Singen auf Mapuzungun – ein politisches Statement

(San Carlos de Bariloche, 23. Januar 2022, ANRed).- Anahi Mariluan, Mapuche, Musiklehrerin und Sängerin, befasst sich seit Jahren mit der Verbreitung der Kultur und der Identität ihres Volkes. Zuletzt hat sie das Album Ülkantun: Mujeres Memoria konzipiert, das dem kulturellen Erbe und der Gegenwart der indigenen Gemeinschaften gewidmet ist. Die Stücke handeln von Menschenrechtspolitik und davon, was die Lebensweise der indigenen Völker für die künftige Existenz aller Menschen bedeutet.

Anahi Mariluan wurde in Neuquén geboren und lebt derzeit in San Carlos de Bariloche. Die Mapuche, die sich für die Bewahrung der Luft, des Wassers, der Berge, des Land und des Lebens im Allgemeinen einsetzen, sind für sie ein zukunftsorientiertes Volk. Zukunft bedeutet bei den Mapuche die Synthese einer lebendigen Gegenwart und einer Vergangenheit mit starken Wurzeln. Anahi, Sängerin aus dem Volk der Mapuche und „Übersetzerin der Klänge, die uns umgeben“, erforscht das musikalische Erbe ihrer Vorfahren und komponiert eigene Lieder auf Mapuzungun, der Sprache ihres Volkes. Der Erhalt ihrer Kultur und ihres musikalischen Erbes ist ihr wichtigstes Anliegen. „Unser Land zurückzugewinnen ist ein zentrales Anliegen, und dazu ein Greifbares, aber es zählen auch die immateriellen, die nicht greifbaren Errungenschaften, die wir heute erleben, nachdem mein Volk 150 Jahre lang gezwungen war zu schweigen. Ich will mit meiner Musik dazu beitragen, das Schweigen zu durchbrechen. Die Welt hat beschlossen, uns zu ignorieren. Unsere Sprache Mapuzungun ist politisches Instrument und Ausdruck unserer Entschlossenheit, mit der wir ihr gegenübertreten und sie daran hindern“, betont Anahí.

Musik: Identität und kulturelles Gedächtnis

Das Album Ülkantun: Mujeres Memoria wurde am 22. Januar im Salón de la Memoria in Ruka Choroy, Neuquén, vorgestellt. „Diesen Großmüttern zuzuhören ist eine wichtige Inspiration, um weiter Lieder zu schreiben“, schwärmt Anahi. Dem Album liegt eine 40 Jahre alte Tonaufnahme zugrunde, die die Lehrerin Silvia Giglio seinerzeit zusammengestellt hatte. Anahi, die zurzeit an ihrer Doktorarbeit in Anthropologie arbeitet, hat neun ül (Lieder) ausgewählt, die von ülkantufe (Sängerinnen) der Gemeinde Ruka Choroy intoniert werden. „Oft haben die Großmütter ihre Lieder aufgenommen, um sie den Kindern beizubringen, das war also schon ein interkultureller Akt. Mit unserem Projekt wollen wir dazu beitragen, dass diese traditionellen Lieder in ihre Herkunftsgemeinschaften zurückkehren“, erklärt Anahi, die 2021 ihr viertes Soloalbum Futrakecheyem zomo: Ancestras veröffentlichte. Viele der Stücke befassen sich mit den Frauen vorangegangener Generationen. Ein wiederkehrendes Thema ist die weibliche Kraft.

Musik, die heikle Themen anspricht

„Dieses Album ist den Großmüttern gewidmet, sie leben in uns weiter, wir bestehen aus Tausenden von Großmüttern“, bekräftigt sie. „In unserer Kultur haben alte Menschen einen unangefochtenen Stellenwert. In meinem Kopf hatte ich dieses Album schon lange vor dem Lockdown konzipiert, der ja dann vor allem die älteren Menschen getroffen hat. […] Ich wollte mit diesem Album auch den Frauen eine Stimme geben, von denen wir nichts wissen, Frauen, die den Völkermord und die Brüche in unserer Geschichte erlebt haben. Dieses Album berührt wirklich heikle Themen, und dann ist es auch noch eine Zusammenarbeit mit vielen anderen Sängerinnen. Heikel, ja, das ist der passende Begriff, aber es ist auch intim, nachdenklich und kraftvoll. Eins der bewegendsten Stücke ist Küla lushu (Drei Babies), das letzte Stück auf der Platte, das ich mit Noe Pucci, einer Sänger aus Neuquén, aufgenommen habe. Es ist ein trauriges Lied, das von den Tausenden von Mapuche-Kindern handelt, die während der so genannten Eroberung der Wüste (1878-1880) geraubt wurden.“ Eine weitere Gastinterpretin auf dem Album ist Soema Montenegro, Sängerin und Komponistin aus Buenos Aires. Sie singt Uñum zomo (Zwitschernde Frauen), ein fröhliches, liebliches Stück. „In der Mapuche-Kultur gibt es ein Gleichgewicht zwischen männlichen und weiblichen Energien, das Geschlecht an sich ist nicht das Entscheidende. Aber Singen ist zum Beispiel Ausdruck der weiblichen Energie, deshalb steht bei allen meinen Alben das Weibliche im Zentrum.“

Über die Rückgewinnung des musikalischen Terrains

-Welche Bedeutung hat Singen im Volk der Mapuche?

– Für uns ist Singen eine Form der Mitteilung. Du kannst es sagen, du kannst etwas tun, und du kannst singen. Singen ist meine Ausdrucksform. Ich engagiere mich leidenschaftlich für die Rückeroberung des Klangs, für die Stärkung des Gesangs, und ich stelle die Frage, warum Singen für die Gesellschaft heute nichts weiter ist als ein zeremonieller Akt, den Frauen in der Vergangenheit ausgeübt haben; dabei sind wir doch auch heute viele ülkantufe (Sängerinnen), und wir streben nach der Wiederbelebung des Mapuzungun im Gesang. Das sind also die beiden Leitlinien bei meinem kulturellen Eroberungszug: Singen als Ausdrucksform und als Teil der Rückgewinnung eines immateriellen Terrains, unserer Kultur.

-Und warum haben Sie sich von Anfang an dafür entschieden, in Mapuzungun zu komponieren und zu singen?

-Meine Musik ist politisch, deshalb singe ich auf Mapuzungun. Ich nutze meinen Gesang als politisches Instrument, um mir auf dieser Welt, die uns nicht hören will, meinen Raum zu nehmen. Und das betrifft nicht nur mich. Die meisten von uns ülkantufe werden nur um den 12. Oktober herum im Radio gespielt. Und ich frage mich immer: Warum ist die Sprache des Kolonialismus wichtiger, warum die Linguas Francas, ausgerechnet die Sprachen, in denen das ganze Böse erdacht wurde? Diese Frage hat mich zu dem Entschluss geführt, nicht mehr auf Spanisch zu singen. Das Gute an der Kolonialsprache ist, dass sie uns ermöglicht, zu kommunizieren, aber sie hat der Sprache meines Volkes mehr und mehr den Raum genommen. Deshalb habe ich mich für unsere Sprache entschieden, das Mapuzungun, und für unsere Trommel, den Kultrun.

-Hat Gesang für die Mapuche den Stellenwert von Erinnerung und Widerstand?

– In unserer Familie erkennen wir immer unsere ursprünglichen Vorfahren. Und ich möchte unsere ursprüngliche Vergangenheit auch in unserer Zukunft erkennen. Die Zukunft gehört den indigenen Völkern, denn sie sind es, die das Leben aller Menschen im Blick haben. Dieses Land ist schon irgendwie komisch; es baut auf einem kompletten Gedächtnisverlust auf. Die Verfassung der meisten Staaten orientiert sich an der kolonialistischen Vergangenheit, auch wenn wir nicht dem gleichen Horror ausgesetzt sind, den meine Großeltern erlebt haben. Ich habe keine Ahnung, was aus meinen Ururgroßeltern geworden ist, weil dieser erste Völkermord darauf ausgerichtet war, alles Leben auszulöschen. Wenn sich die Menschenrechtspolitik mit der Aufarbeitung von Verbrechen gegen die Menschheit befasst, gehört der Völkermord an den indigenen Völkern meiner Meinung nach auch dazu. Und dazu wird es kommen. Ich habe das Gefühl, dass wir kurz davor sind, dieses Ziel zu erreichen: dass das, was bislang totgeschwiegen wurde, auf der Tagesordnung erscheint. Und ich glaube, Musik wird dafür eine Brücke schlagen.

Die Musik der indigenen Völker

Der Sommer ist auch hier die Jahreszeit der Volksfeste und großen Musikveranstaltungen. Einer der Top acts ist die Volksmusik oder auch: Folklore. Meist läuft es auf ein lautstarkes Abfeiern der „Traditionen“ hinaus. Überall hört man Chacareras, Zambas, Gatos, Huaynos und Chamamé. Einige Veranstaltungen werden im Fernsehen übertragen. Doch bestimmte Klänge und kulturelle Ausdrucksformen werden von den Veranstaltern und Produzenten beharrlich ignoriert: Der Gesang der Mapuche ist auf den Bühnen der Folklorefestivals nicht vertreten oder nimmt zumindest keinen zentralen Platz in der Programmgestaltung oder der Berichterstattung ein. Er spielt für die – künstlerischen – Auswahlverfahren der hegemonialen Kultur keine Rolle. „Manchmal denke ich, dass es für unsere Musik keinen Platz gibt, weil sie nicht in das Folkloreraster passt“, überlegt Anahi. „Und wenn die Folklore die indigene Kultur einbezieht, fühlt es sich an wie Vereinnahmung, dann heißt es immer gleich ‚unsere Indigenen‘ und ‚unsere Frauen‘. Dabei kämpfen wir für unsere Autonomie. Wir wollen sagen können, dass wir niemandem gehören außer uns selbst. Für unsere Kultur fehlt einfach auch das breite Publikum, und es fehlt an Darbietungsmöglichkeiten.

-Warum unterscheidest du zwischen Volksmusik und der Musik der indigenen Völker?

-Die traditionelle argentinische Folklore hat schon immer mit einem bestimmten nationalen Stereotyp gearbeitet. Dazu gehören Tänze, die nicht mehr getanzt werden, physische Erscheinungsformen, die heute niemand mehr nutzt. Die indigenen Traditionen hingegen werden vollständig ignoriert, oder sie werden vereinnahmt. Wenn der Kulturbetrieb uns mal sowas wie Wertschätzung entgegenbringen will, redet er von „unseren indigenen Völkern“ oder „unseren Großmüttern“. In dieser herbeigeredeten Zugehörigkeit offenbart sich eine patriotische Ideologie, die wir ablehnen. Wir wollen niemandem gehören. Wir möchten, dass unsere Sprache, unsere Identität, unsere Kultur und unsere Sprache in unserem Gebiet lebendig sind. Folklore und Emanzipation scheinen einander auszuschließen. Bei den Folklorefestivals werden unsere ursprünglichen Traditionen eher vereinnahmt, und für unsere Kultur gibt keine richtige Szene, weil man mit ihr nicht dasselbe Geld machen kann wie mit kommerzieller Musik. Aber das mit der fehlenden Szene wird sich sicher bald ändern, denn von den Menschen, die sich im Kampf für das Leben engagieren, sind viele auf dem Weg der kulturellen Selbstermächtigung.

Kulturelle Selbstermächtigung kennt keine Altersbeschränkung

Aus dem Stück Ufiza (Schaf) von ihrem letzten Album Ancestras hat Anahi Mariluan eine Kindergeschichte entwickelt, die von der Künstlerin Alicia Pez illustriert wurde. Beim Wettbewerb für illustrierte Kinderliteratur, organisiert vom Verlagshaus Editora Municipal Bariloche, belegte das Buch den ersten Platz. „Mit unserer Geschichte von Don Herminio und seinen Schafen wollen wir deutlich machen, dass Weisheit von vielen gemacht wird. Weisheit ist wie eine Kette, und die Geschichte ist allen Mapuche-Brüdern und -Schwestern und allen Lebensformen gewidmet, die sich in diese Kette einfügen wie einzelne Glieder, respektvoll und weise. Als Musikerin bin ich kontinuierlich in Bewegung. In meinem neuen Projekt verarbeite ich den Lärm von Maschinen, die bei den extraktivistischen Aktivitäten zum Einsatz kommen, bei der Ölförderung, beim Fracking. Ich verarbeite das Geräusch des Abwassers, das in unsere sauberen Gewässer geleitet wird. Wir Mapuche werden immer mit der Pflege der Natur in Verbindung gebracht, dabei verteidigen wir sie in erster Linie. Die Schönheit der Natur, in der wir leben, hat eine solche Kraft, dass wir gern mit der Natur gleichgesetzt werden, aber das würde nicht passieren, wenn sie die Texte unserer Musik verstehen würden. Da sie das aber nicht können, übersehen sie das Radikale in unserer Arbeit: unsere Missbilligung und unseren Vorwurf.

Übersetzung: Lui Lüdicke

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