Oberstes Gericht setzt Begnadigung für verurteilte Polizisten aus

(Rio de Janeiro, 17. Januar 2023, Brasil de Fato).- Als eine der letzten Maßnahmen seiner Regierung unterschrieb der rechtsextreme Ex-Präsident Jair Bolsonaro die traditionelle Weihnachtsbegnadigung.  In seinem letzten Regierungsjahr sollten Polizeibeamte von der Regelung profitieren, die an dem Tod von 111 Häftlingen im Zuge  von Unruhen im Carandiru-Gefängnis in São Paulo am 2. Oktober 1992 beteiligt gewesen waren. Am 16. Januar 2023 jedoch hat der brasilianische Oberste Gerichtshof eine Entscheidung seiner Präsidentin Rosa Weber veröffentlicht, in der die Begnadigung per einstweiliger Verfügung teilweise ausgesetzt wurde. Diese ist gültig, bis Minister Luiz Fux die Angelegenheit analysiert hat. Unabhängig davon muss die Entscheidung auch das Plenum des Obersten Gerichtshofs durchlaufen.

Den Fall verstehen

Das Massaker von Carandiru jährte sich letztes Jahr zum 30. Mal. Damals galt der vorsätzliche Mord (homicídio qualificado), für den die Polizeibeamten verurteilt worden waren, nicht als crime hediondo, also als „abscheuliches Verbrechen“ [zu den „abscheulichen Verbrechen“  zählen unter anderem Folter, Terrorismus und Erpressung mit Todesfolge. Diese Verbrechenskategorie ist von der Begnadigung oder Amnestie, von Kautionsregelungen oder vorläufigen Freilassung ausgenommen. Anm. d. Übers.]. Die Rechtsauffassung änderte sich jedoch 1994, als die Ermordung einer bekannten brasilianischen Schauspielerin durch ihren damaligen Kollegen großen öffentlichen Druck ausgelöst hatte. Deswegen erklärte der Generalstaatsanwalt der brasilianischen Republik Augusto Aras in seinem  Antrag an den Obersten Gerichtshof, dass die Autoren des Massakers nicht begnadigt werden dürften, da die von ihnen begangenen Verbrechen zur Zeit der Veröffentlichung des Begnadigungsdekrets bereits als crime hediondo galten. Bei der Bewertung des Antrags des PGR entschied Rosa Weber, Teile des Begnadigungsdekrets auszusetzen, um Rechtssicherheit zu gewährleisten. Mit ihrer Entscheidung folgte Weber dem Druck internationaler Organisationen wie der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (IACHR), die eine gerechte Beurteilung des  Falls und eine angemessene Bestrafung der Verantwortlichen forderten.

Das Massaker von Carandiru

Unter dem Vorwand, eine Rebellion einzudämmen, kam es am 2. Oktober 1992 in der Haftanstalt Carandiru in São Paulo zu einem Polizeieinsatz, der mit 111 Toten endete.

Die Strafen für die 74 an dem Massaker beteiligten Militärpolizisten variieren zwischen 48 und 624 Jahren Gefängnis. Die Urteile wurden erst in den Jahren 2013 und 2014 gesprochen. Der Gerichtshof des Bundesstaats São Paulo setzte jedoch das Verfahren im Jahr 2018 aus, da er der Ansicht war, dass die Verurteilung  der Polizisten den vorgelegten Beweisen widersprach. Im Juni 2021 hatte Bundesrichter Joel Ilan Paciornik die Verurteilung der Militärpolizisten wieder in Kraft gesetzt; seine Entscheidung wurde im August 2022 bestätigt.

Der im November 2022 verstorbene ehemalige Gouverneur von São Paulo, Luiz Antônio Fleury Filho, erklärte hingegen vor Gericht, er habe die Invasion zwar nicht angeordnet, halte die Maßnahme aber für „legitim und notwendig“ und hätte sie auch genehmigt, wenn er konsultiert worden wäre.

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