Solidarisch durch die Pandemie. Barbetreiber begründet Kneipenviertel

(Rio de Janeiro, 13. Januar 2023, npla).- In der Küstenmetropole Rio de Janeiro entstand während der COVID-19-Pandemie ein ganz neues Kneipenviertel. Wir erzählen die Geschichte von Raphael Vidal, der mit Kreativität, Zusammenarbeit mit der lokalen Gemeinschaft und einem bewussten Umgang mit dem Lockdown gehandelt hat, um ein treues Publikum zu gewinnen und seine Nachbarschaft zu schützen.

Eine neue Stimmung im Land

Die brasilianische Nationalmannschaft wird gleich ihren ersten Auftritt in der WM von Katar haben. Der Largo de São Francisco da Prainha, ein Platz am Fuß des Hügels Morro da Conceição im Hafengebiet von Rio de Janeiro, ist voller Menschen mit gelbgrünen Trikots: eine bis vor kurzem unvorstellbare Szene. Denn die brasilianische Flagge und die Nationalsymbole (wie das Trikot der Seleção) hatte sich in den letzten Jahren die politische Rechte einverleibt. Doch nun tragen auch linke Fans Gelbgrün.

Die erste Halbzeit des Spiels gegen Serbien kommt mit viel Spannung und ohne Tore zum Ende. Auf dem Platz, auf dem ein großer TV-Monitor aufgebaut wurde, ist dennoch vor allem Erleichterung zu spüren: Am 30. Oktober 2022, nach einem anstrengenden Wahlkampf gegen den damaligen Präsidenten Jair Bolsonaro, hat Luiz Inácio Lula da Silva schließlich die Präsidentschaftswahl gewonnen. Der Kandidat des Partido dos Trabalhadores konnte in der Stichwahl 50,90 % der Stimmen auf sich vereinen und damit einen sehr knappen Sieg über seinen rechtsradikalen Gegner erringen. Lula, der von 2003 bis 2010 schon einmal das Land regiert hatte, ist nun wieder Präsident.

Gründe zum Jubeln

Brasilien schießt ein Tor. Und dann ein zweites. Die Seleção gewinnt zwei zu null. Das Spiel kommt zum Ende, aber die Fans bleiben auf dem Platz. Es wird stundenlang getanzt und gefeiert. Ab morgen werden wieder neue Hygienemaßnahmen für die Bekämpfung der Pandemie eingeführt. In den letzten Wochen gab es einen deutlichen Anstieg der Covid-19-Infektionen, daher hat die Nationale Behörde für Gesundheitsüberwachung Anvisa die Maskenpflicht in Flughäfen und Flugzeugen wieder eingeführt. Aber erst ab morgen.

Inmitten der Menschenmenge auf dem Platz befindet sich Raphael Vidal, dem es zu verdanken ist, dass dieses Kneipenviertel überhaupt existiert. Er betreibt dort zwei Geschäfte, die dem Largo de São Francisco da Prainha viel Aufmerksamkeit beschert haben. Wir wollen mit ihm sprechen, aber gerade ist er sehr beschäftigt – mit seinen Aufgaben und mit der Feier.

Das kleine Afrika

Fünf Tage später ist der Platz sehr ruhig, nur einige Kinder spielen Ball. Wir sitzen mit Raphael Vidal in der Casa Porto, die im ersten Stockwerk eines Altbaus am Platz liegt. Er hat heute frei, seine Kneipen haben Ruhetag. Wir befinden uns im historischen Hafengebiet, das als ‚kleines Afrika‘ bekannt ist. Unweit entfernt liegt die archäologische Stätte Valongo-Kai, die 2017 als UNESCO-Welterbe anerkannt wurde. Schätzungen zufolge waren es zwischen 500.000 und einer Million Menschen aus afrikanischen Ländern, die vor zwei Jahrhunderten durch den transatlantischen Sklavenhandel genau hier an dieser Stelle gelandet sind. Viele haben sich in der Gegend niederlassen, sei es durch Freilassung oder Flucht. In diesen Straßen und Gassen um den Platz herum entwickelte sich die afrobrasilianische Kultur, und zwar unter den Augen der Portugiesen, deren Eliten den Hügel Morro da Conceição bewohnten.

Feier-Platz

Diese Diversität trug dazu bei, dass das Hafengebiet für lange Zeit ein sehr belebter Ort in Rio war. Vidal hat in alten Zeitungen in der Nationalbibliothek recherchiert. Er fand Zeitungsartikel aus den 1970er Jahren, in denen von Juni-Festen in Morro da Conceição die Rede war. „Die besten Feste der Stadt“, meint Vidal, „die Bewohner*innen haben sie selbst organisiert, deshalb waren diese Feste so beliebt.“ Bis vor einigen Jahren sah es hier aber recht anders aus: In den letzten zwei Jahrzehnten war es ziemlich still, und so war der Zustand, als Vidal seine Kneipen eröffnet hat.

Raphael Vidal ist 40 Jahre alt. 2008 kam er nach Morro da Conceição  und hat dort seine Heimat gefunden. Laut Vidal waren bei seiner Ankunft wenig Spuren der Geschichte des Viertels zu sehen. Auf dem Platz São Franciso da Prainha etwa fanden ab und zu einige kulturelle Veranstaltungen statt, aber abgesehen davon war der Platz jedoch eher eine Art Transitort für Menschen auf dem Weg von hier nach da. Bevor der Platz gepflastert wurde, befand sich sogar einen Parkplatz inmitten der historischen Architektur.

Der Beginn

2012 organisierte Vidal mit der Unterstützung der Einwohner*innen ein Literaturfestival auf dem Hügel. Die Resonanz war groß. Daraufhin wurde er eingeladen, in einem nahegelegenen Kunstmuseum als Kulturproduzent zu arbeiten. Da blieb er aber nur einige Monate, bis es ihm klar wurde, was er eigentlich gern machen wollte. Oktober 2013 gründete er das Kulturhaus Casa Porto, in dem wir uns mit ihm für das Interview getroffen haben. Hier organisierte er Ausstellungen, Konzerte und Gedenkveranstaltungen des Hafengebiets. Casa Porto wurde schnell zu einem politischen Ort, wo Menschen Kultur und Kunst in Zeiten der politischen Unruhe in Brasilien genießen konnten. Vor allem während der Regierung des rechtsradikalen Jair Bolsonaro, die von frauenfeindlichen, homophoben und rassistischen Diskursen geprägt war, bedeutete dieser Ort einen Schutz gegen die Welt da draußen.

Die Krise

Da reichte jedoch nicht, um Casa Porto finanziell übers Wasser zu halten. Das Publikum war überschaubar, noch war der Ort kein Hotspot innerhalb der Stadt. 2018 war für Vidal ein besonders schwieriges Jahr: Beim Jahresabschluss beliefen sich seine Schulden auf über 300.ooo Reais (heute über 50.000 Euro). So beschloß er, in der Casa Porto selbstgekochtes Essen anzubieten. In den sozialen Netzwerken erzählte er damals von der dringenden Situation. Heute erinnert er sich daran: „Ich habe ein Foto auf Facebook geteilt und gesagt: ‚Seht her, ich mache traditionelles Essen, was sonst niemand in Rio de Janeiro macht‘, ‚Seht her, ich sitze in der Klemme, der Eigentümer will das Objekt in 30 Tagen zurückhaben…‘.“ Casa Porto bekam viel Unterstützung, immer mehr Menschen kamen. „Das war sehr berührend damals“, erinnert sich Vidal. Dank der zahlreichen Unterstützung sei es ihm gelungen, mit der Immobiliengesellschaft in Verhandlung zu treten. Innerhalb eines Monats habe Casa Porto sich finanziell wieder gefangen und konnte den Betrieb fortsetzen ‑ als Kneipe! Zwar hat Casa Porto seine Mission als Kulturhaus nicht komplett aufgegeben, aber der Fokus wurde auf die Gastronomie gelenkt – mit Erfolg: Zwischen 2018 und 2020 konnte Vidal alle Schulden begleichen.

COVID-19

Dann kam die Pandemie. Für alle Unternehmer*innen  fraglos eine schwierige Zeit, doch Vidal setzte auf untypische Strategien: Angestellte, die der Risikogruppe angehörten oder mit dem öffentlichen Verkehrsmittel zur Casa Porto fahren mussten, schickte Vidal nach Hause, ohne ihnen den Lohn zu kürzen, und führte die Casa Porto mit vier Angestellten aus der Nachbarschaft. Dazu stellte er einen Lieferdienst auf die Beine: Er rekrutierte acht Motorradfahrer*innen, die im Viertel wohnten und wegen des Lockdowns ihren Job verloren hatten. Eine neue Erfahrung mit neuen Herausforderungen: Während der teils langen Fahrten wurde das Essen ziemlich durchgeschüttelt und blieb auch nicht richtig warm. Zugleich merkte Vidal, dass seine Kund*innen zu Hause in Quarantäne mehr vermissten als nur das Essen ihrer Lieblingskneipe. Um dem entgegenzukommen und als Kompensation für die Abstriche am Service kam Vidal auf die Idee, mit dem Essen Bücher zu schicken. Bei den Bestellungen sollten die Kund*innen etwas über sich erzählen. So konnte Vidal das passende Buch aussuchen. Gleichzeitig unterstützte er damit einen Freund, dessen Antiquariatsbuchhandlung wegen des Lockdowns schließen musste.

Voodoo-Puppen

Eine weitere Aktion nahm Bezug auf eine brasilianische Tradition in der Karwoche. Am Karsamstag werden in Rio de Janeiro große Puppen von bekannten, gerade sehr unbeliebten Menschen gebastelt. Meistens sind es Politiker. Man hängt diese Puppen an Straßenlampen auf, und die Leute prügeln auf die Puppen ein. Vidal erinnert sich an seine Sorgen damals: „Wie sollten wir mitten im Lockdown die Puppen verprügeln, wenn wir das Haus nicht verlassen durfen?“ Mit dem Essen sandte er also Voodoo-Puppen mit dem Konterfei von Bolsonaro. Die „Bolsonaro-Puppen“, die die Kund*innen mit Nadeln stechen konnten, waren ein großer Erfolg beim Lieferdienst. Ebenso interessierte sich die Presse dafür. Die Bekanntheit der Casa Porto stieg sprunghaft an. Das Bestellvolumen wuchs.

Ein zweites Lokal

Mit dem Abklingen der Pandemie kam dann die Diskussion auf, ob die Gastronomie wieder öffnen sollte. Vidal hat sich in der Öffentlichkeit einen Namen gemacht, weil er sich dagegen aussprach. Aus Hygienegründen, aber auch wegen seines erfolgreichen Lieferdiensts. Alles lief gut, und er konnte seine Angestellten zu Hause mitfinanzieren und dazu noch 15 neue Leute aus der Nachbarschaft anstellen.

Von den Fenstern im ersten Stock der Casa Porto können wir Vidals zweite Kneipe sichten. Bafo da Prainha liegt in einem zweistöckigen Altbau am Platz São Francisco da Prainha. Ein Nachbar von Vidal bot ihm das leerstehende Haus kostenlos an, als bekannt wurde, dass die Geschäfte bald wieder öffnen würden. „Ich konnte Bafo da Prainha eröffnen, ohne viel zu investieren“, erinnert sich Vidal. Er kaufte einen Grill am Fuß eines Hügels im Norden von Rio, die Theke kaufte er von einer bankrotten Metzgerei in einer Favela. Zudem beschloss er, Churrasco zu verkaufen: „…genau wie die Leute in den Vorstädten machen, in denen ich aufgewachsen bin.“

Ein neues Kneipenviertel entsteht

Ein Gesetz der Stadt erlaubte nach dem Lockdown, dass Kneipen unter bestimmten Bedingungen den Bürgersteig mitnutzen dürfen. Da Bafo da Prainha an einem Platz liegt, konnte Vidal vor der Kneipe unter freien Himmel viel mehr Tischen hinstellen als drinnen in der Casa Porto, und auch den Mindestabstand einzuhalten war kein Problem. Zudem lud er Musiker*innen ein, auf dem Balkon im ersten Stock aufzutreten. Das Publikum von Bafo da Prainha konnte also trotz der Pandemie Kneipenabende in gewohnter Stimmung verbringen, ohne eine Covid-19-Infektion zu riskieren. Die Infektionszahlen im Stadtteil blieben konstant, die Nachricht über das neue Kneipenviertel breitete sich hingegen aus wie ein Lauffeuer. Andere Unternehmer*innen interessierten sich für den bisher wenig bekannten Ort. Vidal gewann lokale Preise, etwa als bester Unternehmer oder für seine Kreativität in der Küche. Die Zeitschrift Time Out wählte Bafo da Prainha als eine der besten Kneipen der Welt. Und das Viertel Bairro da Saúde (auf Deusch lustigerweise: ‚Gesundheitskiez‘) stand 2021 auf Platz 25 in der von Time Out geführten Liste der coolsten Stadtviertel der Welt.

Nun ein beliebter Platz

Später am Tag des Interviews mit Vidal sprechen wir mit Tâmera Vinhas. Die  Brasilianerin lebt seit Jahren in Berlin und ist zufälligerweise gerade zu Besuch in ihrer Heimatstadt. Früher war dieser Platz für sie nur ein Weg in Richtung eines traditionellen Sambafests, das jeden Montag am Fuß von Morro da Conceição stattfand. Auf dem Platz São Francisco da Prainha blieb sie nur dann stehen, wenn es dort kulturelle Attraktionen gab, wie Samba, Capoeira oder den traditionellen Tanz- und Musikstil namens Jongo. Auf die Frage, ob der Platz jetzt mit den vielen Kneipen und Tischen anders aussieht, antwortet sie sehr kritisch: „Es hat sich verändert, und ich finde es hier einfach nur noch schickimicki. Ich denke, der Ort verliert auf eine gewisse Weise seine ursprüngliche Bedeutung für die Menschen.“ Tâmera Vinhas‘ Sorge ist nicht unbegründet: Unter den neuen Kneipen, die sich, angezogen von der  neuentstandenen Bekanntheit des Platzes, hier angesiedelt haben, befinden sich einige, die keine Verbindung mit der Gemeinschaft der Umgebung suchen. Vidal ist das bewusst. Er weiß, dass er mit seiner Kreativität zur Wiederbelebung des Viertels Bairro da Saúde beigetragen und gleichzeitig die Gentrifizierung des Viertels mit in Gang gebracht hat, auch wenn das seinen eigentlichen Interessen entgegensteht: „Ich denke, nun ist es meine Aufgabe, zu verhindern, dass dieser Ort nur noch ein Ort der Gastronomie und ein Treffpunkt für Leute mit Geld wird und dadurch seine Identität verliert.“ Der Verkauf von Speisen und Getränken sei auf keinen Fall sein Hauptinteresse, sondern vielmehr Mittel zum Zweck: „Ich möchte vor allem diesen Ort stärken und ihn als eine Art Gedenkort erhalten“.

Weitergehen, um sehen zu können

Wir entfernen uns ein bisschen in Richtung der Straßen und Gassen des Viertels, um zu sehen, was Vidal hier treibt. Viele neue Geschäfte sind entstanden, aber anders als am Platz São Francisco da Prainha werden sie von Einheimischen betrieben: Ateliers, Imbisse mit traditioneller Gastronomie, Lokale, Antiquariatsbuchhandlungen… Vidals Initiative hat vieles bewegt.

Wir steigen eine Gasse hinauf. Durch ein offenes Fenster sieht man einen Mann am Herd stehen, es ist Ronaldo de Oliveira Caetano aka Tinão. Der Koch ist Mitarbeiter von Vidal und bereitet das Essen für morgen vor. Tinão erzählt uns, dass er 500 bis 1.000 Portionen warmes Essen pro Tag ausgibt. Er nimmt sich Zeit, um uns die Vorbereitungen zu erklären.

Durch das Fenster der Küche sieht man ein Graffiti an der Wand auf dem anderen Bürgersteig. Es ist das Portrait eines Mannes namens Hilário Jovino. Vidal erzählt uns, dass Jovino eine wichtige Rolle für die Entwicklung der Elemente gespielt hat, die heute im brasilianischen Karneval typisch sind. Vidal zeigt uns das Haus, wo Jovino gewohnt hat. Er ist der Meinung, dass diese Gasse nach Jovino umbenannt werden sollte. Sie heißt jedoch João Inácio, benannt nach einem Militär, der die Sklaverei unterstützt hat. Um der Auslöschung der Geschichte des Orts entgegenzutreten, öffnete Vidal gegenüber dem Graffiti ein Geschäft mit Kunstwerken, Kleidungen und Andenken, die von Einheimischen handgemacht wurden und die wahre Geschichte des Hafengebiets erzählen.

Unternehmen in der Pandemie

Am Ende des Interviews fragen wir Vidal, ob er eine Formel dafür hat, wie die Unternehmer*innen agieren sollten. Er meint, die Geschäfte sollten sich mehr mit der Geschichte des Orts und der Gemeinschaft in ihrer Umgebung auseinandersetzen. Er selbst ist nicht wirklich ein Unternehmer, wie er im Buche steht; auf die Frage, wie es mit seinen Geschäften künftig weitergehen soll, antwortet er, er lerne gerade erst, das Ganze zu bewirtschaften. Auch seine eigene Entwicklung hätte er sich vor einiger Zeit nicht vorstellen können. Aus dem Bon Vivant, der die guten Seiten des Lebens in Rio de Janeiro zu genießen wusste, wurde erst der Stadtteilaktivist und nun der vielbeschäftigte Mann, der ständig am Telefon hängt und vier Geschäfte mit über 80 Mitarbeitenden betreibt. Während des Lockdowns bot Vidal seinen Angestellten uneigennützig an, zu Hause zu bleiben, um sie zu schützen. Viele andere Geschäftsinhaber*innen waren dazu nicht bereit. „Wenn ich mir anschaue, wie sich die Dinge entwickelt haben, sehe ich, dass ich das Richtige getan habe. Ich bin die ganze Zeit gegen den Strom geschwommen, als Unternehmer und Arbeitgeber, und hier seht ihr nun das Resultat.“

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