Dreifache Diskriminierung für indigene Frauen in Haft

(Guatemala-Stadt, 6. April 2021, Servindi).- Rassismus und Patriarchat sind im guatemaltekischen Gefängniswesen an der Tagesordnung. So spiegelt das Strafvollzugssystem die alltägliche Diskriminierung, der indigene und arme Frauen ausgesetzt sind, wider. Unter diesen Herausforderungen setzt sich die Organisation Colectivo Artesana für ein staatliches Programm ein, das die Menschenrechte der indigenen weiblichen Gefangenen schützt. Bei Servindi berichten Oscar Perdomo und Andrea Barrios Paíz aus dem Colectivo Artesana über einige Fälle und die Hintergründe ihrer Arbeit.

In Guatemala machen indigene Bevölkerungsgruppen 44 Prozent der Bevölkerung aus, das sind 6,5 Millionen von 14,9 Millionen Einwohner*innen. Damit gehört Guatemala zusammen mit Mexiko, Peru und Bolivien zu den Ländern mit der größten indigenen Bevölkerung. Und als ob strukturelle Diskriminierung und 85 Prozent Analphabetenrate (bezogen auf das Spanische) noch nicht genug wären, sehen sich die indigenen Frauen Guatemalas auch noch mit einem Rechtssystem konfrontiert, das von westlichen Normen geprägt ist und von Männern geleitet wird.

Die Diskriminierung, die im guatemaltekischen Strafsystem herrscht, wurde schon im 1995 in Mexiko unterzeichneten „Abkommen über die Identität und die Rechte der indigenen Völker“ aufgezeigt: „Die Überwindung der historischen Diskriminierung der indigenen Bevölkerung erfordert das Mitwirken aller Bürger an der Veränderung der Mentalitäten, Einstellungen und Verhaltensweisen. Dieser Wandel beginnt damit, dass alle Guatemalteken die Existenz der rassistischen Diskriminierung und der Notwendigkeit, diese zu überwinden, anerkennen, um ein wahrhaft friedliches Zusammenleben zu erreichen.“

Gefängnisse sind 300-prozentig überbelegt

Verschärft durch die Unzulänglichkeiten des Strafvollzugssystems erlebt Guatemala derzeit eine äußerst kritische Phase in Bezug auf Frauen, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind. Die Gefängnisse weisen eine 300-prozentige Überbelegung auf und das Gefängnispersonal hat oftmals keine Kenntnisse über die Regeln für die Freiheitsstrafe, die in den „Regeln der Vereinten Nationen für die Behandlung weiblicher Häftlinge und für Maßnahmen ohne Freiheitsentzug“, besser bekannt als die Bangkok-Regeln, festgelegt sind. Zum ersten Mal in der Geschichte Guatemalas beträgt der Anteil von Frauen unter allen Inhaftieren 11 Prozent, in Lateinamerika sind es durchschnittlich zwischen zwei und 18 Prozent.

Für Guatemala bedeutet dieser Anteil einen besorgniserregenden Anstieg um sieben bis neun Prozent. Zudem beträgt das Durchschnittsalter zwischen 18 und 36 Jahren, was bedeutet, dass Ernährerinnen des Haushalts, Frauen im produktivsten Alter und Mütter mit durchschnittlich drei Kindern aus der Gesellschaft ausscheiden. Eine Erklärung für die starke Zunahme könnte der bedeutende Anstieg von Erpressungsdelikten gegen Frauen sein, der im Land festgestellt wurde. Diese können zu einer Reviktimisierung der Frauen führen, da diese dazu gezwungen werden, ihr Bankkonto für die Einzahlung von Erpressungsgeldern zur Verfügung zu stellen und dann das Geld selbst abzuheben. Und der Staat befasst sich nicht mit dieser Problematik.

Erzählungen des Colectivo Artesana

In den vergangenen 30 Jahren haben die Vereinten Nationen die Urteils- und Bestrafungsmethoden, die in den unterschiedlichen Gesellschaften angewandt werden, untersucht. Dabei kam heraus, dass in den indigenen Gesellschaften das Prinzip der „gewohnheitsmäßigen“ Ordnung gilt. Dieses beurteilt Taten, die als sozial gefährlich angesehen werden, mithilfe von Grundsätzen und Bräuchen. Die Beurteilung eines bestimmten Verhaltens beruht also auf den lokalen Gewohnheiten der jeweiligen indigenen Gemeinschaft, die die Umstände des Fehlverhaltens am besten einzuschätzen weiß. Dieses Prinzip musste zugunsten der in westlichen Gesellschaften geltenden Normen der „schriftlich-kodifizierten“ Ordnung aufgegeben werden. Das besagt, dass die Strafe für eine Handlung zuvor durch ein Gesetz als Verbrechen festgelegt worden sein muss.

Vor diesem Hintergrund setzt sich das Colectivo Artesana seit 15 Jahren für die Entwicklung eines staatlichen Programms zur Prävention von Frauenkriminalität, für die Rechte von Frauen im Freiheitsentzug, von Gefängniswärter*innen und von Kindern und Jugendlichen mit Familienangehörigen in Haft ein. Durch Ausbildungsmaßnahmen und gezielte Aktionen zur Verbesserung des Lebens im Gefängnis hat die Organisation genug Vertrauen geschaffen, um die Frauen bei allen Schwierigkeiten begleiten und unterstützen zu können. Denn die Frauen sind einer dreifachen Diskriminierung ausgesetzt: weil sie Frauen sind, weil sie arm sind und weil sie indigen sind. Das Fernziel ist es, die soziale Diskriminierung und die Unsichtbarmachung der Rechte dieser Bevölkerungsgruppe zu beenden, indem man zur Gewalt- und Kriminalitätsprävention beiträgt. Hierfür hat das Kollektiv mehrere Strategien entwickelt, die die Menschrechte von Frauen im Freiheitsentzug schützen sollen. Angesichts der steigenden Zahl indigener Frauen im Gefängnis hat das Kollektiv zudem konkrete Betreuungsmaßnahmen erarbeitet, wodurch auch Erfahrungen sichtbar wurden, die sich einem Muster zuordnen lassen.

Die Schwestern, die dem Gefängnis standhalten

E. und L. sind Maya-Kekchí aus der Gemeinde Carchá, die wegen Mordes zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt wurden. Ihrer Aussage nach handelte es sich jedoch um Notwehr: L. nahm einem Mann das Leben, der in ihr Haus eingebrochen war und ihre Schwester E. sexuell missbraucht hatte. Sie wurden zunächst in das Gefängnis von Santa Teresa in Guatemala-Stadt überstellt, wo L. dank der Bemühungen des Instituts für öffentliche Strafverteidigung Spanisch lernte. Anschließend wurden sie in das Gefängnis von Cobán verlegt, wo sie seit elf Jahren inhaftiert sind und in wenigen Monaten entlassen werden.

L. arbeitet im Gefängnis und verkauft Tortillas und Essen für andere Häftlinge und das Gefängnispersonal. Dafür entwarf und errichtete das Colectivo Artesana Holzöfen, damit L. und ihre Mithäftlinge auf die für ihre Kultur gewöhnliche Art kochen konnten. Außerdem gibt es einen Bereich, in dem sie Gemüse anbauen. Im Gegensatz zu L. war E. die meiste Zeit sehr krank. Sie leidet an Diabetes, ist stark unterernährt, und hat nach und nach ihr Augenlicht verloren. Weil sie nie Spanisch gelernt hat, ist sie komplett von ihrer Schwester abhängig. Beide absolvierten eine Hebammenausbildung und einen Gemüsekundekurs, bei welchem das Colectivo Artesana eine Übersetzung ins Kekchí förderte.

Im Gefängnis wegen eines Anrufs

FES ist eine 25-jährige Garífuna aus Puerto Barrios, das 300 Kilometer von Guatemala-Stadt entfernt liegt. Eines Tages erhielt sie einen Anruf von einem Freund, der nach ihrer Kontonummer fragte, um das Geld aus einem Verkauf überwiesen zu bekommen. Da sie dem Freund vertraute, stimmte sie zu. Ein paar Tage später, als FES auf dem Weg zum Unterricht war, erhielt sie erneut einen Anruf von ihrem Freund. Er bat FES, die im zweiten Monat schwanger war, das überwiesene Geld abzuheben. In der Bank teilte man ihr mit, dass nur 75 Quetzales (ungefähr 8 Euro) auf dem Konto waren. Als sie die Bank verließ, wurde sie verhaftet und wegen Erpressung angeklagt. Sie wurde zu sechs Jahren Gefängnis ohne Bewährung verurteilt.

FES leidet seit ihrem 15. Lebensjahr an Diabetes mellitus. Während sie ihre Strafe absaß, hatte sie ernste gesundheitliche Schwierigkeiten und wurde wegen eines Geschwürs an der Ferse sogar für eineinhalb Monate ins Krankenhaus eingeliefert, wo ihr trotz aller ärztlicher Bemühungen die Ferse amputiert wurde. Sie schaffte es trotzdem, ihr Studium abzuschließen. Sie hat nie wieder etwas von dem Freund gehört, der sie angerufen hat. Alles, was sie sich wünscht, ist, ihr Leben neu zu beginnen und für ihren Sohn zu arbeiten, der während ihrer Haft geboren wurde.

Eine Frau, die von ihrer Gemeinde getrennt ist

VEQC war eine 44-jährige Maya-Pocomochí, Vorsteherin ihrer Gemeinde und Repräsentantin einer sozialen Hilfsorganisation. Sie wurde wegen der Veruntreuung von Spenden, die ihre Organisation erhielt, angeklagt und für schuldig befunden. Sie wurde in das Centro de Orientación Femenino (COF) in Guatemala-Stadt verlegt. Dort konnte sie wegen der großen Entfernung nicht mehr auf die Unterstützung ihrer Familie und ihrer Gemeinde zurückgreifen, weil die Reisekosten zu hoch waren.

Um innerhalb des COF etwas Einkommen zu verdienen, nähte sie Kleidung und gab Nähkurse für andere Frauen. Im Gefängnis lernte sie auch Handarbeiten mit Kunststoff, Schaumstoff und Netzen. Jahre später wurde sie in das Gefängnis von Cobán verlegt, wo sie ihre Ausbildung zur Hebamme absolvierte. VEQC starb in der Haft an Komplikationen durch Diabetes.

Vom Behandlungsfehler zu einer Anklage wegen Kindsmordes

María FJ ist eine 31-jährige Maya-Kanjobal aus Santa Elena Barillas. Das Gefängnis, in dem sie einsitzt, ist 500 Kilometer von ihrer Heimat entfernt. Weil Marías Gesicht von tiefer Traurigkeit gezeichnet war, fragte sie das Colectivo Artesana, ob es ihr helfen könnte. Da sie nicht gut Spanisch sprach, half ihr eine andere Gefangene, sich zu verständigen. Sie erzählte, dass, als sie mit Zwillingen im siebten Monat schwanger war, bei ihr die Wehen einsetzten und sie in ein nahegelegenes Krankenhaus gebracht wurde. Dort wurde ihr gesagt, dass es noch nicht an der Zeit sei, die Babys zur Welt zu bringen.

Nach der Rückkehr in ihr Dorf sagte ihr der Privatarzt, der sie behandelte, dass sie noch zwei Monate warten müsste. Zu Hause bekam sie Wehen und brachte ihre Zwillinge zur Welt. Doch da die Bedingungen dort nicht angemessen waren, starben die Babys direkt nach der Geburt. María wurde wegen Kindsmordes angeklagt und verurteilt. Sie wurde zu drei Jahren und sieben Monaten Gefängnis verurteilt. Nach Bemühungen des Colectivo Artesana erwirkte die öffentliche Strafverteidigung ihre Freilassung in einem verkürzten Verfahren.

In den Gefängnissen Guatemalas herrschen Rassismus und Patriarchat

Indigene, mestizische oder ausländische Frauen leider unter Diskriminierung, die ihren Ursprung in den Machtverhältnissen von Rassismus und Patriarchat hat. Zusätzlich zu den Ungerechtigkeiten ihres Strafverfahrens und ihrer Inhaftierung müssen indigene Frauen das fehlende Wissen der Behörden und des Gefängnispersonals über die spezielle Behandlung ertragen, die sie in Haft benötigen. Das wird zusätzlich erschwert durch die Diskriminierung aufgrund ihrer ethnischen Herkunft und den Ausschluss aus dem Bildungssystem, unter dem die Frauen seit ihrer Kindheit leiden.

Zudem verschärft die Tatsache, dass ausschließlich die spanische Sprache verwendet wird, die Verletzung der Menschenrechte. Diese reicht von Verhaftungen und Strafverfahren, die die indigenen Frauen nicht verstehen können, bis zur Einlieferung in die Haftanstalt. Und nicht zuletzt betrifft das auch ihre Identität, was sich direkt auf die soziale Wiedereingliederung nach Verbüßen der Strafe niederschlägt.

Gegen das Schweigen und die Unsichtbarmachung

Diese Fälle, die vom Colectivo Artesana als exemplarische Erfahrung der institutionellen Behandlung der Frauen ausgewählt wurden, stellen einen kleinen Ausschnitt der Realität dar, die indigene Frauen in guatemaltekischen Gefängnissen erleben. Ihre Biographien und Aussagen sollen dazu dienen, dem Schweigen und der Unsichtbarmachung innerhalb und außerhalb des Gefängnisses zu entgegnen. Wir verstehen sie als Frauen, die gegen die vielseitigen Ungleichheiten, Diskriminierungen und Stigmatisierungen kämpfen, weil sie im Zustand der Freiheitsberaubung trotz der strukturellen und historischen Probleme erstarken.

Mit diesem Artikel soll die Aufmerksamkeit der Frauen- und der feministischen Bewegung und der Organisationen, die die Rechte der indigenen Bevölkerung Lateinamerikas verteidigen, geweckt werden, damit die Frauen in Haft in ihre Forderungen nach Gerechtigkeit einbezogen werden. Denn in den meisten Fällen wurde gegen sie Gewalt ausgeübt, die dazu führt, dass sie unter diesen Bedingungen leben müssen.

Heute wollen wir zu der Stimme werden, die Entwicklung von Unterstützungsmechanismen innerhalb und außerhalb der Gefängnisse ermöglicht, indem wir Solidaritätsnetzwerke weben, die das Leben ein wenig gerechter machen. Wir haben kleine Schritte unternommen, um die Rechte von Frauen in Gefängnissen zu schützen, aber es bleiben immer noch viele Herausforderungen. Dennoch bleibt es unsere Aufgabe, weiterhin zu sensibilisieren und mit staatlichen Institutionen zusammenzuarbeiten, damit die Rechte aller Menschen respektiert und die Diskriminierung und Stigmatisierung beendet werden können.

Übersetzung: Hannah Hefter

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