Ohne Öffnung der Diktatur-Archive keine vollständige Wahrheit

von IHU – Unisinos Instituto Humanitas Unisinos

(Fortaleza, 02. September 2011, adital/poonal).- Marlon Alberto Weichert ist Bundesstaatsanwalt in São Paulo. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich mit Menschenrechtsfragen und Verbrechen der brasilianischen Militärdiktatur. Im Interview spricht er über den Umgang seines Landes mit der Militärdiktatur der Jahre 1964 bis 1985.

 

2008 klagte Weichert sein eigenes Land vor der Menschenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) in Washington an und Ende Neunziger Jahre trieb Weichert als Staatsanwalt die Suche nach den sterblichen Überresten von gewaltsam Verschwundenen voran.

 

Im Jahr 2001, vor zehn Jahren, entstand auf Initiative des brasilianischen Justizministeriums die Amnestie-Kommission. Was war der Hintergrund?

Marlon Alberto Weichert: Die Amnestiekommission geht auf eine Bestimmung der brasilianischen Verfassung aus dem Jahr 1988 zurück, wonach der Staat all jene finanziell entschädigen sollte, die infolge von Ausnahmezuständen, welche die brasilianischen Regierungen ab 1946 verfügten die, Gewalt erlitten haben.

Das heißt, die Amnestiekommission befasst sich auch mit Geschehnissen weit vor der Militärdiktatur, die erst 1964 begann. Der Name muss allerdings mit Vorsicht betrachtet werden, denn Aufgabe der Kommission war und ist es, den Schaden wieder gut zu machen, der Verfolgten durch Handlungen des Staates entstanden war. Insofern geht es also nicht um Amnestie, wie der Name vermuten ließe.

 

Welche Bilanz der Arbeit der Amnestie-Kommission würden Sie ziehen?

Marlon Alberto Weichert: Obwohl die Kommission ins Leben gerufen wurde, um finanzielle Wiedergutmachung zu betreiben, ist es dem Justizministerium – vor allem in den vergangenen Jahren – gelungen, der Arbeit der Kommission eine sehr viel größere Dimension zu verleihen. Dies geschah, indem sie auch moralische Wiedergutmachung anstieß und sich durch ihr Handeln als ein Instrument zur Förderung des Erinnerns erwies.

 

Wie viele Prozesse moralischer und finanzieller Wiedergutmachung wurden abgeschlossen?

Marlon Alberto Weichert: Etwa 50.000 Prozesse. Das Gesetz legte kein Datum fest, bis zu dem Betroffene Wiedergutmachung fordern können. 20.000 Prozesse sind noch anhängig.

 

Mit welchen Problemen war die Amnestie-Kommission in Ausübung ihrer Tätigkeit konfrontiert?

Marlon Alberto Weichert: Das größte Problem stellt die Voreingenommenheit einiger konservativer Teile der brasilianischen Zivilgesellschaft dar. Sie tun sich schwer damit, dass der Staat zugeben könnte, dass er Menschen in großem Stil Schaden zugefügt hat ‒ und nun auch noch anerkennt, dass er dafür Wiedergutmachung betreiben muss.

 

Wie schätzen Sie das brasilianische Amnestiegesetz aus dem Jahr 1979 ein?

Marlon Alberto Weichert: Das Gesetz befasst sich vor allem mit dem strafrechtlichen Aspekt und auch mit Auswirkungen der Verfolgung von im öffentlichen Dienst Beschäftigten. Im Fokus des Amnestiegesetzes aus dem Jahr 2002 steht die Wiedergutmachung für in der Vergangenheit erlittene Schäden.

Das Gesetz von 1979 bezog die Vertreter*innen des Staates nicht mit ein und konnte sie von daher auch nicht schützen in Bezug auf die verschiedenen Menschenrechtsverletzungen, die sie während der Diktatur begingen. Diese Auffassung machte sich Brasiliens Oberster Gerichtshof allerdings nicht zu eigen – im Unterschied zum Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte, der Ende 2010 ein Urteil sprach. Gemäß diesem Urteil konnten brasilianische Parlamentsabgeordnete, selbst wenn sie es gewollt hätten, keine gesetzliche Vergebung für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und schwere Menschenrechtsverletzungen festlegen.

 

Was erschwert Ihrer Meinung nach die Öffnung der Archive der brasilianischen Militärdiktatur und den Dialog mit unserer Vergangenheit ‒ im Unterschied zu anderen lateinamerikanischen Ländern?

Marlon Alberto Weichert: Die Erschwernis besteht darin, dass es innerhalb des brasilianischen Staates noch immer einige Räume gibt, die sich nicht von den Prinzipien des demokratischen Rechtsstaates haben überzeugen lassen. Von hier aus wird Widerstand dagegen geleistet, dass das brasilianische Volk ein Recht darauf hat, von seiner Geschichte zu erfahren – was ja auch eine wesentliche Voraussetzung für das Funktionieren der demokratischen Institutionen ist.

Noch immer bestehen in Brasilien einige autoritäre Enklaven, die sich der Verbesserung der brasilianischen Gesellschaft widersetzen. Sie sind es, die dafür sorgen, dass die Archive fest verschlossen bleiben und somit verhindern, dass das notwendige Nachdenken einsetzt sowie die Selbstkritik jener Institutionen ‒ dahingehend, dass nachgefragt wird, weshalb sie damals so und nicht anders handelten.

 

Sind die von Ihnen angesprochenen konservative Kreisen die Militärs? Üben diese noch immer eine starke Macht in der brasilianischen Gesellschaft aus?

Marlon Alberto Weichert: Ich würde nicht sagen, dass es auschließlich militärische Kreise sind, aber zweifellos verwendet der gesamte Sicherheitsapparat des brasilianischen Staates noch immer Kulturen und Praktiken, wie sie für die Militärdiktatur typisch waren und mit der Verfassung von 1988 unvereinbar sind.

Man muss sich vor Augen führen, dass das Militärstatut noch aus der Zeit der Diktatur stammt: Die Prinzipien hinsichtlich der Disziplin, die Kampfkulturen, die Militärdogmatik – all das gilt noch heute. Wir sehen also wenig Selbstkritik der brasilianischen Streitkräfte bezüglich dessen, was die Militärdiktatur ausmachte. Es wäre wichtig, dass diese Institution zu einer Selbstreflexion käme. Das Ausbleiben dieser Übung belegt eine Unfähigkeit, über das neue Wertemuster nachzudenken, das wir in Brasilien seit 1988 haben.

In der Praxis zeigt sich dies bei der Frage nach der Öffnung der Archive. Bis heute haben die Informationsdienste von Heer, Marine und Luftwaffe nicht die Dokumente aus ihrem Besitz übergeben, welche über die Situation der Organe des Unterdrückungsapparats während der Militärdiktatur Auskunft geben. Das verhindert eine vollständige Kenntnis der Geschichte, vor allem aber werden den Opfern wichtige Beweise für die Gewalt vorenthalten, die sie erlitten.

 

Wie beurteilen Sie die Haltung der Regierung von Dilma Rousseff hinsichtlich einer Öffnung der Geheimarchive der Diktatur? Was würden Sie sich von einer Öffnung dieser Archive versprechen?

Marlon Alberto Weichert: Das ist eine Entscheidung, welche die Präsidentin gemeinsam mit den militärischen Oberbefehlshabern treffen muss. Ich denke nicht, dass der politische Lebensweg von Dilma Rousseff [Anmerkung von poonal: Rousseff gehörte im Widerstand gegen die Militärdiktatur einer Guerilla-Gruppe an und war selbst mehr als zwei Jahre lang inhaftiert] Einfluss daraufhaben wird, ob die Archive geöffnet werden oder nicht. Denn heute ist sie die Präsidentin und nicht mehr eine Aktivistin, wie Anfang der Siebziger Jahre.

Grundsätzlich sollte jeder Präsident Brasiliens sich so stark wie möglich für die Freigabe von Informationen einsetzen, die von gesellschaftlichem Interesse für sind. Dabei spielt die persönliche Vita jedes Einzelnen keine Rolle.

 

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