Interview: „Im Kapitalismus sind keine tief greifenden Veränderungen möglich“

von Andrés Figueroa Cornejo

(Fortaleza, 16. April 2015, adital).- In der Eisenbahnergesellschaft der chilenischen Hauptstadt (Federación Industrial Ferroviaria de Santiago de Chile) treffe ich auf Rosa Ramírez Ríos, die legendäre „Negra Ester“. Hier hatte die Schauspielerin den Monolog aus “El Despertar de una mujer“ (Das Erwachen einer Frau) zum Besten gegeben. Das Publikum bestand aus jungen Arbeiter*innen, Student*innen und der neuen, von der politischen Unabhängigkeit der Arbeiterklasse geprägten GewerkschafterInnen-Generation, die die historische Verbindung zwischen Theater, Kunst und den unteren Gesellschaftsschichten wiederaufleben lassen möchte. Die Aufführung fand im Rahmen eines Programms zur Förderung der antikapitalistischen kulturellen Bildung der am stärksten prekarisierten Teile der chilenischen Arbeiterschaft statt, die sich nach der Zerstörung des Kodexes der „unbefleckten Arbeiterklasse“ nach der Diktatur neu formiert hat.

Die Regie bei Rosas ergreifendem Auftritt führte Alejandro Gutiérrez, ebenfalls Schauspieler des Gran Circo Teatro. Es ist bereits fast Mitternacht, als wir ein nahe gelegenes Café betreten. Die Schauspielerin Rosa Ramírez Ríos, Darstellerin der „Negra Ester“, spricht über das Verhältnis zwischen Arbeiterpolitik und Theater.

Warum heißt dieser Monolog „Das Erwachen einer Frau”?

“Ich beziehe mich mit diesem Titel auf die von Luis Emilio Recabarren gegründete Zeitung „El Despertar de los Trabajadores“ (Das Erwachen der Arbeiter), die mir als Anregung beim Schreiben und bei den Aufführungen dient. „Das Erwachen einer Frau“ hat einiges mit meinem Leben und mit dem Leben vieler Frauen und Männer zu tun. Ich möchte mit diesem Werk ausdrücken, dass wir alle die Möglichkeit haben, uns zu fragen, was wir eigentlich tun, um an der dringend notwendigen Reform der chilenischen Gesellschaft mitzuwirken.”

“Was ich erschreckend finde, ist die derzeitige gesellschaftliche Entfremdung, die einen großen Teil der Bevölkerung in diesem Land erfasst. Die Menschen funktionieren einfach weiter in diesem System, das voller Fallen ist”, erklärt Rosa in diesem Chile im April 2015: Korruption und geheime Absprachen sind in Politik und Wirtschaft allgegenwärtig geworden und haben das Vertrauen eines Großteils der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen in eine schwere Krise gestürzt.

Ausschlaggebend waren diesmal die Enthüllungen über die Einflussnahme des Kapitals auf den politischen Lobbyismus in einem von tiefen Rissen gezeichneten System, einer Demokratie, die in den letzten Zügen liegt und sich nur mehr durch die Macht des Polizeistaats am Leben hält, abhängig und gegängelt vom globalen Liberalismus. Dazu hatte es einige mysteriöse Brände in Mapuche-Gebieten gegeben, die den Interessen der Forstwirtschaft in die Hände spielten. Die Umwelttragödie im Norden des Landes will nicht recht zum positiven Bild passen, das der Staat gegenüber potentiellen Investor*innen propagiert, und rückt stattdessen Tod und Elend in den Vordergrund.

Eine entfremdete und willenlose Gesellschaft

Worauf beziehst du dich, wenn du von Entfremdung sprichst?

„Ich finde kollektive Prozesse sehr wichtig, und genauso glaube ich auch an Eigenverantwortung. Wenn ich meinen Handlungsspielraum nicht ausschöpfe, kann ich nicht andere dafür verantwortlich machen. Wenn ich die Möglichkeit habe, mir über die schwerwiegenden Probleme der Menschheit und des Landes bewusst zu werden – und ich bin nicht super-bekannt und auch nicht auf dem Saturn gelandet, sondern eine ganz normale Frau – dann ist es schwer zu verstehen, wieso so viele Menschen einfach weggucken in einer Gesellschaft, in der in jeder Hinsicht Unterdrückung herrscht. Sogar unsere intimsten Gefühle, unsere Sehsucht nach gesellschaftlicher Umwandlung werden unterdrückt. Das ist der Kerngedanke in meinem Monolog.“

An welchen Punkten wird diese Entfremdung in weiten Teilen der chilenischen Gesellschaft deiner Meinung nach am meisten spürbar?

„Viele Menschen befassen sich nicht mit ihrer eigenen Geschichte. Ich finde, wir sind ein Land, das zur Unterwürfigkeit neigt, hier herrscht eine Art Grundtendenz zu passivem Gehorsam. Immer erscheint es uns am einfachsten, wenn sich jemand anderes unserer Probleme annimmt: irgendeine Obrigkeit, eine Führungsinstanz, jemand anderes als wir. Aus dieser Tendenz entsteht eine Willenlosigkeit, gesellschaftlich wie individuell, die uns daran hindert, Veränderungen herbeizuführen, die wir andernfalls in bestimmten Momenten unserer Geschichte hätten erreichen können.“

Gesellschaftliche Verantwortung

In deinem Monolog verbindest du dein Leben mit der Parteinahme und schlägst eine existenzielle Richtung ein…

„Ich habe die Unidad Popular erlebt, als ich bereits eine erwachsene Frau war. Ich wurde in Tocopilla (Norte Grande) zwischen Kupfer- und Salpeterminen geboren. Mit 17 Jahren musste ich bereits für mich selbst sorgen. Es ist schwer, sich dieser Verantwortung zu stellen. Man begeht Irrtümer, logisch, man ist aber auch genauso in der Lage, die Dinge zu verändern, die einen in die Irre führen. Vor allem, wenn man als Team agiert. So erkennt man schneller, wo Verbesserungen nötig sind. Deshalb finde ich eine Organisierung so wichtig. Allerdings denke ich dabei an eine Organisation, in der alle aufmerksam dabei sind, alle sind Protagonist*innen, es werden keine Entscheidungen an eine Chef-Instanz delegiert.“

Die Botschaft ist eindeutig…

„Wir selbst haben Leute in öffentliche Ämter gehoben, die sich nun als Verräter*innen entpuppen. Die Präsidentin unseres Landes, an deren Seite noch verschiedene andere Parteien agieren, nennt sich „sozialistisch“, ich bin jedoch davon überzeugt, dass das herrschende wirtschaftliche, soziale, kulturelle und politische System nicht in der Lage ist, auch nur ein einziges unserer Probleme zu lösen. In einem kapitalistischen System wird es niemals gelingen, tief greifende Veränderungen für das Volk umzusetzen.“

Welches konkrete Beispiel fällt dir dazu ein?

“In Chile haben die Mächtigen eine Gerichtsbarkeit und ein Institutionengeflecht ganz nach ihren Wünschen geschaffen. Deshalb existieren nicht einmal Lizenzgebühren für den Bergbau, und so häufen sich die Umweltkatastrophen, und die Lebensbedingungen in etlichen Dörfern werden immer schlechter, zum Beispiel durch Wasserknappheit. Seit ich denken kann, seit meiner frühesten Kindheit, ist der Arsengehalt in unserem Trinkwasser aufgrund der Minentätigkeit erhöht. Und nie hat jemand etwas gegen diese Vergiftung unternommen. Die Herrschenden haben sich immer nur um das Wohlergehen und die Rendite der Unternehmen gesorgt. Von klein auf gab es hier die Kupferminen, die einer nordamerikanischen Firma gehörten, und dort die Salpeterwerke, die fest in den Händen englischer Investoren waren. Und die Leidtragenden waren immer die armen Bergarbeiterfamilien.”

“Es ist sehr bequem zu denken, dass schon irgendwer den Missständen, die uns erdrücken, ein Ende bereiten wird. Es ist recht einfach, jetzt zu behaupten, Schuld hat „die Alte” (Michelle Bachelet) oder die Kommunistische Partei, die sich hat kaufen lassen, wo wir, das Volk, doch selbst schon ein Leben lang dafür verantwortlich sind.”

“Worauf es nun ankommt, ist, dass die Arbeiterklasse sich nun mit Würde diesen Problemen stellt und sich daran macht, dieses undemokratische Arbeitsrecht zu verändern, den gewinnorientierten privaten Rentenkassen (Administradoras de Fondos de Pensión) einen Riegel vorschiebt und etwas gegen die zu niedrigen Renten und Löhne unternimmt.”

“Ich möchte niemanden unterdrücken, und ich möchte auch von niemandem unterdrückt werden.”

Was bedeutet für dich der Feminismus oder bestimmte Formen des Feminismus?

“Ich betrachte es nicht als mein Ziel, über den Männern zu stehen, weder am Theater noch sonst im Leben. Diese Gesellschaft wird erst frei sein, wenn Mann und Frau frei sind. Ich möchte niemanden unterdrücken, und ich möchte auch von niemandem unterdrückt werden. Wir Frauen haben auch einen Teil der Verantwortung daran, dass die männerdominierte Kultur weiter besteht.”

“Viele Menschen am Theater geben sich kritisch, aber der Großteil derer, die im chilenischen Fernsehen auftreten, ist doch der Meinung, dass alles ganz gut läuft…Es ist einfacher, mit dem System zufrieden zu sein, sich selbst und andere zu belügen, so zu tun, als wüsste man nicht, was passiert, sich selbst als Opfer darzustellen und dann Werbung für eine Apothekenkette wie Cruz Verde zu machen, weil es der Pharmaindustrie entgegenkommt, wenn viele Medikamente eingenommen werden, auch wenn es den Menschen schadet. Ich kann mich nicht so dumm stellen wie andere das können.”

La Negra Ester und Andrés Pérez

Die Erstaufführung von “La Negra Ester” Ende 1988 markiert einen Wendepunkt im chilenischen Theater. Was passiert mit den unauslöschlichen Spuren, die Ihr Partner und Kollege, der Schauspieler und Theaterregisseur Andrés Pérez Araya, in der chilenischen Kultur hinterlassen hat?

“Es geschieht alles Mögliche. Was Andrés bewirkt hat, lässt sich nicht in einem Interview wiedergeben. Was wir von ihm als Künstler und als Mensch lernen konnten, wird noch viele, viele Jahre Bestand haben. Von all den Dingen, die er uns beigebracht hat, ist mir eins besonders im Gedächtnis geblieben. Er sagte einmal, unsere Arbeit sei wie eine Eisenbahn, mit einer Lokomotive und einer Gruppe Waggons, die alle in dieselbe Richtung fahren. Und das Entscheidende daran: Die Lokomotive ist austauschbar, heute kannst du ihre Aufgabe übernehmen und morgen ein anderer. Niemand ist unersetzlich, aber wir alle sind wichtig, und wir alle sind in der Lage, die Rolle der Lokomotive zu übernehmen. Ganz anders das, was sich in der Politik abspielt: Seit ich denken kann, sind dort immer die gleichen Leute am Zug, obwohl schon längst feststeht, dass sie ihren Aufgaben nicht gewachsen sind. Der derzeitigen Kultusministerin Claudia Barattini fehlt es an Feingefühl für diesen Job, das ist einfach eine Tatsache.”

Am 11. Mai ist der Geburtstag von Andrés Pérez…

“Für diesen Tag haben wir eine Montage im Kulturzentrum der Regierung Matucana 100 vorbereitet, Ex-Präsident Ricardo Lagos und seine Frau Luisa Durán werden auch dort sein. Eine Überraschung, die von sich reden machen wird.”

Wozu genau ist die Kunst und das Theater im Speziellen eigentlich nutze?

“Ich bin davon überzeugt, dass gesellschaftliche Veränderungen durch immaterielle Kräfte, durch die Kreativität und Vorstellungskraft eines Volkes angestoßen werden. Ohne diese Wirkmächte werden wir niemals eine freie Gesellschaft sein.”

Zuletzt noch die obligatorische Frage, sicher hast du sie schon oft gestellt bekommen: Stört es dich, wenn die Menschen in dir „La Negra Ester“ sehen und nicht Rosa Ramírez? (Während ich diese Frage stelle, kommt der Cafebesitzer und begrüßt Rosa bewundernd als „Negra Ester“.)

“Nein. Schlimm fände ich, wenn sie mich als Betrügerin oder als Quälgeist in Erinnerung behielten oder mich ganz einfach vergessen würden. Nein, da sollen sie ruhig die „Negra Ester“ in mir sehen.”

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