Wahn-sinnig-stolz

(Buenos Aires, 21. Oktober 2021, Cosecha Roja) – Psychische Gesundheit hat sich während der Pandemie zu einem breit diskutierten Thema entwickelt: Immer häufiger wurden Politiker*innen und Wissenschaftler*innen in Talkrunden gebeten, Stellung zu beziehen und ihre Ansichten zu teilen. Wer sehr viel weniger gehört wurde: die Betroffenen selbst. Die politische Bewegung Orgullo Loco („Wahnsinnig stolz“) ist eine Initiative von Menschen mit psychischen Auffälligkeiten, die in den 90er Jahren entstand: Orgullo Loco vertritt den Standpunkt, dass das Verbreiten von Erkenntnissen kein Privileg der medizinischen Fachwelt ist. Um Erkenntnisse über den eigenen Gesundheitszustand zu gewinnen und zu verbreiten, bedürfe es nicht der Erlaubnis medizinischer Koryphäen.

„Du siehst überhaupt nicht autistisch aus“.

Diesen Satz hatte Fran Castignani ihr ganzes Leben lang gehört. Fast kommt es ihr selbst vor wie eine Art Entschuldigung, wenn sie daraufhin erklärt, dass es sich bei ihr um das Asperger-Syndrom handelt, die mildeste Form im Spektrum des Autismus. Für Fran ist das Asperger-Syndrom nicht etwas, das sie „hat“ oder woran sie „leidet“. Fran spricht vom Asperger-Syndrom als etwas, womit sie „lebt“. Mit der Zeit war ihr bewusst geworden, dass sich im Ausdruck des „Leidens“ eine Form von Behindertenfeindlichkeit verbirgt: ein System, das Menschen mit Behinderungen diskriminiert und mehr Unterscheidungen kennt als die Trennung von „gesund“ und „krank“.  Auch innerhalb desselben Phänomens wird mit Abstufungen gearbeitet: Da gibt es „Autist*innen, die besser funktionieren“, „Autist*innen, die schlechter funktionieren“ und „Autist*innen, die überhaupt nicht funktionieren“.

Neurodivergenz: eine politische Identität

Ein Begriff, mit dem Castagnini sich identifizieren kann, ist „neurodivergent“. „Neurodivergent“ wurde anfangs von der autistischen Gemeinschaft verwendet, umfasst heute aber eine politische Identität. Castagnini ist Politologin, Dozentin, Übersetzerin, transfeministische Schriftstellerin und Mitbegründerin von Orgullo Loco Buenos Aires. Die Initiative aus ehemaligen und derzeitigen Nutzer*innen psychiatrischer Einrichtungen sowie Überlebenden des psychiatrischen Systems hat eine Neudefinition der Begriffe Wahnsinn und Vernunft erarbeitet und kämpft gegen die Diskriminierung von neurodiversen Menschen, Menschen mit Behinderungen, gegen Pathologisierung und Psychiatrisierung. Sie begreifen sich als Menschen, die für sich selbst sprechen und über sich selbst erzählen können – ohne medizinisches Fachwissen. Das Motto „Nichts über uns ohne uns“ hat Orgullo Loco von der Bewegung von Menschen mit Behinderungen übernommen, um gegen den „Extraktivismus des medizinischen und akademischen Systems“ zu protestieren: Erfahrungen und Erlebnisse von Menschen werden in psychiatrischen Einrichtungen in Forschungen und Veröffentlichungen „verwurstet“, ohne dass die Betroffenen wirklich einbezogen werden. Es geht darum, aufzustehen und zu sagen: „Wir haben unsere eigenen Erkenntnisse. Wir können selbst analysieren, erweitern, Wissen produzieren, und dazu brauchen wir nicht erst die Erlaubnis einer medizinischen Instanz.“

Die Suche nach Menschen mit ähnlichen Erfahrungen brachte Castignani mit Orgullo Loco in Kontakt. „Ich lebte zu dieser Zeit in Barcelona und begann, mich mit neurodiversen Menschen zu beschäftigen, deren Erfahrungen als private Probleme betrachtet wurden, die man aber ebenso gut aus einem politischen Blickwinkel hätte betrachten können.“ Zurück in Buenos Aires gründete Fran mit zwei Freund*innen die argentinische „Zweigstelle“. Daraus entstand eine Vernetzung mit Gruppen in Chile, Spanien und Brasilien.

Sprache schafft Wirklichkeit. Der Begriff der Neurodiversität

„Der Begriff der Neurodiversität wurde von der autistischen Community eingeführt, um der Pathologisierung von Autismus und Borderline-Persönlichkeitsstörungen etwas entgegenzusetzen, also allen Etiketten, die in psychiatrischen Handbüchern auftauchen“, erklärt Castignani. Auch chronische Erkrankungen wie das Fatigue-Syndrom werden der Neurodiversität zugerechnet. „Es gibt kein Gehirn, das genauso ist wie ein anderes. Ausgehend von Vorurteilen im Bereich von Medizin, Psychiatrie und Politik wurde eine Normierung entwickelt und eine vollständige gesellschaftliche und wirtschaftliche Struktur aufgebaut“. Wie bei anderen Diversitätsbewegungen steht der Kampf um Entpathologisierung im Vordergrund. Das Weltbild, das zwischen gesunden und kranken Körpern, normalen und abnormen Erfahrungen unterscheidet, ist überholt. „Orgullo Loco stellt den Begriff der psychischen Gesundheit in Frage und spricht sich gegen das Bild des weißen, schlanken, leistungsfähigen Körpers aus. Psychische Gesundheit muss vom Kontext der Pflicht zur Arbeit entkoppelt werden: Viele Menschen können aufgrund ihrer Erfahrungen, Traumata und Lebensumstände nicht mit den Arbeitsanforderungen des kapitalistischen Systems, mit Wettbewerb, Individualisierung und Prekarität Schritt halten. Die Betrachtung von Stress als Privatangelegenheit eröffnet keinen Weg aus dem Dilemma sondern steht für eine Lebensweise, die immer mehr Menschen ausgrenzt, die diagnostiziert, pathologisiert und psychiatrisiert“.

Durch die Pandemie wurde das Augenmerk auf Symptome gerichtet, mit denen sich Neurodiversitätsgruppen und die Anti-Behinderten-Bewegung schon seit längerer Zeit befassen: die ersten Auswirkungen des Eingesperrtseins, die Angst vor dem Unvorhersehbaren, die Konfrontation mit dem Tod, Unregelmäßigkeit psychologischer und psychiatrischer Behandlung, der Mangel an Kontakt, der Verlust der Arbeit, das Bedürfnis, sich produktiv zu fühlen. Die psychische Gesundheit war plötzlich in aller Munde. Von allen Seiten drängten Leitartikel, virtuelle Therapien und die unvermeidlichen Influencer, „loszulassen“ und „in der Spur zu bleiben“. Aber kaum jemand hat daran gedacht, den Protagonist*innen zuzuhören.

Durch die Pandemie wurde die Trennung zwischen privatem Raum und Arbeit verwischt. Dazu Castignani: „Wie kann man diese Maschinerie stoppen, die einen zwingt, ständig aktiv zu sein und zu produzieren? Sie bringt uns an körperliche Grenzen und darüber hinaus. Es gibt jedoch ein physisches Limit für diesen Anspruch an uns, verfügbar zu sein, zu produzieren, zu arbeiten. Und diese Grenze darf nicht pathologisiert werden: Es ist nichts Falsches oder Ungesundes oder Seltsames daran, wenn man diesen Anspruch nicht erfüllen kann.“ Mit der Pandemie hat sich auch die Art und Weise, wie wir uns treffen, wie wir uns engagieren und wie wir Politik machen, verändert. „Als große Bewegung auf die Straße zu gehen ist wichtig, aber nun müssen wir andere Wege finden. Viele von uns können oder wollen diese Aktionsform nicht. Wir müssen darüber nachdenken, wie unser Zusammensein und unser Widerstand aussehen können, wenn persönliche Präsenz und körperlicher Aktivität nicht möglich sind.“

Das Gesetz zur psychischen Gesundheit

Ende Juli durchlebte der Musiker Chano Charpentier im Haus seiner Mutter in Buenos Aires einen psychotischen Schub. Herbeigerufene Polizisten schossen Charpentier in den Bauch und verletzten ihn schwer. Der Fall löste hitzige Debatten aus und brachte die Frage auf, welchen Vorgaben zum Schutz der psychischen Gesundheit die Sicherheitskräfte eigentlich Folge zu leisten haben. Auch das vor mehr als 10 Jahren in Argentinien verabschiedete Gesetz zur psychischen Gesundheit kam in diesem Zusammenhang zur Sprache. Das Gesetz sieht vor, dass 10% der Gesamtausgaben des Gesundheitsministeriums für die psychische Gesundheit bereitstellt werden. Derzeit werden ganze 1,5% in die psychische Gesundheit investiert. Eine der Forderungen des Gesetzes ist die Schließung aller psychiatrischen Einrichtungen, der so genannten Irrenanstalten, und die Schaffung von Alternativen zur Zwangseinweisung. Castignani denkt an ein Modell, das freundlicher mit Unterschieden umgeht und keine Segregation oder Ausgrenzung betreibt. „Demokratie bedeutet auch, dass Konflikte oder Probleme nicht unbedingt diagnostiziert, pathologisiert und gelöst werden müssen“. Maßnahmen und Entscheidungen zu psychischer Gesundheit zu treffen, ohne die Menschen einzubeziehen, die im hegemonialen medizinischen System sind oder waren, ist nicht ratsam: Unsere aktuelle Gesetzgebung ist ambitioniert, wird aber nicht angewandt. Immer noch wird mit Bestrafung und Einsperrung gearbeitet, und diejenigen von uns, die sich für normal halten, zeigen immer noch mit dem Finger auf alles, was nicht der hegemonialen Norm entspricht. Ist es nicht langsam Zeit, sich anzuhören, was die Wahn-Sinnigen zu sagen haben?

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