Der Konflikt im Chocó

von Emma Gascó und Martín Cuneo*

(Quibdó, 09. Januar 2014, otramérica).- Der Chocó im Nordwesten Kolumbiens ist eine jener Provinzen, in denen sich der Konflikt zwischen Guerilla und Paramilitärs, aber auch zwischen multinationalen Unternehmen und einheimischer Bevölkerung mit größter Gewalt zeigt. Der Chocó liegt am Pazifik ist kaum mit dem Rest des Landes verbunden. Der Großteil des Gebietes gehört indigenen und afrokolumbianischen Gemeinschaften, sie besitzen gemeinschaftlich 90 Prozent davon. Hier sind zwei Geschichten von der Realität im Chocó: Sie erzählen von Delis Palacios Herrón, einem der Opfer des Bojayá-Massakers im Jahr 2002; sowie vom Widerstand der indigenen Völker der Embera gegen das US-amerikanische Bergbauunternehmen Muriel Mining Corporation.

Von Einheimischen, zu „MigrantInnen“, zu Vertriebenen

Ende April 2002 begannen die Kämpfe zwischen der Guerilla Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens FARC und den paramilitärischen Gruppen in der Gemeinde Bojayá. Diese Gemeinde ist Teil der Vereinigung der Gesamten Bauernschaft des Atrato ACIA (Asociación Campesina Integral del Atrato) und gehört zu den gemeinschaftlich genutzten Gebieten der afrokolumbianischen Gemeinden. Am 2. Mai flüchteten hunderte Personen vor den Gewehrsalven und Bombardements in ein Kirchengebäude von Bellavista. Die Kirche war überfüllt von Menschen, die Schutz und göttlichen Beistand suchten. Doch eine Bombe der FARC traf mit voller Kraft den Tempel. Laut Nachforschungen der Gruppe der Historischen Erinnerung (Grupo de Memoria Histórica) starben durch diesen Angriff 87 Personen.

Auch Delis Palacios Herrón befand sich am 2. Mai 2002 in der Kirche; 34 ihrer Familienmitglieder starben, sie selbst wurde verletzt. Jetzt vertritt sie die Vereinigung der Vertriebenen vom Zweiten Mai (Asociación de Desplazados Dos de Mayo) und sitzt sie in der Diözese von Quibdó, der Hauptstadt des Departments Chocó am Ufer des Flusses Atrato. Sie sagt: „Wir haben beschlossen, nicht nach Bojayá zurückzukehren und in Quibdó bleiben; 280 Familien die nicht mehr zurückgehen“.

Seit dem Juni 2011 stehen die Opfer der Kämpfe, der Vertreibung und des Landraubs theoretisch unter dem Schutz des Opfergesetzes (Ley de Víctimas). Das betrifft die Opfer von Bojayá ebenso wie jene Gemeinden, die unter der Operation Genesis litten. Diese Militäroperation der kolumbianischen Streitkräfte und paramilitärischer Gruppen gegen die FARC fand im Jahr 1997 statt. Wegen ihr mussten indigene und afrokolumbianische Kleinbauern ihr Land verlassen, unter Drohungen und Anwendung massiver Gewalt.

Ein Wideraufbau mit Lücken

Hinter dem Opfergesetz, erkennt Palacios Herrón an, stehe ein Strategiewechsel der Regierung von Santos: “Es ist wichtig, dass von den Opfern gesprochen wird; vorher wurde abgestritten, dass es überhaupt einen Konflikt gibt.” Unter der Regierung von Uribe habe man von “Touristen”, “Migranten” und „Personen, die vom Fortschritt in den Städten angezogen werden“ gesprochen. Heute erkennt der Staat an, dass etwa zehn Prozent der Bevölkerung direkt von der Zwangsvertreibung betroffen sind. Im Falle von Bojayá können die Gemeinden ihr Recht auf diese Gebiete behaupten, dank der Landtitel, die sie mit dem Gesetz Nummer 70 von 1993 erhalten haben.

Dennoch kritisiert Palacios Herrón die momentan sehr dürftige Anwendung des Opfergesetzes: In Bojayá widme sich die Regierung lediglich dem Wiederaufbau der Infrastruktur. Themen wie psychologische Unterstützung oder den Wiederaufbau des sozioökonomischen Netzes lasse sie aus. Auch seien bisher keine Maßnahmen ergriffen worden, um zu verhindern, dass etwas Ähnliches noch einmal geschehen könne. Laut Palacios Herrón werden täglich Anführer*innen, die ihre Rechte einfordern, umgebracht – erst am Vortag sei ein Kollege von ihr ermordet worden. Alle acht Tage werde ein/e MenschenrechtsverteidigerIn in Kolumbien ermordet. Die sogenannten „Schwarzen Adler“ haben auch schon Palacios Herrón bedroht.

Wer steht hinter den Schwarzen Adlern?

„Wenn man das öffentlich sagt, wird der- oder diejenige mit Sicherheit nicht den nächsten Morgen erleben“, sagt sie, und presst die Lippen zusammen. „Wir wissen, dass Komplizenschaften zu Personen in hochrangigen Ämtern der Regierung bestehen. Ich habe dem Vizeminister gesagt: Jedes Mal, wenn wir uns mit Ihnen zusammen setzen und Ihnen solche Dinge sagen, bekommen wir nur mehr Probleme. Der Minister hat geschwiegen.“

Vom Verschwinden der einheimischen Völker

María Yaneth Moreno, oder Schwester Yaneth genannt, bringt ein Tablett mit Kaffee und frischem Wasser. Die Diözese Quibdó unterstützt seit über 35 Jahren die Arbeit von Orewa, einer indigenen Organisation, in der sich die einheimischen Ethnien der Region organisieren: Wounaan, Dóbida, Katío, Chamí und Tule. Derzeit leben etwa 40.000 Menschen dieser Volksgruppen im Chocó, doch es werden immer weniger. Laut dem Verfassungsgericht stehen sie kurz vor einem Ethnozid.

Neben Mord und Vertreibung ist Unterernährung dafür eine Hauptursache. Elina Velázquez von der Ethnie Embera Dóbida, erklärt von der anderen Seite des Tisches aus, wie die bewaffneten Gruppen die Gemeinschaften am Jagen hindern. Auch, dass diese die Menge der Nahrungsmittel und Medizin kontrollierten, die die Embera auf dem Fluss transportieren, unter dem Vorwurf, die jeweilige bewaffnete Gegenseite zu versorgen. Daher litten die Gemeinschaften unter einem extremen Mangel. „Es ist nicht einfach, um 4.30 Uhr morgens zwei Stunden mit dem Kanu zu fahren, um Bananen für die Versorgung der Familie zu holen“, klagt Velázquez.

Der Plan Colombia und seine Nebenwirkungen

Die Probleme haben sich verschärft, seit der damalige Präsident Andrés Pastrana 1999 den Plan Colombia mit Bill Clinton unterzeichnet hat. Dieses Programm der kolumbianischen Regierung hat die Ausgaben zur Militarisierung drastisch erhöht und die Armee ermächtigt, auch polizeiliche Aufgaben zu übernehmen.

Eine Novellierung des Plan Colombia wurde einige Wochen nach dem ursprünglichen Text veröffentlicht. Sie vervollständigte die militärische Strategie: Die kolumbianische Regierung solle „ihre Wirtschaft vollständig dem Außeninvestment und dem Außenhandel öffnen“. Allein im Bergbausektor stiegen die ausländischen Investitionen in den zehn Jahren zwischen 1999 und 2009 um 640 Prozent. Im Gebiet des Río Atrato hat der Staat 2005 neun Bergbaulizenzen an die US-amerikanische Firma Muriel Mining Corporation erteilt. Diese erlaubten ihr, dort Kupfer, Gold und Molybdän abzubauen. Eine dieser Lizenzen gilt für den Berg Usa Kirandarra. Dieser Berg wird auch Careperro (Cara de Perro) genannt und ist für das Embera-Volk heilig.

Die Auswirkungen des Bergbaus auf ihr Territorium kannten die indigenen und afrokolumbianischen Gemeinschaften schon zur Genüge. Neben Umweltverschmutzung und Ausbrüchen von Malaria im stehenden Wasser der Sammelbehälter kommt für Schwester Yanet noch der starke psychologische Schock dazu: „Die Jungen, Mädchen und Jugendlichen begehen Selbstmord. Beim Embera-Volk gibt es keinen Suizid. In der Weltanschauung der Embera entsteht der Tod, wenn Mutter Erde aus dem Gleichgewicht gebracht wird und dadurch auch die Beziehung zwischen Mensch und Territorium aus dem Gleichgewicht gerät. Nach einem Bombenangriff kann zum Beispiel auch die sogenannte Angstkrankheit ausbrechen. Der spirituelle Geist Jai, der den Körper beschützt, damit er nicht krank wird, verlässt ihn.“

Widerstand am heiligen Berg

Im Januar 2009 bereitete sich die Muriel Mining Corporation darauf vor, mit dem Abbau am Careperro zu beginnen. Zu ihrer Sicherheit zählte sie auf die 15. und 17. Militärbrigade. José Luis von der indigenen Ethnie Embera Dóbida, geboren in Bojayá, erinnert sich an jene Tage, an denen sie es geschafft hatten, ihren heiligen Ort zu retten: „Es kamen 2.400 Indigene, Frauen, Männer, Jugendliche, Erwachsene, Kinder, in ihrer traditionellen Kleidung und Körperbemalung. Wir brachten sehr wenig Essen mit, fünf oder sechs Personen teilten sich eine Banane, das Wasser war knapp, wir hatten kein Dach über dem Kopf und das ganze Bett war durchnässt. Dort ist es sehr hoch und kalt, es gibt Hagel und ständig regnet es. Mehrere Kinder sind gestorben“. Die Bergbaugesellschaft behauptete, dass die Besetzung des Berges von der Guerilla unterstützt worden sei. José Luis hält dagegen: „Im Gegenteil, es waren nur Zivilist*innen der Embera, Nichtregierungsorganisationen, Anwält*innen und Journalist*innen.“ Das Militär kam, bombardierte das Gebiet und hinterließ mehrere Verletzte.

Auf den Hubschrauberlandeplätzen der Muriel Mining Company bauten die Embera Häuser, so dass die Hubschrauber nicht landen konnten. Mit Machetenschlägen zerstörten sie die Wasserreserven der Bergbaugesellschaft. Diese bot ihnen Essen an, doch sie haben es nie angenommen. „Zwei Monate lang waren wir dort“, erzählt Luis.

Im Oktober 2009 gab ihnen das Verfassungsgericht Recht und ordnete an, das Projekt einzustellen. Die Bergbaugesellschaft habe entgegen ihrer Verpflichtung vor Beginn des Abbaus keine Rücksprache mit der Bevölkerung gehalten, sondern diese betrogen. Luis meint: „Sie kauften fünf Führungspersonen des Gebietes, einem gaben sie einen Motor, einem anderen 500.000 kolumbianische Pesos, wieder einem anderen Zigaretten und Kaffee. Sie brachten sie so dazu, zu unterzeichnen, um in das Gebiet hinein zu kommen.“ Im März 2012 gab das Verfassungsgericht den indigenen Bevölkerungsgruppen wieder Recht.

Derzeit lebt eine indigene Gemeinde direkt am Berg Careperro. 17 Häuser, eine Schule und gut organisierte Familien. Jeden Tag besuchen sie den Berg, um zu sehen, was passiert. Wenn Soldaten kommen, schlagen sie Alarm. Sie haben erreicht, dass der Berg unbeschädigt bleibt.

*Emma Gascó und Martín Cúneo sind Journalisten bei Diagonal und Autoren des Buches Crónicas del estallido (Chroniken des Ausbruchs, Icaria, 2013).

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