada).- In seinem ersten Interview als künftiger Präsident Guatemalas mit einem Printmedium erklärt Bernardo Arévalo gegenüber ‚La Jornada‘, dass in der aktuellen Situation der institutionellen Korruption und der enormen Ungleichheit „das Revolutionärste darin [besteht], die Demokratie wiederherzustellen“. Das mache ihm auch bewusst, dass „der Kampf gegen die Korruption zwar am dringendsten ist. Aber das Wichtigste ist für Entwicklung zu sorgen. Wir können die großen Lücken in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Ernährung, die im Land bestehen, nicht schließen, solange die politischen Institutionen nicht wiederhergestellt sind“.
Dabei räumt er ein, dass in vier Jahren Präsidentschaft gerade einmal die Grundlagen für einen Wandel geschaffen werden können: „Vier Jahre werden nicht 400 Jahre Marginalisierung und 30 Jahre Angriffe auf öffentliche Einrichtungen ungeschehen machen, aber wir können die Grundsteine dafür legen“. Er vermeidet die Verwendung der traditionellen Definitionen von Politik: links oder rechts, konservativ oder progressiv. „Unsere Partei, Movimiento Semilla, ist eine progressive Partei. Aber die Herausforderung besteht jetzt darin, die Institutionen wieder aufzubauen und zu einem großen Konsens zurückzukehren.“
Mit der Wahl des sozialdemokratischen Diplomaten und Akademikers zum Nachfolger des derzeitigen Präsidenten Alejandro Giammattei hat Guatemala erneut die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sich gezogen. Auf die Frage, wie sich sein Land in den lateinamerikanischen Kontext einfügt, der sich ständig zwischen Fortschritt und Rückschritt bewegt, stellt Arévalo fest, dass diese Pendelbewegung daran liegt, „dass die Grundkonsense verwässert wurden, es eine deutliche Polarisierung gibt und die repräsentative Demokratie nicht mehr ausreicht. Wir brauchen einen Prozess der partizipativen Demokratie“.
Zwei Tage nach der gewonnenen Wahl ist schon vor dem Mittagessen sein Sakko zerknittert. Zum Interviewtermin in der bescheidenen Wahlkampfzentrale erscheint er mit einer jugendlichen Energie, mit seinen bunten Socken und handgemachten Armbändern.
„Ich bin nicht mein Vater“
Zwei Wochen vor den Wahlen, auf einer Wahlkampftour durch Escuintla im Süden des Landes, kam Bernardo Arévalo durch Texisco, die Heimat seines Vaters, und legte einen Halt auf dem Friedhof ein. Vor dem Grab von Juan José Arévalo [erster demokratisch gewählte Präsident Guatemalas, 1945 bis 1951] blieb der damalige Präsidentschaftskandidat etwa fünfzehn Minuten lang schweigsam stehen und berührte schließlich den Grabstein mit beiden Händen.
In der Abschlussrede seines Wahlkampfs sagte er zur Menge: „Ich bin nicht mein Vater“, wobei er betonte, dass ihn dessen Ideale und Werte inspirieren.
La Jornada: Zwei Momente, ein Name. In den 1940er Jahren der sogenannte demokratische Frühling, die Oktoberrevolution. Und jetzt stehen Sie an der Schwelle zur Präsidentschaft. Wie sehen Sie diese beiden Momente?
Arévalo: Mit allen Unterschieden. Guatemala verließ gerade erst einmal das 19. Jahrhundert, als die Oktoberrevolution stattfand. Tatsächlich begann das 20. Jahrhundert in Guatemala erst 1944 (als Juan José Arévalo gewählt wurde) und in den 10 Folgejahren. Es war eine andere Welt. Eine völlig andere Gesellschaft. Heute ist es ein anderes Land und ein anderes Volk. Aber wir schleppen immer noch die Probleme des 20. Jahrhunderts mit uns herum, obwohl wir uns bereits im 21. Jahrhundert befinden. Es gibt ein weitreichendes Echo aus dieser Zeit.
Wir haben die Aufgabe, eine solide Demokratie aufzubauen, die das Wohlergehen der Bevölkerung garantiert, noch immer nicht gelöst. Das war damals schon die Vision. Heute sind die Herausforderungen aber andere. Jemand hat mich gefragt, warum wir keine Agrarreform durchführen werden. Die Antwort ist, dass die Agrarreform eine Lösung für ein Land war, das gerade aus dem vorigen Jahrhundert kam. Heute ergibt sie keinen Sinn mehr. Die Probleme sind anders, und die Lösungen auch.
LJ: Auch wenn das Problem der Landkonzentration in den Händen weniger weiterbesteht?
Arévalo: Ja, diese Verhältnisse gibt es noch, aber wir sind kein Agrarland mehr. Die Lösung muss breiter angelegt sein. Natürlich werden wir denjenigen Menschen Land geben, die es nicht haben und es haben wollen. Aber wir werden dies im Rahmen der Möglichkeiten tun, die in den Friedensverträgen (1996 unterzeichnet) festgelegt wurden. Die Eliten haben diese Abkommen gekapert und korrumpiert, aber sie enthalten Mechanismen, um dies möglich zu machen.
LJ: Im Vergleich zur Woche vor der Wahl erscheint Ihnen der Weg zu Ihrem Amtsantritt am 14. Januar nun geebnet, oder?
Arévalo: Wir wissen nicht, was noch passieren wird, aber das deutliche Abstimmungsergebnis erschwert jeglichen Versuch einer illegalen politischen Verfolgung. Und das nicht nur wegen der Anzahl an Stimmen, sondern auch wegen der Begeisterung der Bevölkerung, die auf den Straßen zu sehen war, und der Art und Weise, wie das Ergebnis anerkannt wurde.
„Die Korruption aus der Exekutive heraus bekämpfen“
LJ: Zentrales Wahlkampfthema war die Korruptionsbekämpfung. Wie werden Sie vorgehen?
Arévalo: Der Kampf gegen die Korruption ist eine Aufgabe, die dem systemischen Charakter der Kooptation des Staates und dem Eindringen der Korruption in die Gesellschaft gerecht werden muss und über den Staat hinausgeht. Das Ausmaß der korrupten Kooptation des Staates in Guatemala ist heute so groß, dass es unmöglich ist, sie in vier Jahren zu beenden. Aber wir können damit beginnen, einige solide Grundlagen zu schaffen.
Die Korruption hat eine gesetzgeberische Dimension, eine Dimension, die die Exekutive und sogar Angelegenheiten der öffentlichen Kultur miteinschließt. Eines unserer Hauptprobleme ist das Ausmaß, in dem die Gesellschaft die Korruption verinnerlicht hat. Oft ist sie direkt daran beteiligt, weil diese Naturalisierung das erst möglich macht.
Wir werden sie von der Exekutive aus und mit politischem Willen bekämpfen, und daran hat es in den letzten 30 Jahren gemangelt. Oft bestand das Ziel der politischen Kandidaturen darin, an die Macht zu kommen, um Korruption auszuüben, nicht um zu regieren.
Das heutige Korruptionssystem ist im Wesentlichen um illegale Geschäfte herum strukturiert, die mit dem Budget für öffentliche Bauvorhaben des Staates zu tun haben. Der Zapfhahn dieses Haushalts liegt in den Händen der Exekutive. Wir werden diesen Hahn zudrehen und das Öl aus dem Getriebe entfernen: Ohne dieses Öl wird das Getriebe anfangen zu stocken.
LJ: Ein weiterer Arm der Korruption erstreckt sich in die Justiz: Was wird mit Generalstaatsanwältin Consuelo Porras und Staatsanwalt Rafael Curruchiche geschehen?
Arévalo: Für mich ist ganz klar, dass Staatsanwalt Curruchiche und Richter Fredy Orellana nicht die Hauptakteure sind, sondern diejenigen, die Befehle auf einem Schachbrett ausführen. Dort gibt es viel größere Figuren, und viele dieser größeren Figuren sind in der Exekutive. Das wird nun aufhören.
Einer der Faktoren, die diesen Prozess der politischen Verfolgung begünstigt haben, rührt von den Anweisungen her, die von anderswo kommen. Die Exekutive wird nicht mehr in den Händen dieser kriminellen politischen Gruppe sein.
„Große Lücken in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Ernährung“
LJ: Dreißig Jahre nach dem offiziellen Ende des Bürgerkrieges warten Tausende von Opfern immer noch auf Antworten, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung. Hat Ihre Regierung Vorschläge, wie man mit ihnen und der Erinnerung an diese Zeit umgeht?
Arévalo: Wir sind bereit, allen Menschen in Guatemala zuzuhören. Es bestehen keine Vorbehalte gegen einen Dialog mit den Gruppen, die sehr spezielle Auffassungen bezüglich der systematischen Verletzung ihrer Rechte während des Konflikts haben, und der Art und Weise, gewisse Erinnerungen anzusprechen, die für den Prozess der Annäherung und Koexistenz wichtig sind.
Die Konfrontation mit diesen Ebenen des systemischen Missbrauchs und den Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist ein langwieriger Prozess, und Fortschritte werden in dem Maße erzielt, in dem sich der Rest der Gesellschaft weiterentwickelt.
LJ: Hat Ihre Regierung in Bezug auf die Übergangsjustiz einen konkreten Vorschlag, um die noch offenen Wunden zu schließen?
Arévalo: Was wir jetzt brauchen, ist die Gewährleistung der Bedingungen für ein friedliches und angstfreies Zusammenleben aller Bevölkerungsgruppen und gleichzeitig die Gewährleistung des Rechts auf Entwicklung, das letztlich der Grund für all das ist, was geschehen ist. Wir müssen etwas gegen die Vernachlässigung und Marginalisierung dieser großen Teile der Bevölkerung unternehmen.
LJ: Welche politischen Maßnahmen zur Armutsbekämpfung können bei einem so großen Ungleichheitsgefälle greifen?
Arévalo: Tatsache ist, dass wir die großen Lücken in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Ernährung im Land erst dann schließen können, wenn die politischen Institutionen wiederhergestellt sind. Deshalb ist der Kampf gegen die Korruption sehr dringend.
Unser Regierungsplan hat konkrete Ziele festgelegt, um diese Defizite zu beseitigen. Wir müssen damit beginnen, die am stärksten vernachlässigten Gebiete des Landes zu unterstützen. Dies kann uns gelingen indem wir öffentliche Investitionen mit sehr konkreten Plänen in die Infrastruktur, das Gesundheitswesen, die Bildung und die Unterstützung der Erzeuger in den am stärksten vernachlässigten Gebieten des Landes in Verbindung mit einem Prozess der Straßeninvestitionen ausrichten.
LJ: Mit dem Wahlsieg steht Guatemala wieder im internationalen Rampenlicht und weckt viele Erwartungen. Gerade in Lateinamerika schwingt das politische Pendel hin und her, mit fortschrittlichen Regierungen gibt es auch Rückschläge, Instabilität und sogar Staatsstreiche.
Arévalo: Das geht über die regionale Ebene hinaus. In der ganzen Welt gibt es gefestigte Demokratien mit ungelösten Problemen. Diese zwingen uns dazu, darüber nachzudenken, wie wir die Demokratie stärken können, damit sie ihren Zielen und Grundsätzen treu bleibt.
Und ja, in Lateinamerika schwingt das Pendel hin und her. Diese Tatsache bringt die Notwendigkeit mit sich, bestimmte soziale Grundkonsense, die verwässert wurden, wiederherzustellen. Es gibt eine Polarisierung, die durch eine sehr große Unzufriedenheit gekennzeichnet ist. Wir sind repräsentative Demokratien, aber das reicht nicht mehr aus, um die Probleme der Staatsschwäche zu lösen. Sie müssen durch eine partizipatorische Demokratie ergänzt werden, damit das Volk an der Entscheidungsfindung teilhat. Wir müssen ein Gleichgewicht zwischen den Parteien schaffen, denen es nie gelingt, wirksam zu vermitteln.
„Das Revolutionärste in diesem Moment ist die Wiederherstellung der Demokratie“
LJ: Wie passt diese Idee der partizipativen Demokratie zu den traditionellen Konzepten von rechts, links, konservativ, reformistisch?
Arévalo: Was das Land im Moment braucht, ist die Wiederherstellung der Institutionalität. Und dann, ja, müssen wir die Grundregeln festlegen, auf deren Basis wir ideologische Diskussionen führen können. Die Strategie, die in Guatemala verfolgt wurde, um die Bevölkerung abzulenken, sind diese Diskussionen zwischen links und rechts. Daran war die Bevölkerung nicht beteiligt. Die wahren Ziele sind meiner Meinung nach der Kampf gegen den Hunger, für Gesundheit und Bildung. Und der Einsatz für Demokratie und gegen Korruption. Wir sind eine progressive Partei, aber wir verstehen, dass die Herausforderung jetzt darin besteht, die Institutionen wieder aufzubauen und den großen Konsens wiederherzustellen. In diesem Moment ist es das Revolutionärste, die Demokratie wiederherzustellen.
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