Der Streik der Lehrergewerkschaft CNTE – Proteste gegen eine Bildungsreform, die an den Bedürfnissen der Betroffenen vorbeigeht

Von Knut Hildebrandt

(Mexiko-Stadt/Berlin, 01. Oktober 2016, npl).- Mitte Mai 2016 begannen Mitglieder der linken Lehrergewerkschaft CNTE (Coordinadora Nacional de Trabajadores de la Educación) einen unbefristeten Streik, um ihrer Forderung nach Rücknahme des im Jahr 2013 beschlossenen Reformpakets im Bildungssektor Nachdruck zu verleihen. Am 19. Juni 2016 kam es dann im südmexikanischen Bundesstaat Oaxaca zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Demonstrant*innen und Bundespolizei. Mindestens acht Menschen wurden von der Polizei erschossen, als diese versuchte die Autobahn zwischen den Bundesstaaten Puebla und Oaxaca zu räumen. Die strategisch wichtige Durchfahrtsstraße wurde durch Lehrer*innen und die sie unterstützende Bevölkerung tagelang besetzt gehalten. Mit ihren Barrikaden protestierten die Demonstrant*innen gegen die Umsetzung einer Bildungsreform, die an den Bedürfnissen von Schüler*innen und Lehrer*innen in weiten Teilen des Landes vorbeigeht.

Auch wenn es nach der tödlichen Konfrontation zu ersten Gesprächen zwischen Regierung und CNTE kam, gibt es weiterhin unüberwindbare Differenzen. Doch weshalb sind die Positionen der Konfliktparteien so unvereinbar, dass sie sich nicht auf ein von allen Seiten getragenes Reformpaket einigen können?

Luis Hernández Navarro kennt die Bedingungen genau, mit denen die Lehrer*innen im verarmten Süden Mexikos zu kämpfen haben. Er leitet die Meinungsseite der linksliberalen Tageszeitung La Jornada. Und er schrieb mehrere Bücher über die Reformbemühungen der oppositionellen, linken Lehrergewerkschaft CNTE, die er selbst mitgegründet hat.

Enorme Ungleichheit und fehlende soziale Gerechtigkeit im mexikanischen Bildungssystem

Hernández sieht ein großes Problem in der enormen Ungleichheit und der fehlenden sozialen Gerechtigkeit im mexikanischen Bildungssystem. Der Großteil der finanziellen Mittel wird für Schulen in den reichsten Teilen des Landes ausgegeben. Doch fast die Hälfte der Schulen Mexikos sind jahrgangsübergreifende Schulen in verarmten ländlichen Gemeinden. In ihnen unterrichtet eine einzelne Lehrkraft Schüler mehrere Klassenstufen in ein und demselben Klassenzimmer. Und das sind die Schulen, denen die geringsten finanziellen Mittel zur Verfügung stehen.

An ihrer Schule gebe es nicht einmal richtige Toiletten, sondern nur ein Plumpsklo, beschreiben Lehrerinnen aus einer kleinen Gemeinde im südmexikanischen Bundesstaat Oaxaca beispielhaft die Situation an ihrer Schule im ländlichen Mexiko. Die zwei Klassenzimmer seien heruntergekommen und dienten gleichzeitig als Lagerraum und Rektorat. Und es gebe keinerlei Lehrmaterial. Man müsse die Eltern um Spenden bitten, damit es gekauft werden könne.

Die Probleme der jahrgangsübergreifenden Schulen, ihre Unterfinanzierung und schlechte Ausstattung mit Lehrmitteln werden mit der beschlossen Bildungsreform nicht angegangen, unterstreicht Hernández. Im Gegenteil. Unter dem Vorwand, den Schulen eine größere Autonomie zu geben, soll den Eltern die Verantwortung zur Aufrechterhaltung des Schulbetriebs übertragen werden. Eine zusätzliche Belastung, die viele Eltern kaum werden stemmen können.

Luis Hernández Navarro: Wesentliche Probleme geht die Reform nicht an

Der Publizist Hernández geht sogar noch einen Schritt weiter. Er erklärt, dass die umstrittene Reform keines der wesentlichen Probleme des mexikanischen Bildungssystems angeht. Fünf Millionen Erwachsene können weder lesen noch schreiben. Vierzig Prozent der mexikanischen Kinder und Jugendlichen erlangen nur den Grundschulabschluss. Und das nicht zuletzt, weil viele Schüler*innen aus wirtschaftlichen Gründen vorzeitig die Schulausbildung abbrechen.

Ein wichtiger Punkt der Reform allerdings ist die Öffnung des Bildungssektors für die Kräfte des freien Marktes. Laut Hernández folgt die Reform dem Diktat der mexikanischen Unternehmerverbände. Darüber hinaus haben Institutionen wie die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD, eine Reihe von allgemeinen Empfehlungen formuliert, die Bestandteil der Reform geworden sind. Die Reform dereguliert das Bildungssystem, um den Kräften des Marktes eine umfassendere Beteiligung daran zu ermöglichen. Und somit öffnet sie mittelfristig die Tür für eine Privatisierung des Bildungssektors.

CNTE wehrt sich gegen umstrittene Evaluierung

Abgesehen davon, dass den privaten Unternehmen ein größerer Einfluss auf den Bildungssektor gewährt werden soll, verfolgt die Reform noch ein zweites großes Ziel. Der Einfluss der vor allem im Süden Mexikos starken CNTE soll zurück gedrängt werden. Um dies zu erreichen, wurde eine obligatorische Evaluierung der Lehrkräfte in das Reformpaket aufgenommen. In regelmäßigen Abständen sollen sich die Lehrer*innen einem landesweit einheitlichen Test durch die Schulbehörden unterziehen. Wer sich der „Leistungskontrolle“ verweigert oder bei ihr schlecht abschneidet muss gehen. Vor allem gegen diese bestrafende Evaluierung wehrt sich die CNTE.

Hernández unterstreicht, dass die Mitglieder der CNTE sich nicht gegen eine Überprüfung ihrer Arbeit stellen. Wogegen sie sich aber wehren, ist die Einführung einer bestrafenden Evaluierung, die anstatt das Gute ihrer Arbeit hervor zu heben und Lösungen für Defizite zu suchen, das Hauptaugenmerk auf Sanktionen legt und ihnen die Arbeitsplatzsicherheit nimmt. Die in der Gewerkschaft organisierten Lehrer*innen lehnen ein standardisiertes Evaluierungsverfahren ab, das weder die kulturelle und sozioökonomische Diversität des Landes, noch die Einschätzung von Kolleg*innen berücksichtigt und in vielen Fällen kaum etwas mit ihrer Arbeitsrealität zu tun hat.

Lehrer*innen auf dem Land bringen mehr als nur Schulbildung

In den Armenvierteln und ländlichen Gemeinden Mexikos leisten Lehrer*innen mehr, als nur den Kindern und Jugendlichen Wissen zu vermitteln. Sie spielen eine wichtige Rolle im sozialen Leben ihrer Kommunen. Die Lehrer*innen helfen den Menschen bei Behördengängen, halten Erste-Hilfe-Kurse ab oder begründen Initiativen zur Einhaltung der Hygiene an. Aber sie treten auch gegen Menschenrechtsverletzungen und religiösen Fanatismus auf. Deshalb bringen viele Gemeinden ihnen großen Respekt und volles Vertrauen entgegen. Das erklärt auch die breite Unterstützung der CNTE durch die Bevölkerung im Süden des Landes.

Luz del Monte Lara, Ortsvorsteherin der Mixteken-Gemeinde Santo Domingo Yanhuitlán im südmexikanischen Bundesstaat Oaxaca, unterstrich dies noch einmal auf einer Versammlung mit Vertreter*innen der CNTE im Juli dieses Jahres. Dort verurteilte die Repression der Regierung gegen die Lehrergewerkschaft und die Familien, gegen die sozialen Organisationen und die Gemeinden, die gemeinsam mit der Gewerkschaft gegen die Bildungsreform demonstrieren. Darüber hinaus trat sie für die Absetzung von Bildungsminister Aurelio Nuño Meyer sowie die Erfüllung der Forderungen der CNTE und der indigenen Völker Oaxacas ein.

Teilerfolg der Proteste

Seit Mitte September sind auch die letzten Lehrer*innen wieder aus den Protestcamps in die Klassenzimmer zurückgekehrt. Denn zumindest einen Teil ihrer Forderungen hat die Regierung erfüllt. Die bestrafende Evaluierung wurde zurück genommen. Das Verfahren soll bis nächstes Jahr überarbeitet werden. Bereits entlassene Lehrerinnen und Lehrer können in ihre Schulen zurückkehren. Aber der Kampf der CNTE geht weiter. Ihr Ziel ist ein Bildungssystem, das den unterschiedlichen Bedingungen in den verschiedenen Landesteilen gerecht wird und dabei allen Mexikaner*innen gleiche Bildungschancen gewährt.

Zu diesem Artikel gibt es einen Audiobeitrag den ihr hier anhören könnt.

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