Wir dokumentieren: Der Kampf für freie Abtreibung geht weiter

(Puebla, 1. Februar 2021, desinformémonos).- Ich kann ihren Namen nicht nennen, weil sie noch ein Kind ist. Zum Zeitpunkt ihrer Vergewaltigung war sie 12 Jahre alt, zu jung, um offiziell arbeiten zu gehen, alt genug jedoch, um in die Rolle der werdenden Mutter gezwungen zu werden. Sie war eine Schülerin von mir. Ich erinnere mich noch, wie ich vor ein paar Jahren mit ihr Karten gespielt habe. Wie sie aufgejauchzt hat vor Vergnügen, wenn wir sie herumgewirbelt haben, eine Kollegin und ich, eine hielt sie an den Füßen, die andere an den Händen. Ihr Vergewaltiger hatte sie am hellichten Tag angegriffen, als sie die Straße in ihrem Viertel entlangging. Als sie erfuhr, dass sie schwanger war, half ihr Vannesa Rosales-Gautier, eine Lehrerkollegin und Frauenrechtlerin aus Venezuela, die Schwangerschaft zu beenden. Während der Vergewaltiger weiterhin auf freiem Fuß ist, schickte man Vannesa ins Gefängnis. Am 12. Oktober wurde ihre Wohnung von Sicherheitsbeamten gestürmt und Vannesa verhaftet. Ihr wird die Bildung einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen, außerdem soll sie einer dritten Person ohne deren Zustimmung zu einer Abtreibung verholfen haben. Ihr Fall wurde noch nicht verhandelt, was eine Verletzung des Prozessrechts bedeutet. Ihr drohen nun 25 Jahre Gefängnis. Auch die alleinerziehende Mutter des 12-jährigen Mädchens war eine Zeit lang inhaftiert. Dass ihre acht minderjährigen Geschwister ohne Betreuung zurückblieben – geschenkt. Es ging immerhin um einen Fötus.

Gesundheit und Wohlbefinden erfordern Autonomie

Eine Frau oder ein Kind zu zwingen, eine Schwangerschaft auszutragen bedeutet, ihr die Kontrolle über ihr Leben aus der Hand zu nehmen. Die Zukunft des Mädchens, die großen oder kleinen Dinge, die es sich vom Leben erhoffte, seine Möglichkeit zur Selbstverwirklichung, die Chance, die Frau zu werden, die es hätte werden können, all‘ das geht damit verloren. Unsere Körper werden als Werberequisiten benutzt, wir sind die Trophäen für den imperialistischen Filmhelden, der gegen das Böse kämpft und alle Schurken tötet. Von klein auf wird uns vermittelt, dass unsere Gesichter und Körper mehr zählen als unsere aktive Beteiligung in der Gesellschaft. Zum Glück bedeutet Leben jedoch Bewegung, Leben bedeutet Umschwung, Prozess, Veränderung – und Autonomie. Wer uns das Recht verweigert, über unsere Zukunft zu entscheiden, nimmt uns das Recht, lebendige mutige Wesen zu sein, die Freude empfinden und eigenständig denken. Autonomie bedeutet, selbst über unsere Handlungen zu bestimmen. Autonomie nicht zu besitzen heißt, kontrolliert und unterdrückt zu werden. Es geht nicht darum, uneingeschränkt nach dem eigenen Willen zu handeln, sondern über alle notwendigen Informationen und Ressourcen zu verfügen, um bewusst und verantwortungsvoll entscheiden zu können.

Freiheit bedeutet nicht, die Wahl zu haben zwischen 50 verschiedenen Sorten Kartoffelchips

Kürzlich war ich in einem Vogelpark in Xalapa. Dort gab es fünf Adler, die an Felsen oder Stangen angebunden waren. Man konnte genau sehen, wie wütend sie waren, weil sie nicht fliegen konnten und nicht auf die Besucher*innen des Parks zu reagieren vermochten, die ihnen ihre Handys vors Gesicht hielten, um Fotos zu machen. Niemand mag es, wenn ihm oder ihr die Macht über das eigene Handeln genommen wird. Jedes Tier setzt sich dagegen zur Wehr. Die Verweigerung von Autonomie führt zu Verbitterung, sie lähmt und macht dumpf. Autonomie ist die Voraussetzung einer vernunftbestimmten Existenz. Unsere Füße liegen in Ketten, unser Geist wird von engen Wänden begrenzt. Freiheit bedeutet nicht, zwischen 50 Sorten Kartoffelchips wählen zu können. Es geht um die Möglichkeit, dein individuelles und gesellschaftliches Potenzial auszuschöpfen. Es geht darum zu lernen und zu wachsen, es geht um die eigenen Ziele, um die Planung des eigenen Lebens und um die Chance, Entscheidungen sorgfältig zu treffen. Verhütungsmittel nur auf Rezept auszugeben oder uns bei jeder Gelegenheit über die moralischen Aspekte der Abtreibung zu belehren bedeutet, uns wie Kinder zu behandeln, ohne Verstand und Lebenserfahrung.

Unsere Militanz wird als gewalttätig wahrgenommen

Frauen, trans- und nicht-binäre Menschen werden ihrer Autonomie beraubt oder, um im Bild zu bleiben, gefesselt und bewegungsunfähig gehalten. Das ist die derzeitige Normalität. Kürzlich sagte ein Mann zu mir ganz ungeniert, so als sei dies völlig normal, Frauen, die abtreiben, hätten die Todesstrafe verdient. So eine Äußerung macht deutlich, wie wenig wir zählen. Allein in Mexiko, allein im letzten Jahr wurden fast eintausend Femizide zur Anzeige gebracht. Eine erschreckende Bilanz, insbesondere weil ein Großteil der Täter nicht bestraft wird. Ebenfalls erschreckend allerdings auch der strukturelle politisch-soziale Subtext: Unsere Existenz ist nicht relevant.

Ich lebe in Puebla. Hier gilt Abtreibung als Verbrechen. Wäre ich ungewollt schwanger und auf der Suche nach einem Schwangerschaftsabbruch, würde ich mich in den Augen des juristischen, medizinischen und psychologischen Fachpersonals schuldig machen, und niemand würde mich fragen, was ich brauche. Wie erschafft man eine Welt, in der die Leute uns Frauen fragen, was wir brauchen? Wir wissen, dass es nicht der Fötus ist, um den sich die Abtreibungsgegner*innen  sorgen. Jahrelang gab es in ganz Lateinamerika immer wieder friedliche Proteste, die erfolglos blieben und von den jeweiligen Regierungen nicht weiter ernstgenommen wurden. Der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador empfahl den Feministinnen, eine öffentliche Konsultation zu organisieren, um Abtreibungsrechte zu erlangen (im Übrigen vertritt er die Ansicht, dass die meisten Anzeigen wegen häuslicher Gewalt nur Fake sind). Nun haben Frauen begonnen, Wände, Polizeiautos und Statuen mit Graffiti zu „verschönern“ und besetzen sogar staatliche Kongressgebäude und Menschenrechtskommissionen. Diese neuen Aktionen wurden von vielen Männern als „gewalttätig“ bezeichnet, die Kritiken verstummten jedoch, als die Polizei von Cancún mit Schusswaffen gegen Teilnehmer*innen einer feministischen Demonstration vorging. Offensichtlich kommt es nicht gut an, wenn Frauen nicht länger idealisierte Schönheitsobjekte und Spielfigürchen mit hübschem Lächeln sein wollen, sondern auf die Straße gehen, um für ihre Forderungen zu kämpfen, mutig und laut.

Die grüne Welle in Lateinamerika

In Kuba, Guyana und Uruguay sind Schwangerschaftsabbrüche legal, und kürzlich wurde auch in Argentinien das Recht auf freie und kostenlose Abtreibung eingeführt. In den übrigen Ländern Lateinamerikas sind Schwangerschaftsabbrüche verboten oder nur sehr eingeschränkt möglich. In Mexiko bilden Mexiko-Stadt und der Bundesstaat Oaxaca eine Ausnahme, doch selbst in Mexiko-Stadt weigern sich viele Ärzt*innen, Abtreibungen vorzunehmen, errichten bürokratische Hürden oder versuchen, Frauen, die einen Abbruch vornehmen wollen, moralisch unter Druck zu setzen. In El Salvador werden Abtreibungen mit zwei bis acht Jahren Gefängnis bestraft, in einigen Fällen lautet die Anklage sogar auf Mord. Einige Frauen wurden zu 40 Jahren Gefängnis verurteilt. In Brasilien erregte kürzlich der Fall eines 10-jähriges Mädchens internationale Aufmerksamkeit: Das Kind hatte über Jahre sexuellen Missbrauch erlitten. Religiöse Fanatiker*innen protestierten vor dem Krankenhaus, um das Mädchen von der Abtreibung abzubringen. Die Ärzte weigerten sich ebenfalls, den Abbruch durchzuführen. Das Kind musste in einen anderen Bundesstaat reisen, um dort abzutreiben.

Sexismus und Ungleichheit sind tief in der Gesellschaft verwurzelt

Den Behörden in Lateinamerika geht es im Zusammenhang mit der Abtreibung nicht um einen umstrittenen medizinischen Eingriff, denn davon gibt es in der Medizin noch viele andere, von denen man so gut wie nie etwas hört. Wie Frauen wahrgenommen und behandelt werden und welchen Stellenwert Fortpflanzung hat, wurde im Wesentlichen von der katholischen Kirche geprägt, die mit den europäischen Invasoren auf den Kontinent gelangte. Sexismus und Ungleichheit sind tief in der Gesellschaft verwurzelt. Die gesamte Region wurde konsequent ihrer Autonomie beraubt: Die Vereinigten Staaten diktierten Handelsbedingungen und wirtschaftliche Maßnahmen in den einzelnen Ländern, halfen bei der Errichtung von Diktaturen, unterstützten Putsche, finanzierten die Bewegung der Contras und so weiter und so fort. Politische Autonomie ist kein Alltagsphänomen und wird, anders als an manchen anderen Orten, nicht als selbstverständliches Recht wahrgenommen. Trotz der Corona-Pandemie hat die Bewegung für das Recht auf Abtreibung und auf ein Leben ohne Gewalt im letzten Jahr zugenommen. Große Demonstrationen auf dem ganzen Kontinent und besonders in Argentinien haben sich motivierend auf die feministische Bewegung in Mexiko ausgewirkt. Im März 2020 wurde ein vielbeachteter landesweiter Frauenstreik ausgerufen, mit dem ein Ende der Femizide und der Gewalt gefordert wurde. In ganz Lateinamerika wurden die grünen Halstücher zum Symbol der Forderung nach dem Recht auf freie, sichere und kostenlose Abtreibung.

Das Recht zu wachsen

In weiten Teilen Lateinamerikas, aber auch in anderen Teilen der Welt gehört es zum Alltag vieler Menschen, bis zum Umfallen zu arbeiten. Erschöpfung ist der Normalzustand. Das Leben ist machbar, wenn man ein Dach über dem Kopf und irgendwie Zugang zu gesundheitlicher Versorgung hat. Der normale Tagesablauf besteht darin, sich die Brosamen zu erkämpfen, die vom Tisch der Superreichen abfallen, während sie es sind, die alle Entscheidungen treffen. Sinnentleerter Müll im Fernsehen liefert die Begleitmusik. Wer ohnehin schon marginalisiert lebt, wird noch weiter unterdrückt und ist ständigen Beschimpfungen und Gewalt verschiedener Art ausgesetzt. Anlass zu Optimismus gibt die Situation nicht her. Dass Frauen, die mit den entmenschlichenden Klischees der Medien und traditionellen Geschlechterrollen aufgewachsen sind, die Missbrauch am Arbeitsplatz, Vergewaltigung und gewalttätige Übergriffe aller Art erlebt haben, dennoch daran glauben, dass wir es verdienen zu wachsen und uns zu entwickeln, erfordert Mut und Vorstellungskraft. Für uns ist es nicht leicht, daran festzuhalten, dass wir das Recht haben, von einer aufregenden, abenteuerlichen und freudigen Zukunft zu träumen, in der eigene Kinder vorkommen ‑ oder auch nicht.

Imagine all the people sharing all the world

Sich eine Welt vorzustellen, in der Frauen wachsen können, anstatt nur knapp zu überleben, in der Kindererziehung der gesellschaftlichen Verantwortung zugerechnet wird und nicht von Alleinerziehenden oder von Paaren gestemmt werden muss, eine Welt, in der Babys zu glücklichen, gesunden Menschen heranwachsen, weil ihre Mütter und Väter nicht gezwungen wurden, sie zu bekommen und in finanzieller, pädagogischer und psychologischer Hinsicht in der Lage dazu sind bzw. die rechtliche, berufliche und professionelle Unterstützung bekommen haben, die sie brauchten – sich eine solche Welt vorzustellen ist nicht gerade leicht. Wären wir im Besitz der vollen Selbstbestimmung über unser individuelles und gesellschaftliches Leben, wäre unser Selbstwertgefühl vermutlich stärker, die Liebe würde nicht so leicht zerbrechen, und für uns alle wäre es einfacher zu lernen, wie man gute Entscheidungen trifft.

Vannesa berichtete mir von „starken und authentischen Verbindungen“, die einige Frauen im Gefängnis aufbauen. Außer ihr gebe es noch andere, die von überzogenen Anklagen betroffen seien. Das Thema Frauenrechte gehöre nicht zu den Dingen, dem man „mit Publicity und kosmetischen Änderungen der Gesetze“ beikommen könne, betont sie. Dank einer erfolgreichen, länderübergreifenden Kampagne in ganz Lateinamerika konnte meine Kollegin Ende Januar nach Hause zurückkehren. Die Anklagen gegen sie werden jedoch aufrechterhalten. Der chilenische Kongress wird in Kürze über die Entkriminalisierung der Abtreibung debattieren. Sicher ist also: Der Kampf geht weiter.

Übersetzung: Lui Lüdicke

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