Zwangsrekrutierung von Kindern zwingt Indigene zur Flucht

von Marie-Hélène Verney

(Fortaleza, 21. August 2009, adital).- Die Provinz Vaupés liegt in einem abgelegenen Winkel Kolumbiens an der Grenze zu Brasilien. Hier leben 27 verschiedene Indígena-Stämme, jeder mit einer eigenen Sprache und Kultur. Doch durch andauernde militärische Konflikte und Vertreibung besteht die Gefahr, dass viele von ihnen nicht mehr lange überleben.

Mit etwa 50.000 Quadratkilometern ist der Verwaltungsbezirk Vaupés recht groß. Er besteht jedoch fast ausschließlich aus Urwald und Flussregionen. Lediglich um die Provinzhauptstadt Mitú führen 16 km asphaltierte Straße. Von hier aus gibt es zweimal pro Woche eine Flugverbindung nach Bogotá. Abgesehen davon ist der Fluss Vaupés das einzige Transportmittel in die Außenwelt.

Die Region Vaupés ist außerdem eines der wichtigsten Rückzugsgebiete der größten inoffiziellen bewaffneten Gruppe des Landes, der FARC. Sie kontrolliert die ländliche Region, während die offiziellen Streitkräfte aufgrund der Unzugänglichkeit des Gebietes nur mit Mühe in der Umgebung des Städtchens präsent bleiben. Entlang des Flusses leben viele Gemeinden wie Verbannte in erzwungener Isolation. Die prekäre Sicherheitslage zwingt viele Menschen zur Flucht.

Immer mehr Indígena-Kinder werden von den bewaffneten Gruppen zwangsrekrutiert. Wie ein Sprecher der Provinzhauptstadt Mitú gegenüber dem Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen UNHCR erklärte, sei der Druck in den letzten Jahren so angewachsen, dass sich die Bedrohung durch Zwangsrekrutierung zu einem Hauptfluchtgrund entwickelt habe. Im Jahr 2008 flohen etwa 500 Familien aus ihrer Heimat, um ihre Kinder vor der Zwangsrekrutierung zu bewahren.

Schon ab 13 Jahren sind die Kinder für die bewaffneten Gruppen als künftige Soldat*innen interessant; ob Junge oder Mädchen, spielt dabei keine Rolle. Da viele Indígena-Ethnien akut vom Aussterben bedroht sind, sieht der Regionale Indígenarat von Vaupés CRIVA (Consejo Regional Indígenas del Vaupés) die Rekrutierung von Indígena-Kindern mit besonderer Besorgnis. Die Ethnie der Pizamira beispielsweise steht kurz vor dem Verschwinden: Erst im letzten Jahr wurden drei Kinder dieser Ethnie, die mittlerweile weniger als 50 Angehörige umfasst, von den bewaffneten Gruppen rekrutiert.

„Viele Eltern gehen in die Wälder, um ihre Kinder zu suchen, aber sie konnten sie nicht wieder mit zurücknehmen“, erklärte ein Sprecher des Indígena-Rats gegenüber dem UNHCR.

Laut CRIVA-Angaben wurden seit Anfang 2008 etwa 42 Kinder gezwungen, sich den bewaffneten Gruppen anzuschließen. Elf davon lebten in der Wohnschule in Bocas de Yi, einer in einer Biegung des Flusses Vaupés angesiedelten Gemeinde. Kinder aus der gesamten Flussregion kommen zum Lernen hierher.

Die etwa 200 Einwohner*innen von Bocas de Yi leben in völliger Isolation ohne einen Zugang zu jeglicher Art von Grundversorgung. Sie teilen das wenige, was sie haben, mit den 160 Kindern, die hier die Schule besuchen. In der Wohnschule gibt es kein Wasser, keine Stromversorgung und keine Toiletten. Einige Kinder schlafen in Hängematten, andere auf dem Boden.

„Die meisten Kinder sind das ganze Jahr über hier, weil das Hin- und Herfahren zu gefährlich ist und auch zu lange dauern würde“, so ein Lehrer. „Wir haben hier Jahr für Jahr mit sehr harten Bedingungen zu kämpfen. Diese Kinder haben praktisch keine Perspektive, und dadurch sind sie natürlich enorm empfänglich für die Versprechungen skrupelloser Menschen.“

Die Zwangsrekrutierung erfolgt nicht immer unter Anwendung von Gewalt. Eine häufig angewendete Methode ist, die jungen Leute so zu indoktrinieren, dass sie sich in die Aussicht auf ein besseres Leben „verlieben“, wie man hier sagt. Doch nach dem humanitären Völkerrecht gilt die Rekrutierung von Minderjährigen durch illegale bewaffnete Gruppen immer als Zwangsrekrutierung, unabhängig davon, ob die Kinder sich freiwillig der Gruppe anschließen oder nicht.

Anstatt zu riskieren, ihre Kinder zu verlieren, entschließen sich viele Familien zu fliehen. Etwa 3.000 Personen, also ein Prozent der Bevölkerung von Vaupés, sind auf der Flucht.

Im Rahmen einer nationalen Initiative arbeitet das UNHCR gemeinsam mit den in Vaupés stationierten Militärs daran, die Vertriebenen über ihre Rechte zu informieren. „In Kolumbien sind die Militärs häufig den ersten und einzigen Repräsentanten des Staates für bedrohte Gemeinden“, so Roberto Mignone, stellvertretender UNHCR-Leiter in Kolumbien. „Beim Schutz der Menschen vor gewaltsamer Vertreibung spielen die bewaffneten Streitkräfte eine entscheidende Rolle.“

Aufgrund der starken kulturellen, gesellschaftlichen und ökonomischen Bindung der indigenen Bevölkerung an die Erde hat Vertreibung auf sie besonders gravierende Auswirkungen und kann sogar das Verschwinden ganzer Ethnien zur Folge haben. Nach Angaben des kolumbianischen Verfassungsgerichts ist davon ein Drittel der etwa 90 verschiedenen im Land lebenden Ethnien bedroht.

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