Wie Aktivistinnen gegen Feminizide und Straflosigkeit kämpfen

(La Paz, 11. April 2022, npla).- In Bolivien werden jedes Jahr mehr als 100 Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts getötet, sie sind Opfer eines Feminizides. Die Täter sind aktuelle oder ehemalige Partner, Familienangehörige oder Fremde, und viel zu häufig werden sie für ihr Verbrechen nicht bestraft. Die Proteste gegen Feminizide werden in Bolivien immer lauter, mehrere Organisationen versuchen, Frauen vor diesen Gewaltverbrechen zu schützen. Doch wie wirkt sich die Pandemie auf Gewalt gegen Frauen, Mädchen und gegen LGBTIQ* aus?

Protest vor dem Gerichtshof in La Paz

Es sind die Namen von ermordeten Frauen und Mädchen, die die Demonstrantinnen an diesem Tag rufen. Die Namen von Frauen und Mädchen, die von ihren Ehemännern, Partnern, Familienangehörigen oder Fremden getötet wurden. Die Demonstrierenden schreien diese Namen, um an die Toten zu erinnern, und weil sie selbst eine unerträgliche Trauer und Wut darüber spüren, dass immer wieder neue Feminizide geschehen. Und weil die Täter viel zu oft ohne Strafe bleiben.

An diesem 31. Januar sind mehrere Tausend Frauen von der Stadt El Alto hinunter zum Gerichtshof in La Paz gezogen, um gegen machistische Gewalt und die Korruption in der Justiz zu demonstrieren. Denn in El Alto war wenige Tage zuvor ein Verbrecher festgenommen worden, dessen Taten viele in Bolivien erschütterten: Der 32 Jahre alte Richard Choque vergewaltigte in den vergangenen Jahren mindestens 77 Frauen, darüber hinaus tötete er die 17 Jahre alte Lucy und die 15 Jahre alte Iris und vergrub beide in seinem Haus. Ungeheuerlich ist, dass Choque schon 2015 wegen des Mordes an der 20-jährigen Blanca zu 30 Jahren im Gefängnis verurteilt worden war, dann hatte ihn aber ein Richter in den Hausarrest entlassen und damit die neuen Taten erst ermöglicht – angeblich erfolgte die Straflockerung im Gegenzug für 3.500 US-Dollar Bestechungsgeld.

Für Kiyomi Nagumo ein schrecklicher Fall, der leider typisch für Bolivien sei: „Ist Dir klar, wie wenige der mehr als hundert Feminizide, die in Bolivien jedes Jahr verübt werden, vor Gericht gebracht werden und wirklich Gerechtigkeit erfahren? Dies ist nicht der erste Fall: Es gibt so viele Fälle von Morden an Frauen, und viel zu häufig bleiben Vergewaltiger und Frauenmörder straffrei, die unter dem Schutz von Staat und Justiz stehen.“ Kiyomi ist Aktivistin bei Salvaginas, einer ökofeministischen Gruppe, deren Name sich auf einen Begriff der spanischen Kolonisatoren bezieht: Bei deren ersten Expeditionen um das Jahr 1500 nannten sie die endemischen und giftigen Pflanzen, die sie nicht kannten, „Salvaginas“. Die Aktivist*innen der Salvaginas in Bolivien verbinden jetzt den Kampf gegen Gewalt an Frauen und Mädchen mit dem Einsatz gegen die Ausbeutung der Natur durch Bergbau, Megastaudämme und Agrarindustrie.

Gewalt als häufigste Todesursache für Frauen zwischen 15 und 49 Jahren

In Lateinamerika ist der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation zufolge Gewalt die häufigste Todesursache bei Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren, noch vor Todesfällen durch Krebs, Malaria und Verkehrsunfälle. Und Bolivien gehört in Lateinamerika statistisch zu den Staaten mit den meisten Feminiziden pro 100.000 Frauen. Seit 2015 wurden in Bolivien in jedem Jahr mehr als 100 Feminizide offiziell erfasst, im vergangenen Jahr 2021 waren es 108 solcher Morde. Und das sind – neben einer großen Dunkelziffer – nur die bekannten und registrierten Verbrechen.

Mit der Covid-19-Pandemie sei die Situation noch schlimmer geworden, betont Kiyomi: „Die Pandemie hat Beweise und ein Bild davon geliefert, wie unsere Gesellschaft aussieht und welchen Gefahren Frauen und Kinder ausgesetzt sind: nämlich häuslicher Gewalt und Vergewaltigungen. Und natürlich ist es ziemlich schwierig, eine dieser Personen darum zu bitten, doch wegen der Pandemie das Haus nicht zu verlassen, wenn es sich um Frauen handelt, die systematischer und ständiger Gewalt ausgesetzt sind. Das ist so, als würde man verlangen, dass sie weiterhin rund um die Uhr mit ihrem Vergewaltiger oder ihrem potenziellen Mörder zusammenlebt“.

Regierungsmaßnahmen zur „Entpatriarchalisierung“ bleiben an der Oberfläche kleben

Die bolivianische Regierung hat 2022 zum „Jahr der kulturellen Revolution der Entpatriarchalisierung“ erklärt. In der Realität werden Gewalttaten an Frauen und Mädchen aber auch in Bolivien verharmlost, oder den Betroffenen wird sogar eine Mitschuld gegeben. Manche Betroffene wissen auch nicht, wo sie eine Gewalttat anzeigen können, zumal Aktivist*innen zufolge sogar Ermittler*innen wie Gerichtsmediziner*innen und Richter*innen die genaue Rechtslage zu Gewaltverbrechen oft nicht kennen. Umso wichtiger ist die Unterstützung durch Organisationen wie Salvaginas, die betroffene Frauen beraten und bei Anzeigen und während Gerichtsprozessen begleiten.

Diese Unterstützung bietet auch die Organisation Feminismo Comunitario Antipatriarcal. Die Aktivistin Adriana Guzmán ist zum Mirador Killi Killi, einem Aussichtspunkt mitten in La Paz gekommen, um über ihren Kampf gegen Gewalt und gegen das Patriarchat zu sprechen, für den sie und ihre Mitstreiterinnen sich in Gemeinschaften, den Comunidades, organisieren und in mehreren Ländern Lateinamerikas vernetzen. Adriana Guzmán berichtet von der strukturellen Gewalt gegen Frauen, vom allgegenwärtigen Machismo und von der Frauenfeindlichkeit, die sich in breiten Teilen der Gesellschaft Boliviens finden. Davon, dass viele Männer immer noch Frauen unterordnen wollen und wie kapitalistisch-patriarchalische Normen den Alltag prägen.

„Rassismus und Faschismus wird sogar im Feminismus selbst reproduziert“

Die Aktivistin unterstreicht, dass bei den Feminiziden auch Rassismus und Faschismus eine Rolle spielen: „Es gibt Frauenmorde, die sichtbar sind und sichtbar gemacht werden, und es gibt Feminizide, die unsichtbar bleiben, wenn zum Beispiel eine Frau in einer ländlichen Gemeinschaft getötet wird. Das ist wirklich ein wichtiger Punkt: Wie der Feminismus dem Faschismus und Rassismus entgegentritt, der sogar im Feminismus selbst reproduziert wird. Ich denke, dass der Feminismus in der Region und in Bolivien die große Verantwortung hat, über diese Themen nachzudenken, jenseits von Debatten über Betreuungsarbeit oder Selbstfürsorge, also den Themen, die der eurozentrische Feminismus hervorhebt.“

Nur ein Bruchteil der Feminizide wird juristisch vollständig behandelt und bestraft

Seit 2013 garantiert in Bolivien das Gesetz 348 Frauen ein Leben frei von Gewalt. Für Feminizide gibt es eine Mindeststrafe von 30 Jahren Gefängnis. So wurde jetzt, nur wenige Wochen nach seiner Festnahme, auch Richard Choque für den Feminizid an der 17 Jahre alten Lucy zu zusätzlichen 30 Jahren Haft verurteilt. Wohl auch wegen des starken Drucks von den Aktivist*innen.

Insgesamt sieht die Bilanz in Bolivien aber schlechter aus: Seit 2013 und bis 2020 wurden 787 Frauenmorde registriert, aber in weniger als einem Drittel der Prozesse kam es zur Verurteilung des Täters. Strafverfahren könnten zudem sechs Jahre oder länger dauern, aus diesem Grund würden 99 Prozent der Frauen, die Opfer von Übergriffen wurden, die Gerichtsverfahren irgendwann nicht weiter verfolgen und in den Kreislauf der Gewalt zurückkehren, warnt die Nichtregierungsorganisation Fundación Voces Libres. Mit anderen Worten: 99 Prozent der Gewalttaten bleiben ungestraft.

Adriana Guzmán betont, dass die Pandemie die Lage für viele Frauen und Mädchen sogar noch verschlimmert hat. Prozesse würden monatelang verschoben oder fänden nur virtuell statt. Das erschwere vielen Frauen eine Teilnahme und behindere auch die Unterstützung der Betroffenen durch Feminismo Comunitario Antipatriarcal oder sichtbare Protestaktionen. „Gewalt gegen Mädchen und Frauen, die mehr Zeit mit ihren Angreifern verbringen mussten, weil sie nirgendwo anders hingehen können, und die schließlich vergewaltigt wurden und Gewalt erfahren haben – das ist das Hauptmerkmal der Pandemie“, sagt Adriana. „Für Frauen bedeutet die Pandemie eine Verschärfung von Gewalt, Vergewaltigung und Straffreiheit. Weil es Ausgangssperren oder Beschränkungen gibt, kann die Polizei bei einem Notruf nicht zu ihnen nach Hause kommen, und ins Gericht lassen sie dich nicht hinein. Das ist eine Straffreiheit, die eindeutig machistisch und frauenfeindlich ist.“

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