Correpi: Ein Fünftel der Femizide wird von Sicherheitskräften verübt

(Buenos Aires, 27. Februar 2021, Brasil de Fato).- Den Untersuchungen des Koordinationskomitees gegen Polizeirepression und institutionelle Gewalt (Correpi) zufolge wird jeder fünfte Femizid in Argentinien von Sicherheitskräften begangen. In 90% der Fälle ist die Tatwaffe der Polizeirevolver. Dass zwischen geschlechtsspezifischer Gewalt und Polizeigewalt ein Zusammenhang bestehen soll, ist alarmierend und weckt Unbehagen. Offizielle Erhebungen gibt es zu diesem Thema nicht. Die vorhandenen Informationen wurden von zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammengetragen. Das Institut Mujeres de la Matria Latinoamericana schätzt, dass in diesem Jahr bisher 12% der Femizide in Argentinien von Sicherheitskräften begangen wurden. Auch die von der Femizid-Beobachtungsstelle Adriana Zambrano vorgelegten Zahlen sind erschreckend: Alle 24 Stunden wurde eine Frau Opfer eines Femizids. Bei Redaktionsschluss wurden bereits 56 Fälle zur Anzeige gebracht. Der Mord an Úrsula Bahillo war wie der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und im ganzen Land für Empörung sorgte. Die 18-Jährige wurde von ihrem Ex-Partner Matías Ezequiel Martínez längere Zeit verfolgt und schließlich getötet. Dass Martínez in Buenos Aires als Polizist arbeitete, ist in diesem Zusammenhang kein unbedeutendes Detail, sondern emblematisch für die vom Staat ausgeübte institutionelle Gewalt und den alltäglichen Machtmissbrauch der Sicherheitskräfte.

„Femizid in Uniform“ – kombinierte strukturelle Gewalt

Polizeigewalt und Amtsmissbrauch sind in Argentinien an der Tagesordnung. Allein im Jahr 2020 gab es 397 durch Polizeikräfte verursachte Todesfälle in Situationen, in denen keine Gefahr für die Sicherheitskräfte oder Dritte bestand. Die Auswertung der von Correpi seit 1992 erfassten Fälle tödlicher Polizeigewalt ergab, dass Männer zum größten Teil bei der Verhaftung, in Polizeigewahrsam oder durch voreilig abgefeuerte Schüsse der Sicherheitskräfte zu Tode kommen; bei weiblichen Opfern liegt in den meisten Fällen ein Femizid vor, das heißt, der geschlechtliche Aspekt spielt eine Rolle. Häufig handelt es sich bei der Getöteten um die Partnerin oder Ex-Partnerin des Täters, das aggressive Verhalten des Polizeiberufs wird im Privatleben fortgesetzt. „Bei der Analyse der Merkmale von staatlicher Repression und patriarchalischer Gewalt sind wir zu dem Schluss gekommen, dass diese beiden Spielarten struktureller Gewalt sich gegenseitig hochschaukeln, wenn sie in einer Person vereint auftreten“, so Correpi-Vertreterin María del Carmen Verdú. In einem von Aktivist*innen und Organisationen unterzeichneten Brief an die Regierung nach dem Mord an Úrsula heißt es: „Wir werden keinen weiteren Mord an Frauen und weiblich identifizierten Menschen tolerieren. Ihr Tod ist der Preis für eine Männlichkeit, die glaubt, Frauen* seien ihr Eigentum“. Zwei von zehn Frauen*mördern in Argentinien begehen übrigens Selbstmord. Das Festhalten an der selbsterdachten Allmachts-Pose scheint ihnen wohl mehr bedeuten als das Leben selbst, folgert daraus die Journalistin und feministische Schriftstellerin Luciana Peker. Hinsichtlich der sogenannten „Femizide in Uniform“  mangelt es bisher an offiziellen Erhebungen oder einer öffentlichen Politik, die sich den Besonderheiten dieser Überschneidung annimmt.

Seit 2018 schreibt das Micaela-Gesetz, benannt nach der ermordeten feministischen Aktivistin Micaela García, Schulungen zu geschlechtsspezifischer Gewalt für Sicherheitsbeamte vor. „Es ist wichtig, diese Art von Gewalt in der Ausbildung der Beamten zu berücksichtigen und die Kultur des Polizeidiensts langfristig zu verändern. Hier wird Eingreifen traditionell mit Gewaltanwendung gleichgesetzt“, erklärt Victoria Darraidou, Koordinatorin des Bereichs Demokratische Sicherheit und institutionelle Gewalt im Zentrum für Rechts- und Sozialwissenschaften (CELS). „Das ist ein spezifisches Phänomen, das institutionelle Gewalt mit geschlechtsspezifischer Gewalt verbindet. Da es um die eigenen Sicherheitskräfte geht, ist der Staat dafür verantwortlich, hier gegenzusteuern.“ Leider konnte bisher weder die Zahl der Femizide noch die Fälle polizeilicher Repression durch die Schulungsmaßnahmen signifikant reduziert werden.

Der Mord an Úrsula löste landesweit Entsetzen aus

Die erste Anzeige gegen Matías Ezequiel Martínez hatte Úrsulas Mutter erstattet, da sie die Gewaltbeziehung zwischen ihrer Tochter und dem Polizisten besorgniserregend fand. 17 weitere Anzeigen folgten, nur drei wurden von den Beamten aufgenommen, und keine davon reichte aus, um den gewaltsamen –und vorhersehbaren- Tod der jungen Frau zu verhindern. Obwohl er Úrsula mit Todesdrohungen bombardierte und bereits mehrere Anzeigen von anderen Ex-Partnerinnen gegen ihn vorlagen, blieb Martínez auf freiem Fuß. Polizeigewalt äußert sich jedoch öfter im Handeln als im Nichtstun: Bei einer friedlichen Demonstration vor der Polizeistation von Rojas, wo Úrsula gelebt hatte, wurde eine ihrer Freundinnen von einem Gummigeschoss im Gesicht verletzt, worauf sie fast ein Auge verlor.
Der Mord an Úrsula erregte landesweit Bestürzung. Ursulas Eltern wurden von Präsident Alberto Fernández empfangen; die Ministerin für Frauen, Gender und Diversität Elizabeth Gomez Alcorta verwies auf die Verantwortung von Justiz und Polizei und kritisierte, dass geschlechtsspezifische Gewalt so wenig Beachtung findet. Wenige Tage später erfolgte per Dekret die Gründung des Rats zur Bekämpfung von Femiziden, Transfemiziden und Morden an Travestis, der die Arbeit der Regierung mit den Provinzen integrieren soll. Feministischen Aktivist*innen bezeichneten die Maßnahme als unzureichend.

Die staatliche Verantwortung

Cele Fierro von der Initiative Frauen gemeinsam nach links der Sozialistischen Arbeiterbewegung (MST) verweist auf das Haushaltsdefizit für Programme zur Unterstützung von Opfern geschlechtsspezifischer Gewalt, einschließlich des Ministeriums für Frauen, Gender und Diversität, das in letzter Zeit wegen „mangelnder Handlungsbereitschaft“ in der Kritik stand. „Das Acompañar-Programm zum Beispiel soll den Betroffenen zu wirtschaftlicher Unabhängigkeit verhelfen, aber mehr als der Mindestlohn, begrenzt auf sechs Monate, ist nicht drin. Wie soll man so zu wirtschaftlicher Autonomie gelangen? Letztendlich geht es um die Frage der Sicherheit, und an dieser Diskussion müssen unbedingt Vertreter*innen aus der Bevölkerung und der Menschenrechtsorganisationen beteiligt sein. Die Polizei sollte Prävention garantieren und nicht Repression. Da müssen wir ansetzen, wenn wir eine andere Art von Gesellschaft aufbauen wollen.“

Bei einer Demonstration, zu der die Bewegung „Ni Una Menos“ Mitte Februar aufgerufen hatte, wurden die Punkte auf die Straße getragen, die den Menschen im Zusammenhang mit Úrsulas Ermordung zusätzliche Bauchschmerzen bereiten: die Ignoranz des Justizsystems gegenüber Fällen von geschlechtsspezifischer Gewalt und die fehlende Koordination zwischen den Institutionen, die genau für diese Art von Fällen eingerichtet wurden, wie z.B. die polizeilichen Anlaufstellen für Frauen. Nicht selten werden von geschlechtsspezifischer Gewalt Betroffene abgewiesen, insbesondere, wenn sich die Anzeige auf jemanden aus den Reihen der Polizei bezieht. „Es ist total egal, ob irgendwo ein Schild mit der Aufschrift ‚Polizeiliche Anlaufstelle für Frauen‘ hängt, wenn du am Ende doch an einen Polizisten gerätst, der sich genauso verhält wie alle anderen.“ Verdú kritisiert in diesem Zusammenhang die Verwobenheit von Justizsystem und Sicherheitskräften. „Zwischen der Justiz und den Sicherheitskräften besteht so eine enge, fast familiäre Verbindung. Technisch gesehen ist die Polizei Handlanger der Justiz, und deren Logik basiert wiederum auf dem Glauben an die uniformierten Kräfte.“ Außerdem: „Disziplin zu erzwingen ist ja eigentlich der Hauptjob der Sicherheitskräfte, das lässt keinen Spielraum für die Gender-Perspektive. Durch Fortbildung und Sensibilisierung kann man sicher einiges erreichen, aber das allein ist nicht genug. Wir haben es hier mit einer Kultur zu tun, die die gesamte Gesellschaft durchdringt“, so Verdú weiter. „Und was die Betroffenen angeht, bräuchte es eigentlich ziviles Personal, das die Beschwerden entgegennimmt, Menschen mit einem offenen Ohr.“ Als dringende Maßnahme fordern die sozialen Organisationen, Gewalt gegen Frauen* zum nationalen Notstand zu erklären. Der von Aktivist*innen und Organisationen unterzeichnete Brief an die Regierung fordert unter anderem die Koordination zwischen Justiz, Sicherheitskräften und den einzelnen Städten sowie eine Justizreform, die die Gender-Perspektive berücksichtigt.

Übersetzung: Lui Lüdicke

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