Eine Pandemie des Verschwindenlassens

(Mexiko-Stadt, 2. Juni 2020, desinformémonos).- Angehörige von Verschwundenen leben in Angst und Verzweiflung – besonders jetzt, wo sie für lange Zeit zuhause zu bleiben müssen und gezwungen sind, auf den Einsatz neue Suchtrupps zu warten. Der Zwang, zuhause zu bleiben, löst Unsicherheit, Beklommenheit und Furcht aus. Trauer, Schmerz und Hilflosigkeit sind überall präsent und der Gedanke an den Tod rückt immer mehr in das Leben der Familien von Verschwundenen – auch wenn diese Art des Todes nicht ansteckend ist.

Die Nationale Kommission des Innenministeriums (Segob), welche für die Suche vermisster Personen zuständig ist, gibt an, dass zurzeit 61.637 Personen in Mexiko als vermisst gelten. Weiterhin wird die Zahl inoffizieller Gräber auf 631 geschätzt und der forensische Dienst geht von mehr als 30.000 nicht identifizierten Leichen aus.

In Mexiko wütet eine grausame Pandemie und es ist nicht COVID-19; es ist eine Pandemie des Verschwindenlassens, meint Karla Salazar Serna, Doktorandin der Philosophie der Sozialarbeit mit Schwerpunkt auf vergleichender Sozialpolitik am Regionalzentrum für multidisziplinäre Forschung (CRIM) der UNAM.

Familien und Behörden stehen vor großen Herausforderungen

Die Wissenschaftlerin erläutert die Herausforderung der Familienangehörigen von Verschwundenen, psychisch mit der Situation zurecht zu kommen, trotz der anhaltenden Ungewissheit und der ständigen Frage, wo ihre Familienmitglieder sind. Weiter erklärt sie, dass auch die mexikanischen Behörden vor einer großen Herausforderung stehen, denn es fehlt an institutionellen Kapazitäten für eine effektive Suche sowie forensische Untersuchung und Aufklärung. „So sind es die Angehörigen selbst, welche die Vermissten suchen und Brigaden organisieren.“

Frauen, in deren Familien Personen verschwunden sind, leben in Verzweiflung und Angst, besonders wenn sie gezwungen sind für lange Zeit zuhause zu bleiben und warten müssen, bis die Suche fortgeführt wird. Doch das Warten und die Hilflosigkeit schaden auch ihrer körperlichen Gesundheit, sodass sie aufgrund der Situation Krankheiten wie Diabetes und Bluthochdruck entwickeln. „Diese häusliche Gefangenschaft führt zu einer großen Unruhe, die sich auf die körperliche Gesundheit der Frauen ausgewirkt. Der momentane Stillstand ist tragisch für sie, denn nach ihren Kindern zu suchen ist ihre einzige Hoffnung und hält sie am Leben. Für sie ist die Suche wie das Wasser, das jeder Menschen zum Leben braucht – es ist unentbehrlich.“

Ermittlungen nun auch virtuell

Inzwischen hat sich die Suche auch in den virtuellen Raum verlagert, erklärt die Expertin. Denn den Behörden ist es durchaus möglich auch in Zeiten der Pandemie die Suchen nach den vermissten Personen fortzuführen, besonders angesichts der Sorge und Verletzlichkeit der Frauen.

Die Beamt*innen können die Akten der Vermissten überprüfen und aktualisieren, besonders in den Fällen, wo Unklarheiten vorliegen. Auch virtuelle Vernehmungen potenzieller Zeug*innen sowie die Überarbeitung und Ausbesserung der Datenbank sind möglich. „Um mehr als nur politischen Willen zu zeigen, muss das Problem gemeinsam angegangen werden und es bedarf gut strukturierter und organisierter Aktionen.“

Die Suche nach den eigenen Angehörigen wird zur Suche aller Verschwundenen

Die Angehörigen der Verschwundenen haben sich nicht in eine Opferrolle zurückgezogen, sondern in Gruppen zusammengeschlossen. Jeder Schritt, der sie näher zu ihren vermissten Familienmitgliedern bringt, ist wie Balsam für ihre Seele und hilft ihnen, weiterzukämpfen. „Aus der Suche nach ihren eigenen Angehörigen ist inzwischen eine Suche nach allen Verschwundenen geworden. Die Frauen wollen verhindern, dass das was ihnen widerfahren ist auch anderen passiert.“

Der gesundspolitische Ausnahmezustand ist aber auch eine Gelegenheit, über die schwerwiegenden Probleme nachzudenken, über die sonst niemand spricht: „Wir alle können in diesem Land verschwinden, denn die Gewalt hält weiterhin an. Diese Verletzlichkeit unserer Gesellschaft können wir nur mit Solidarität, Empathie und Mitgefühl lindern. In Zeiten der Corona-Pandemie sollten wir nicht diejenigen vergessen, die mit noch größeren Problemen konfrontiert sind. Jetzt ist die perfekte Gelegenheit, um eine starke Gemeinschaft zu schaffen.“

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