Colonia Dignidad: Steinmeier verspricht Aufarbeitung der Rolle Deutschlands

­Von Ute Löhning

(Berlin, 19. Mai 2016, npl).- Deutschen Behörden wird vorgeworfen, Verbrechen in der Colonia Dignidad jahrzehntelang zumindest toleriert zu haben. Außenminister Steinmeier bekannte sich im April zur Verantwortung deutscher Diplomat*innen, die nicht genug für den Schutz ihrer „Landsleute“ getan hätten. Opfer und Menschenrechtsaktivist*innen fordern die Aufklärung aller Taten, also auch der Verbrechen gegen die chilenischen Opfer, die während der Diktatur auf dem Gelände der Kolonie gefoltert oder ermordet wurden.

Was heißt hier „Würde“?

Colonia Dignidad, die deutsche Sektensiedlung im Süden Chiles, heißt übersetzt „Kolonie der Würde“. Mit Würde hatte das, was jahrzehntelang in dieser Siedlung geschah, allerdings nichts zu tun: Systematischer sexueller Missbrauch von Jungen, brutale Prügelstrafen, zwangsweise Verabreichung von Psychopharmaka und sklavenähnliche Arbeitsverhältnisse gehörten zum Alltag der Bewohner*innen der Kolonie, die 1961 von Sektenchef Paul Schäfer gegründet wurde.

Während der Militärdiktatur betrieb der chilenische Geheimdienst DINA auf dem Gelände ein Folterzentrum. Führungsmitglieder der Sekte und Geheimdienstmitarbeiter*innen arbeiteten Hand in Hand. Sie folterten und ermordeten dort zahlreiche politische Oppositionelle.

Deutschen Behörden wird vorgeworfen, die Verbrechen der Sekte jahrzehntelang wissentlich zumindest toleriert zu haben. Opfer und Menschenrechtsaktivist*innen kämpfen seit Jahren dafür, die deutsche Mitverantwortung an den schweren Menschenrechtsverletzungen in der Colonia Dignidad aufzuklären.

Als erster deutscher Außenminister nahm Frank-Walter Steinmeier Ende April Stellung zur Rolle deutscher Diplomat*innen. „Ich verneige mich vor den Opfern des Zwangssystems Colonia Dignidad“, erklärte er bei einem offiziellen Empfang mit Opfern, Angehörigen und Rechtsanwält*innen im Auswärtigen Amt in Berlin. Deutsche Diplomat*innen hätten über viele Jahre hinweg von den 1960ern bis in die 1980er Jahre bestenfalls weg geschaut, so Steinmeier weiter und „jedenfalls eindeutig zu wenig für den Schutz ihrer Landsleute in dieser Kolonie getan.“

Die Verbrechen waren von Anfang an bekannt

Seit den 1960er Jahren hatten Geflohene aus der Colonia über den systematischen sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen berichtet. Seit Mitte der 1970er Jahre lagen Veröffentlichungen über das Folterlager auf dem Sektengelände vor. Der Stern, amnesty international und sogar die Menschenrechtskommission der UNO hatten darüber berichtet.

Dennoch ließen deutsche Diplomat*innen den Sektenchef Schäfer jahrzehntelang uneingeschränkt gewähren. Am Botschaftsgelände durften landwirtschaftliche Produkte aus der Sektensiedlung verkauft werden. Aber die wenigen Menschen, die es geschafft hatten, aus der streng bewachten Kolonie zu fliehen und bis in die Botschaft zu gelangen, fanden dort keinen Schutz. Im Gegenteil: einige wurden sogar wieder an die Führung der Sekte übergeben.

Negativvorlage in der Ausbildung deutscher Diplomat*innen

„Das Auswärtige Amt will Lehren aus dem Umgang mit der Colonia Dignidad ziehen“, so Außenminister Steinmeier, und weiter sagte er, das Aktenmaterial solle aufgearbeitet werden, um es „für die Aus- und Fortbildung unserer jungen Mitarbeiter zu benutzen.“ – Eine Negativvorlage nach dem Muster: wie sollten deutsche Diplomaten sich nicht verhalten!

Akten auswerten – aber wie?

Steinmeier kündigte an, die Schutzfrist für die Öffnung von Akten des Auswärtigen Amtes zur Colonia Dignidad um 10 Jahre zu verkürzen. Dies bedeutet, dass Unterlagen über die Sektensiedlung nach 20 Jahren zur Einsicht freigegeben würden. Steinmeier erklärte, das Auswärtige Amt mache „die gesamten Akten der noch wichtigen Jahre 1986 bis 1996 für die Wissenschaftler und auch für die Medien zugänglich.“

Der Leiter des Pressereferats des Auswärtigen Amtes, Martin Schäfer, konkretisiert, diese Regelung gelte für alle Dokumente zu Colonia Dignidad im Auswärtigen Amt und in der deutschen Botschaft in Santiago de Chile sowie für Verschlusssachen, also für als brisant eingestufte Dokumente.

Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck vom Europäischen Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte ECCHR findet das sehr positiv. Dennoch fordert er weitergehende Schritte. Denn dieses umfangreiche Aktenmaterial müsse auch bearbeitet werden und dazu müssten Ressourcen bereitgestellt werden: „Das können einzelne Journalisten oder Wissenschaftler schwer leisten“, so der Anwalt, der fordert: „Es wäre angebracht gewesen, eine Untersuchungskommission einzusetzen.“

Entschädigung ist kein Geschenk

Neben der Aufklärung der Taten fordern Betroffene auch Entschädigungsmaßnahmen. Anna Schnellenkamp lebt in der Villa Baviera, dem „Bayerischen Dorf“, wie sich die Siedlung auf dem Gelände der ehemaligen Colonia Dignidad inzwischen nennt. Sie spricht das drängende Problem der fehlenden sozialen Absicherung der einfachen Bewohnerinnen und Bewohner an: „Es sind 150 Personen, die damals als Minderjährige in die Kolonie gebracht worden sind, die nicht freiwillig an dem ganzen System teilgenommen haben, oder dort hinein geboren worden sind.“

Diese mussten jahrzehntelang ohne jede Entlohnung, Rentenvorsorge oder andere Sozialleistungen schwerste Arbeiten verrichten. Im Alter stünde ihnen in Chile und in Deutschland nur eine Mindest- oder noch nicht mal Mindestrente zur Verfügung. Dieses Problem müsse gelöst werden, so Anna Schnellenkamp.

„Die Geste des Ministers bedeutet auch, Verantwortung zu übernehmen.“ sagt der chilenische Rechtsanwalt Hernán Fernández, der den ersten Prozess gegen den Sektenführer Paul Schäfer wegen Missbrauchs geführt und gewonnen hat, und noch immer viele chilenische und deutsche Opfer vertritt. Neben der moralischen Verantwortung gehe es juristisch gesprochen auch um das Recht auf Entschädigung, und es gebe „keine Entschuldigung dafür, dass heute nicht entschädigt wird.“ Die Menschen seien krank, viele von ihnen lebten in Armut. Es gehe hier nicht um ein Geschenk oder darum, jemanden um einen Gefallen zu bitten. Die Forderungen nach Entschädigung und sozialer Absicherung richteten sich an Chile und Deutschland, weil beide Staaten sich jahrzehntelang nicht um den Schutz dieser Menschen gekümmert hätten: „Wären die Menschen nicht zu Opfern dieser Geschichte geworden, so hätten sie ein anderes Leben.“

Aufklärung für alle Opfer, alle Täter*innen und alle Delikte gefordert

Dieter Maier, der schon 1977 den ersten Bericht für amnesty international über das Folterlager auf dem Sektengelände geschrieben hat, weist auf eine grundsätzliche Frage hin: Es sei viel über die deutschen Opfer der Sekte gesprochen worden, aber die chilenischen Opfer dürften nicht vergessen werden. Es gehe um über hundert verschwundene politische Gefangene und überlebende Folteropfer: „Deren Leiden, deren Verschwinden kann kei

n Geld der Welt wieder gut machen.“ so Maier. Für diese Menschen wäre ein Symbol wichtig, zum Beispiel eine Erinnerungsstätte. Ein chilenischer Richter habe den chilenischen Staat dazu verurteilt, ein Mahnmal oder ein Museum zu errichten. Maier findet, „das sollte ein Erinnerungsort werden, und da kann der deutsche Staat mit seinem Knowhow sich beteiligen.“

Tatsächlich hat Außenminister Steinmeier sich in seiner Rede vor allem auf die Verantwortung der deutschen Botschaft für deutsche Staatsbürger*innen bezogen. Die Botschaft hätte ihre „Landsleute“, also in dem Fall Bewohnerinnen und Bewohner der Sektensiedlung, nicht ausreichend geschützt.

Die verschiedenen Opfergruppen zu berücksichtigen – und also auch die chilenischen Opfer von Folter und Verschwindenlassen – sei aber eine Frage der Glaubwürdigkeit, merkt auch Rechtsanwalt Hernán Fernández an: „Es geht um alle Opfer, alle Täter und alle Delikte. Alle Menschenrechtsverletzungen müssen aufgeklärt werden.“

Daran, so die Sicht vieler Betroffener und Menschenrechtsaktivist*innen, werde sich auch zeigen, ob die Bundesregierung die Worte von der eigenen Verantwortung in Sachen Colonia Dignidad ernst meint.

Zu diesem Artikel gibt es auch einen Audiobeitrag bei onda, den ihr hier anhören könnt.

Außerdem dokumentieren wir an dieser Stelle noch einen offenen Brief des FDCL an Minister Steinmeier: 2016_04_25 Offener Brief Colonia Dignidad_Steinmeier.

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