Rote Fahnen, wenig Likes

von Andreas Behn, Rio de Janeiro

(Berlin, 13. Juli 2013, taz).- Am vergangenen 11. Juli gingen Zehntausende landesweit auf die Straßen, blockierten Autobahnen oder streikten. Es waren jedoch nicht solche Massenproteste, wie sie im Juni das Land völlig überraschend überrollt hatten. Diesmal hatten die großen Gewerkschaftsverbände zu einem Streik- und Aktionstag aufgerufen; rote Fahnen der organisierten Arbeiterschaft und linker Parteien prägten die meisten Protestzüge.

Hunderttausende legten in allen großen Städten die Arbeit nieder. Viele Schulen, Universitäten, aber auch Banken und Postfilialen blieben geschlossen. Unzählige kleine Blockadeaktionen und Demonstrationen brachten den Verkehr an vielen Orten zeitweise zum erliegen. In den Metropolen São Paulo und Rio de Janeiro versammelten sich jeweils über zehntausend Menschen zu mehreren Protestzügen. In den Abendstunden kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, die die Menschen mit Tränengas von den Straßen vertrieben.

Gewerkschaftliche Themen bestimmten das Bild. Die Demonstranten forderten die 40-Stundenwoche, einen angemessenen Mindestlohn und ein Ende der Privatisierung von Bodenschätzen oder im Gesundheitsbereich.

Die Landlosenbewegung MST, die ebenfalls zu dem Aktionstag aufgerufen hatte, kritisierte die stagnierende Landreform und das Primat der industriellen Agrarwirtschaft. Aber auch die Forderungen der vergangenen Wochen waren präsent, unter anderem mehr Geld für öffentliche Dienstleistungen und die Absetzung von korrupten Stadtverwaltungen.

In vielen Städten waren auch private Medien, vor allem der übermächtige Konzern „Globo“ Ziel von Demonstrationen. Fernsehsendern und Zeitungen wird vorgeworfen, sehr selektiv über die Proteste zu berichten und die Aussagen der breiten Bewegung im Sinne der rechten Opposition zu manipulieren.

Die Forderung, den Mediensektor und insbesondere die Verteilung öffentlicher Frequenzen endlich entsprechend den Vorgaben der Verfassung zu reglementieren, stößt bei der Mitte-Links-Regierung der Arbeiterpartei PT seit Jahren auf taube Ohren.

Die Jungen blieben daheim

„Nein, ich glaube nicht, dass wieder so viele Menschen auf die Straße gehen werden. auf Facebook spielt dieser Aktionstag kaum eine Rolle“, hatte ein junger Taxifahrer am Abend zuvor gemutmaßt. „Es sind doch die altbekannten Organisationen und auch Parteien, die dazu aufrufen, genau jene, denen die Leute nicht mehr trauen.“

Er sollte recht behalten. Viele insbesondere junge Menschen waren am Donnerstag zu Hause geblieben, es war nicht ihre Demo. Bei den Protestzügen im Juni waren dagegen die Embleme linker Parteien oder Organisationen kaum sichtber gewesen und wenn, dann wurden ihre Träger*innen ausgebuht oder sogar tätlich angegriffen. Nicht, weil die Mehrheit der Demonstrant*innen Rechte waren. Aber rote Fahnen werden mit der PT identifiziert, der es nicht gelungen ist, einen anderen, weniger korrupten und effizienteren Regierungsstil zu entwickeln.

Nun ist die große Protestwelle mit dem Ende des Confed-Cup ebenso plötzlich verebbt wie sie begonnen hatte. Sei es, weil der Elan erschöpft ist oder weil Präsidentin Dilma Rousseff in allen Punkten Entgegenkommen signalisiert.

Aber ihre politische Wirkung hält an. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass der Kongress neue Gesetze entsprechend dem Unmut der Straße verabschiedet: Senator*innen dürfen jetzt keine Familienangehörigen mehr als Nachrücker*innen benennen, geheime Abstimmungen soll es nicht mehr geben, die Ausgaben der öffentlichen Hand werden allerlei Regeln unterworfen. Und täglich gibt es neue Berichte über führende Politiker*innen, die Militärflugzeuge oder Hubschrauber für Fahrten ins Wochenendhaus, zu Hochzeiten oder gar zu Fußballspielen im Maracanã nutzten.

Konstruktive Antwort droht zu versickern

Die Proteste gehen zudem abseits der metropolitanen Zentren weiter. Vielerorts werden Rathäuser und Stadtparlamente besetzt, kleine Demonstrationen fordern die Absetzung bestimmter Politiker*innen und nutzen die Aufruhr im Land, um auf alteingesessene Missstände aufmerksam zu machen. Für Präsidentin Rousseff ist die Lage kompliziert. Der Protesttag vom Donnerstag war zwar eher eine Unterstützung, da die Forderungen an sie gestellt wurden, ohne sie selbst und schon gar nicht die regierende PT in Frage zu stellen. Doch ihre konstruktive Antwort auf die diffuse Protestwelle droht im politischen Intrigenspiel in Brasilia unterzugehen.

Das Plebiszit zur Durchsetzung einer Politikreform scheiterte am Streit der Koalitionsparteien und ist nun auf später verschoben worden. Auch andere versprochene Maßnahmen zur Verbesserung der öffentlichen Dienste stoßen auf Widerstand – jede Partei, jedes Gremium will sich selbst in den Vordergrund drängen. Zugleich sind die Umfragewerte von Rouseff steil abgestürzt, wie auch die der meisten anderen Mandatsträger*innen.

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