Poonal Nr. 353

Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 353 vom 11.September 1998

Inhalt


PUERTO RICO

HAITI

PARAGUAY

CHILE

BRASILIEN

ECUADOR

PERU

URUGUAY

VENEZUELA

BOLIVIEN

GUATEMALA

ARGENTINIEN


PUERTO RICO

Volksabstimmung über den politischen Status

Von Martha Dubravcic

(San Juan, 26. August 1998, alai-Poonal).- Der Gouverneur von Puerto Rico, Pedro Rosello, Befürworter einer vollständigen Integration des Landes in die USA, kündigte für den 13. Dezember dieses Jahres eine Volksabstimmung über den politischen Status der Insel an. Die Bevölkerung selbst soll bestimmen, ob Puerto Rico weiterhin als mit den USA assoziierter Staat gelten soll, sich dem nordamerikanischen Nachbarn als Bundesstaat anschließen oder als vollkommen unabhängig erklären soll.

Die Absicht Rosellos, die Insel als Teil der USA anzusehen, hat den Streit zwischen Gegner*innen und Befürworter*innen des „Anschlusses“ wieder entflammt. Dem puertoricanischem Patriotismus werden dabei die Vorteile gegenübergestellt, die aus der Zugehörigkeit zu den USA entstehen könnten. Die Großmacht kontrolliert seit 100 Jahren die Geschicke Puerto Ricos.

Rosello will mit dem Aufruf zur Volksabstimmung Druck ausüben. Eines seiner Argumente lautet, die Insel müsse aus dem Zustand des Privatghettos herauskommen und das US-Wahlrecht endlich einführen. Doch der Ausgang der Volksabstimmung wird nicht bindend sein, selbst wenn des Gourverneurs Wünsche erfüllt werden sollten. Der Kongreß von Puerto Rico könnte das Ergebnis immer noch ablehnen.

Das Weiße Haus in Washington und der US-Kongreß haben ihrerseits bereits die Möglichkeit in Betracht gezogen, den Puertoricaner*innen die US- Staatsbürgerschaft, die sie seit 1917 haben, abzuerkennen, falls sie sich für die Unabhängigkeit oder eine stärkere Souveränität aussprechen sollten. Andererseits gibt es in den USA ebenso starke Stimmen, die vor einer völligen Annexion warnen, weil dann soziale Lasten getragen werden müßten. Der durchschnittliche Lebensstandard auf Puerto Rico ist wesentlich geringer als in den USA.

Die Rechtmäßigkeit der für den 13. Dezember geplanten Volksabstimmung wird von Mitgliedern der puertoricanischen Oppositionspartei PPD heftigst in Frage gestellt. Der Vorsitzende der Demokratischen Volkspartei (PPD), Aníbal Acevedo Vil, kündigte an, er werde das Gesetz über Voksabstimmungen anfechten und wolle alle politischen und gesetzlichen Mittel ausschöpfen, um den derzeitigen Status der freien Assoziation zu verteidigen. Die PPD lehnt die Volksabstimmung mit der Begründung ab, daß Rosello diese für seine eigenen politischen Zwecke nutze. Die Gegner*innen der vollkommenen Integration in die USA haben sich zusammengeschlossen, um per Gerichtsurteil diese Volksabstimmung für rechtswidrig erklären zu lassen.

Trotz der Formel des „Frei Assoziierten Staates“ (ELA), die seit 1952 existiert, hatte Puerto Rico immer eher die Rolle einer US-Kolonie inne. Ohne Zweifel stellt die Beziehung zwischen beiden Ländern fuer die heutige Zeit eine besondere politische Konstellation dar: Die Puertoricaner*innen haben die us- amerikanische Staatsbürgerschaft, sie leisten ihren Militärdienst bei der US- Armee, bezahlen mit US-Dollar und ihre Außen- und Verteidigungspolitik steht in der Verantwortung der USA.

Puerto Rico hat zwar eigene Gesetze, diese sind aber denen der USA untergeordnet. Gleiches gilt für die Exekutive und Judikative. Während die Puertoricaner*innen ihre sogenannten Staatsbürgerpflichten erfüllen, haben sie jedoch keine Staatsbürgerrechte. Sie dürfen weder an den Wahlen zum Kongreß noch an den Präsidentschaftswahlen in den USA teilnehmen. Die letzte Volksbefragung zum Thema Anschluß wurde 1993 durchgeführt. Damals stimmten 48 Prozent der puertoricanischen Wahlberechtigten für den Frei Assoziierten Staat, 46 Prozent waren für die Einverleibung in die USA. Aktuellen Umfragen zufolge scheint die Bevölkerung eher dahin zu tendieren, Puerto Rico zum 51. Staat der USA erklären zu lassen.

HAITI

Lavalas-Bewegung immer zerstrittener – Schlammschlachten

(Port-au-Prince/Wiesbaden, 2. September 1998, haiti info-Poonal).- Die verfeindeten Brüder der Lavalas-Bewegung schießen wieder aufeinander, vorerst nur mit Vorwürfen. Die OPL (Organisation du Peuple en Lutte) streute Gerüchte, wonach die Ex-Präsident Aristide nahestehende Partei FL (Fanmi Lavalas) eine Diktatur vorbereite. Der FL-Abgeordnete Yvon Feuillé wies dies scharf zurück und konterte seinerseits, es sei wohl eher die OPL, die solche Pläne hätte, weil sie sich weigerte, einen Premier zu ratifizieren. Ein Staatsstreich bedrohe die demokratischen Regierung, so die Meinung von Dany Toussaint, einem weiteren Mitglied der Lavalas-Familie. Der Putsch würde vom Ausland vorbereitet und solle von der nationalen Polizei durchgeführt werden, erklärte der Abgeordnete ohne weitere Detailangaben. Er bezichtigte außerdem Mitglieder der OPL, versucht zu haben, den ehemaligen Präsidenten Jean-Bertrand Arisitide durch einen inszenierten Autounfall zu ermorden. Im April dieses Jahres war der Wagen von Aristide in einem Unfall mit dem Auto eines OPL-Politikers verwickelt worden. Der Ex-Präsident hatte sich damals allerdings kurzfristig für einen Flug im Helikopter entschieden.

Wasserversorgung: Kredit gegen Privatisierung

(Port-au-Prince/Wiesbaden, 2. September 1998, haiti info-Poonal).- Die Interamerikanische Entwicklungsbank (BID) hat der haitianischen Regierung im August einen Kredit über knapp 55 Millionen US-Dollar gewährt. Damit soll die Trink- und Abwasserversorgung neu aufgebaut werden. Ein Teil des Kredites ist dafür vorgesehen, die Integration des privatwirtschaftlichen Sektors bei der allgemeinen Wasserversorgung gewährleisten. Dafür sind die Kreditbedingungen günstig. Der Kredit hat eine Laufzeit von 40 Jahren. Der Zinsatz beträgt während der ersten 10 Jahre 1 Prozent und danach 2 Prozent.

PARAGUAY

Indígena-Frauen organisieren sich

Von Maria Lis Rodríguez

(Asunción, August 1998, fempress-Poonal).- Ihre Geschichte als Frau und Indígena hat ihre eine Last aus Unterdrückung, Mißbrauch, und Vergewaltigungen auf die Schultern gelegt. Cuña Ryva Peyu, übersetzt „die reife Frucht“, ist sich heute darüber im Klaren, daß die seit 500 Jahren andauernde Unterdrückung nur mit einer eigenen Organisation der Indígena-Frauen bekämpft werden kann.

Offiziell – also für die Behörden – heißt Cuña Ryva Peyu anders: Alba Duarte, mit diesem Namen hat sie sich registrieren lassen. Sie gehört dem Stamm der Aché-Guayaquí an, ist mit einem Mann des Stammes Avá-Guaraní verheiratet, hat acht Kinder und arbeitet als Lehrerin. Gemeinsam mit 14 anderen Frauen setzt sie ihre Hoffnungen in die Gründung eines Vereins der Indígenafrauen. „Seit mehr als 500 Jahren sind wir Opfer. Unsere Töchter werden immer noch vergewaltigt. Meistens von weißen Männern, die natürlich dafür nicht bestraft werden.“

Das Problem ist noch nicht gelöst, nur weil man sich zusammenschließt, dessen ist sich Ryva bewußt. Aber gemeinsam könnten die Frauen über Möglichkeiten diskutieren, ihren Kampf zu intensivieren. Im November wollen die Indígenafrauen ihren Verein als juristische Person eintragen lassen. „Dann beginnt offiziell der lange und harte Kampf für unsere Rechte“, kündigt Ryva an. „Wir haben gelernt, daß wir nur gemeinsam etwas erreichen können.“ Ryva hat bereits Erfahrungen. Sie ist die stellvertretende Vorsitzende des Vereins „no, ovusu“ oder „Verein der Avá-Guaraní-Gemeinden“.

Die Unterwerfung und die Demütigungen, die Indígenafrauen ertragen müssen, sind nur ein Glied in der Kette der Unterdrückung der Indígenas. Die allgemeine Situation der Indígena-Gemeinden ist in Paraguay genauso schwierig wie im übrigen Amerika. In Paraguay wird darüber gerade öffentlich diskutiert, weil eine Indígena-Gemeinschaft, die Ayorea, „entdeckt“ wurde. Sie haben es geschafft, in ihren Traditionen zu überleben – trotz der systematischen Verfolgung und Ausrottung der Indígenas in Paraguay. Die Ayorea wollen in Ruhe gelassen werden. Die Weißen sollen ihr Land, ihre Kultur und ihre Abgeschiedenheit von der Gesellschaft als ihre Lebensform respektieren.

Einige Nicht-Regierungsorganisationen unterstützen diese Forderungen. Sie haben bei der Staatsanwaltschaft ein Urteil durchgesetzt, das den Weißen jegliche Annäherung an die Ayorea verbietet. Diese Maßnahme kann als Fortschritt bezeichnet werden, auch wenn man nicht allzu viele Hoffnung hineinsetzen darf. Auch Ryva sagt, man könne weder von der Regierung noch von anderen offiziellen Institutionen wie dem Nationalen Indígenainstitut (INDI) etwas erwarten. Ebensowenig von den Politiker*innen, denn „die machen nur Versprechungen, die sie nie halten. Sie kommen nur zum Stimmenfang.“ (Der fempress-Artikel beruht auf einem von der Autorin Gloria Rolón in der Tageszeitung „Ultima Hora“ veröffentlichtem Text)

CHILE

Gedenkfeier für Präsident Salvador Allende in Santiago de Chile – Angehörige der

Opfer der Diktatur fordern Gerechtigkeit

Von Leonel Yañez

(Santiago de Chile, 5. September 1998, npl).- Rund 60.000 Menschen kamen am 4. September im Nationalstadion von Santiago de Chile zusammen, um des Präsidenten Salvador Allende zu gedenken. 1970 war Allende an der Spitze des Linksbündnisses Unidad Popular zum Präsidenten gewählt worden. Seine Sozialreformen brachten ihm große Sympathie in der Bevölkerung ein. Mit dem Militärputsch vom 11. September 1973 fand die Allende-Regierung ein blutiges Ende, er selbst kam dabei ums Leben. Die Gedenkfeier im Nationalstadion galt auch den zahllosen Opfern der Diktatur. In den ersten Wochen der Militärherrschaft waren hier Tausende mutmaßlicher Oppositioneller gefangengehalten worden, viele von ihnen wurden gefoltert und ermordet. Während des Festaktes wurden ihre Namen einzeln aufgerufen, jedes Mal ertönte ein „presente“ (anwesend!) aus den Zuschauerrängen. Für die 3000 „Verschwundenen“, die als politische Gefangene unter der Militärdiktatur umkamen, soll am 11. September, dem Jahrestag des Putsches, ein Schweigemarsch zum Friedhof von Santiago stattfinden.

Mit dem Gedenken an die Opfer wird in Chile immer auch die Forderung nach Gerechtigkeit laut. Auch nach der Wiedereinführung der Demokratie im Jahre 1990 waren die Verbrechen des Militärregimes in Chile lange tabu. Der Tag des Putsches, unter der Pinochet-Diktatur alljährlich als „Tag der Befreiung von den Kräften des Marxismus-Leninismus“ gefeiert, wurde erst im vergangenen Monat als Feiertag abgeschafft. Statt dessen soll von nun an der erste Montag im September als „Tag der nationalen Einheit“ begangen werden. Für viele ist dies leere Symbolik. Gladys Marin, Vorsitzende der Kommunistischen Partei, erklärte, es gebe „keine Versöhnung, solange wir nicht erfahren, was aus den Verschwundenen geworden ist, und solange die Täter von damals nicht vor Gericht kommen“.

Seit kurzem zeichnen sich erste Ansätze einer juristischen Auseinandersetzung mit der Diktatur ab. Allein gegen den Ex-Juntachef Pinochet, heute Senator auf Lebenszeit, liegen sechs Anklagen aus dem In- und Ausland vor. In Chile wurden in diesem Jahr Ermittlungen eingeleitet, die die Geschehnisse im Konzentrationslager Pisagua, im Norden des Landes, aufklären sollen. Hier sollen sogenannte „Kriegstribunale“ stattgefunden haben, in deren Folge über tausend politische Gefangene hingerichtet wurden. Ihre Leichen wurden nie gefunden. Ein weiterer Fall ist die sogenannte „Operation Albania“, eine Razzia des chilenischen Geheimdienstes in einem Slum der Hauptstadt Santiago, bei der 1987 sieben junge Oppositionelle unter ungeklärten Umständen erschossen wurden.

Auch aus dem Ausland wächst der Druck auf die ehemaligen Putschisten. In Spanien wurde Anfang des Jahres offiziell Anklage gegen Ex-Diktator Pinochet und andere Junta-Mitglieder erhoben. Ihnen werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord und Terrorismus vorgeworfen. Anlaß der Klage ist, daß zwischen 1973 und 1990 auch zahlreiche spanische Staatsangehörige in Chiles Gefangenenlagern „verschwanden“. Im Nachbarland Argentinien wird gegenwärtig die Ermordung des ehemaligen chilenischen Oberbefehlshabers General Carlos Pratt, die 1974 in Buenos Aires stattfand, untersucht. Drahtzieher des Attentats soll Pinochet selbst gewesen sein. Der ehemalige Geheimdienstchef, General Manuel Contreras, sitzt in Chile bereits in Untersuchungshaft. Senator Pinochet meinte zu dem Fall bisher nur, er habe ja nicht über alles Bescheid wissen können.

Rückblick nach 25 Jahren: Flucht ins Exil – Die Solidaritätsbewegung in Ost und

West träumte von einem „Dritten Weg“

Von Donata Dröge

(Berlin, 3. September 1998, npl).- 25 Jahre ist es her, daß eine Militärjunta in Chile die Macht ergriff. Am 11. September 1973 marschierten Soldaten in der Hauptstadt Santiago auf, die Luftwaffe bombardierte den Regierungspalast. Präsident Salvador Allende kam bei dem Angriff ums Leben. Die Diktatur des Generals Augusto Pinochet dauerte fast 17 Jahre. Auch nach Wiederherstellung der Demokratie 1989 spielt das Militär noch einen wichtige Rolle in dem Land.

Auch für viele Deutsche ist der Jahrestag des Putsches ein wichtiges Datum. Er markiert den Beginn einer breiten Solidaritätsbewegung mit den chilenischen Oppositionellen, von denen fast eine halbe Million ins Exil ging. Der Staatsstreich der Militärs war ein Schock für die Weltöffentlichkeit. Das Land galt als Paradebeispiel demokratischer Tradition. Anders als in den meisten anderen Ländern des Kontinents hatte es in Chile nie zuvor eine Militärregierung gegeben.

Die Regierung des Linksbündnisses Unidad Popular unter Salvador Allende begann 1970, einen „dritten Weg“ des demokratischen Sozialismus zu erproben. Professor Urs Müller-Plantenberg von der Freien Universität Berlin, der 1973 das „Chile- Komitee“ mit initiiert hatte, erinnert sich: „Mitten im kalten Krieg, zwei Jahre nach der Niederschlagung des Prager Frühlings durch die sowjetische Armee, schien in Chile plötzlich das Unmögliche möglich geworden zu sein Ein sozialistisches Modell unter Beibehaltung demokratischer Freiheiten, ohne Zensur, mit freien Wahlen, Parteien und Gewerkschaften.“

Diese Utopie fand 1973 ein jähes Ende. Schon wenige Tage nach dem Putsch begannen die Razzien. Ganze Stadtteile wurden nach Anhängern der Allende- Regierung durchkämmt. Zu Tausenden wurden mutmaßliche Oppositionelle in Schulen, Universitäten und Fußballstadien zusammengetrieben und wochenlang dort festgehalten. Viele wurden ermordet, wer fliehen konnte, verließ das Land.

Nach Deutschland kamen etwa 5.000 Flüchtlinge. Sowohl die Bundesrepublik als auch die DDR bot den Chilenen Asyl an. Für die chilenischen Flüchtlinge war es meist vom Zufall abhängig, in welchem Teil Deutschlands sie unterkamen. Wer etwa in einer Auslandsvertretung Zuflucht gesucht hatte, wurde von internationalen Organisationen wie amnesty international einem Gastland zugeteilt. Das konnte dann die Bundesrepublik sein, oder auch Finnland oder die Niederlande. Wer ins Nachbarland Argentinien geflohen war, wurde vielleicht von der dortigen Kommunistischen Partei in Obhut genommen und in die DDR, die Tschechoslowakei oder die Sowjetunion weitervermittelt.

Hernán Dubo kam 1974 nach Ostberlin. Bis heute weiß er nicht, weshalb er gleich bei einer der ersten Razzien inhaftiert worden war. „Ich hatte nie etwas mit Politik zu tun. Als die Militärs in unsere Fabrik kamen, habe ich mich gefragt, wen die wohl suchen. Und dann haben sie auch meinen Namen aufgerufen, ich wurde mit einigen anderen in den Lastwagen verfrachtet und zur Militärschule gebracht. Sie haben mich dann kurz darauf laufen lassen, sagten mir aber, ich hätte jetzt Hausarrest. Da wußte ich, von jetzt an kann ich hier nicht mehr frei herumlaufen.“ Damals war Dubo neunzehn Jahre alt. An sein Exil in der DDR hat er gute Erinnerungen. „Wir fühlten uns in jeder Hinsicht in die Gesellschaft aufgenommen. Die Kinder kamen sofort in die Schule, wir Erwachsenen bekamen Deutschunterricht, und wir konnten alle hier arbeiten.“

Daß die rund 1600 chilenischen „Politemigranten“ in der DDR mit einer solchen Sympathie empfangen wurden, hängt nach Ansicht von Peter Stobinski, dem ehemaligen Vorsitzenden des dortigen Chile- Solidaritätskomitees, unter anderem damit zusammen, daß sie einen gesellschaftlichen Aufbruch verkörperten, den sich viele auch im eigenen Land wünschten. „Die Chilenen brachten eine andere Vorstellung von der Welt mit. Mit ihren Liedern und Gedichten, ihrer ganzen Lebensart zeigten sie uns, daß politische Arbeit auch viel lockerer sein konnte, als man es in der DDR kannte. Und da sie ja ganz offiziell vom Staat willkommen geheißen wurden, konnte man sich mit mancher nicht ganz linientreuen Idee auf sie berufen: Der Satz, 'Das kommt nicht von mir, das haben die Chilenen gesagt', bot uns einen kleinen Freiraum.“

Die Chile-Solidarität warf ganz neue Fragen auf. In Vietnam galt es, den Krieg David gegen Goliath zu unterstützen. In Chile ging es auch um die Freiheit politischer Gefangener. Das weckte Interesse auch bei Leuten, die sich politisch sonst eher bedeckt hielten. Peter Stobinski erinnert sich an die ungewöhnliche Breite der Chile-Bewegung: „Da gab es lauter Wandzeitungen, die Schulkinder veranstalteten Postkartenaktionen oder Kuchenbasare in den Pausen. Vor allem aber fanden viele Künstler in der Chile-Arbeit ein Ventil. Dieses Land erschien uns so nah, daß manche Leute meinten, Chile läge direkt um die Ecke.“

Auch im Westen paarte sich die praktische Flüchtlingshilfe mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen. Urs Müller-Plantenberg denkt an die Aktivitäten des Chile-Komitees zur Fußball-WM 1974: „Zufällig fanden die Spiele der chilenischen Mannschaft hier in Berlin statt. Einige von uns sind in der Spielpause mit einer großen Chile-Fahne aufs Spielfeld gerannt, auf der stand: 'Chile SI, Junta NO'. Das konnte man dann auf der ganzen Welt im Fernsehen sehen. Später erfuhren wir, daß sogar ein paar Häftlinge in Chile das gesehen haben.“

In der Bundesrepublik reichte das Spektrum der Chile-Engagierten von kirchlichen Gruppen über Studenten und Gewerkschaften bis zu Teilen der SPD. Untereinander herrschte ein loser Zusammenhalt, die Gruppen arbeiteten meist auf lokaler Ebene. Kontakte zur Chile-Bewegung im Osten gab es kaum. Möglicherweise sah ein Chile-Basar der Salvador-Allende-Schule in der Ostberliner Pablo-Neruda-Straße nicht viel anders aus als eine Solidaritätstombola für chilenische Flüchtlinge in einem Tübinger Gemeindehaus. Doch eine Zusammenarbeit war damals undenkbar.

BRASILIEN

Neue Schuldenkrise droht

Von Osvaldo León

(Brasilia, August 1998, alai-Poonal).- Die 70er und 80er Jahre waren in Brasilien von einer Schuldenkrise geprägt. Die Auslandsschulden stiegen an, der Wirtschaft ging es schlecht. Die unheilvollen Konsequenzen der Stagnation und wirtschaftlichen Abhängigkeit – diese dauert heute noch an – betrafen eine ganze Generation. In den 90er Jahren zeichnet sich erneut eine Schuldenkrise in Brasilien ab, allerdings mit anderen Merkmalen. Dabei lassen die Symptone auf härtere soziale und wirtschaftliche Folgen schließen als in den 80er Jahren.

Der aktuelle Verschuldungsprozeß ist in komplizierterer Weise in das internationale Wirtschaftssystem eingebunden, wobei die Auslandsschuld nicht den einzigen Indikator für die Abhängigkeit von internationalen Wirtschaftsinteressen darstellt. Laut Daten der brasilianischen Zentralbank ist die Bruttoschuld gegenüber dem Ausland von Anfang 1994 bis Anfang 1998 von 145,7 Milliarden US-Dollar auf 193,2 Milliarden US-Dollar gestiegen. Das momentane Ansteigen der Auslandsverschuldung und andere Verbindlichkeiten Brasiliens mit dem Ausland unterscheiden sich von der Krise der 80er Jahre in vielen Aspekten, die leider alle zu einem schnellen Ausbruch einer gravierenden Krise führen können.

Charakteristisch für die momentane Situation sind ein niedriges Wirtschaftswachstum, hohe Importabhängigkeit, ein Rückgang der staatlichen und privaten Investitionen in den letzten vier Jahren und der Verkauf von Staatsbetrieben und privaten Unternehmen an ausländische Investoren bzw. Anleger. All dies führt zu einer verstärkten Abhängigkeit von ausländischem Kapital – jetzt und in der Zukunft.

Ein spezielles Problem dabei ist der Verkauf von Staatsbetrieben im Infrastrukturbereich – Telekommunikation, Energieunternehmen oder Banken – an ausländische Firmen. Sie werden ihre Gewinne in Form von Devisen aus Brasilien ausführen, ohne daß sie durch Exporte Devisenzufluß schaffen. Derartige Devisenausfuhren ohne gleichzeitige Deviseneinfuhren durch Exporte bringen die Zahlungsbilanz ins Ungleichgewicht.

Das Ansteigen der Auslandsschuld spiegelt sich auch in dem Anstieg der internen Staatsschuld wider. Das widerum schlägt sich auf den Staatshaushalt nieder, in dem ein Großteil der öffentlichen Gelder ausschließlich für den Schuldendienst verplant ist. Von politischer Seite werden bezüglich der Steuerpolitik alle bisherigen Wertvorstellungen auf den Kopf gestellt. Die Staatsausgaben werden in einer scheinbar grenzenlosen Entwicklung durch die internen und ausländischen Schulden bestimmt, ohne daß das brasilianische Parlament an dieser Entscheidung beteiligt wird. Priorität im Haushalt hat der Schuldendienst, alle eigentlichen Staatsaufgaben werden hinten angestellt.

Diese perverse ökonomische Dynamik hat ihre Auswirkung auf die sozialpolitischen Posten im Staatsbudget. Die Kürzungen in diesem Bereich werden begleitet mit dem Aufruf, alle müßten den Gürtel enger schnallen, Opfer bringen. Oft wird ohne weitere Erklärungen auf die notwendige „strukturelle Anpassung“ verwiesen. Die wirtschaftliche Situation stellt sich heute folgendermaßen dar: Obwohl das Bruttoinlansprodukt in den Jahren 1995 bis 1998 um 2,5 bis 3 Prozent wuchs, stieg gleichzeitig auch die Arbeitslosigkeit an. Der Ausbruch einer Krise mit Nullwachstum würde die Arbeitslosigkeit rapide erhöhen.

Die Bedingungen für Finanzgeschäfte werden zwar einerseits von der brasilianischen Regierung festgelegt, hängen aber zu einem großen Teil mit der Deregulierung der internationalen Finanzmärkte zusammen. Die daraus resultierenden Probleme rufen nach Regeln und überwachenden Instanzen. Dies allerdings ist leider überhaupt nicht auf der Tagesordnung. Die verschiedenen Schulden – interne, im Ausland, private und öffentliche – bedeuten in der Summe eine zu hohe Zahlungslast für die Gesellschaft. Das kann folgende Konsequenzen haben:

1) Der Anstieg der Verbindlichkeiten, die jetzt und in Zukunft in Devisen gezahlt werden müssen, wird vor allem die jetzt noch jüngeren Generationen treffen. Deren Entwicklungsperspektiven werden stark einschränkt.

2) Die Krisenanfälligkeit und die Abhängigkeit von ausländischen Wirtschaftsinteressen steigt.

3) Die öffentlichen Haushalte werden auf unbestimmte Zeit stark belastet, was die Ausgaben für soziale Leistungen und sonstige Staatsaufgaben einschränkt.

4) Brasilien wird einen Teil seiner wirtschaftlichen Souveränität verlieren und muß sich den Strategien und Interessen des internationalen Finanzkapitals unterordnen.

5) Vor allem die wirtschaftlich benachteiligten Bevölkerungsgruppen werden die Leidtragenden sein. Die, die vom Wirtschaftswachstum nicht profitiert haben und nicht in der Lage sind, die steigende Schuldenlast auch noch mitzutragen.

ECUADOR

Alte Welt statt American Dream: Armutsmigration nach Europa

Von Consuelo Albornoz Tinajero

(Loja, 25. August 1998, sem-Poonal).-Nicht alle Ecuadoreanerinnen haben so ein Glück wie María Juncay, die sechs Jahre in Spanien lebte. Sie reiste unter der schützenden Hand eines Pfarrers nach Bilbao aus. Der Geistliche übernahm die Kosten für ihre Reise, ihren Aufenthalt und ihre zweijährige Ausbildung. Während dieser Zeit beendete Juncay ihre Lehre als Schwesternhelferin und begann, in einem Krankenhaus zu arbeiten.

Ihre Geschichte stellt eine Ausnahme dar. Normalerweise reisen die ecuadoreanischen Migrant*innen mit einem Touristenvisum nach Spanien ein. Begleitet von der Hoffnung, eine Arbeit als Hausmädchen, in der Kinder- und Altenbetreuung, als Erntehelfer*innen oder Putzfrauen zu finden. Denn diese Tätigkeiten sind bei Spanier*innen nicht sehr beliebt. Falls die Einwander*innen Arbeit finden, bleiben sie so lange illegal in Spanien, bis sie entweder einen legalen Status erreichen können oder erwischt und abgeschoben werden.

Die 28jährige María Juncay ist eine der tausenden von Ecuadoreaner*innen aus Loja, der Grenzregion zu Peru. Auch sie hat den „american dream“ gegen „das alte Europa“ eingetauscht, nur um der Armut zu entfliehen. Aus Loja sind in den 80er Jahren die ersten Ecuadorianer*innen nach Spanien ausgewandert. Die enthusiastischen Nachrichten, die sie nach Hause schickten, verleiteten zahlreiche Landsleute auch aus anderen Regionen dazu, ihr Glück auf gleichem Wege in Europa oder beispielsweise in Israel zu versuchen.

Nach den aktuellsten Zahlen des Nationalen Statistikinstitutes (INEC) über Migrationsbewegungen sind 1996 über 140.000 Ecuadoreaner*innen in die USA gereist, davon 51 Prozent Frauen. Im gleichen Jahr gingen immerhin mehr als 10.000 nach Spanien (60 Prozent davon Frauen) und 3.500 nach Italien (63 Prozent davon Frauen). Diese Informationen beziehen sich zum einen nur auf „Reisende“, nicht auf „Migrant*innen“. Zum anderen sagen sie nichts darüber aus, wieviele Menschen es mit Hilfe von Schlepperbanden oder auf anderen Wegen schafften, illegal in ihre Zielländer zu kommen. Die ecuadoreanische Migrationsbehörde geht von 2.000 Landsleuten monatlich aus, die dies versuchen.

Die Armut, die 80 Prozent der zwölf Millionen Bewohner*innen von Ecuador betrifft, eine Arbeitslosigkeit von 18 Prozent und eine Unterbeschäftigung von 60 Prozent sind drei brutale Gründe, warum immer mehr Männer und – jetzt auch – Frauen die Flucht ins Ausland antreten. Die ökonomische Krise wurde nicht nur durch politische Instabilität und Strukturanpassungsmaßnahmen verschärft, sondern auch durch klimatische Veränderungen. In jüngster Zeit wechselten sich lange Trockenperioden und Überschwemmungen in weiten Teilen des Landes in verheerender Weise ab.

Bis vor einigen Jahren sind vor allem junge Ecuadoreaner auf der Suche nach besseren Perspektiven in die USA ausgewandert. Allein in New York sollen mehr als 300.000 Menschen ecuadoreanischer Herkunft leben. Die eingeschränkte Visavergabe durch die USA und das harte Durchgreifen gegen Illegale haben die Attraktivität des „Landes der unbegrenzten Möglichkeiten“ sinken lassen.

Allein aufgrund der Sprache erscheint vielen Spanien als geeignete Alternative. Aktuelle Statistiken zufolge wollen täglich 20 Menschen aus Loja ihr Glück im Ausland suchen, die meisten in Spanien. Nach Informationen des ecuadoreanischen Konsulats in Madrid ist die Zahl der Migrant*innen von 575 im Jahr 1993 auf 2.266 im Jahr 1997 angestiegen. Für dieses Jahr wird ein Anstieg auf mehr als 3.000 erwartet. Dann werden mehr als 15.000 Ecuadoreaner*innen in Spanien leben (interessant ist hier der Vergleich mit den weiter oben erwähnten offiziellen „Reisezahlen“, die Red.).

Bemerkenswerterweise haben gerade die Migrant*innen aus der Grenzregion Loja ein hohes Bildungsniveau. Oft suchen Menschen mit Universitätsausbildung oder gar mit Promotion eine Arbeit in Spanien. María Juncay erzählt von einer Freundin, die als Psychologin mit einem Lehrauftrag an einer privaten Universität in Loja „das Glück hatte, in Spanien eine feste Arbeit zu finden“. Sie betreut eine Seniorin und füttert sie. Der Schriftsteller Carlos Carrión aus Loja lebte einige Jahre mit seiner Familie in Spanien, weil seine Frau aus dem Land stammt. Heute arbeitet er als Dozent an der Nationaluniversität von Loja. Er beschreibt, wie schlecht er sich fühlt, wenn seine ausgebildeten Student*innen gen Spanien ziehen, um als Hilfskräfte im Dienstleistungssektor Arbeit zu finden.

Aber auch wenn man in Spanien das Geld nicht auf dem Tablett serviert bekommt, hält sich der Mythos, man könne aufgrund des niedrigen Kurses des ecuadorianischen Sucre im Vergleich zur spanischen Peseta sehr viel Geld an die Familie nach Ecuador schicken. Allerdings sind auch die Lebenshaltungskosten höher, so daß es sehr schwierig ist, noch Geld für die Familien im Heimatland beiseite zu legen. Viele Ecuadoreaner*innen träumen davon, im Ausland viel Geld zu verdienen und nach ihrer Rückkehr ein Haus oder ein Auto zu kaufen oder ein eigenes Geschäft aufzumachen. Dafür riskieren sie sogar, sich das Geld für die Reise nach Spanien (rund 3.000 US-Dollar) zu leihen und schon verschuldet dort anzukommen.

Trotz all dieser Schwierigkeiten werden über private Büros monatlich insgesamt 800.000 US-Dollar aus dem Ausland in die Region Loja mit ihrer knapp einer halben Million Bevölkerung geschickt. Die Auswanderung hält an. Der Schriftsteller Carrión sieht es mit gewisser Ironie. Irgendwann meint er, würden „die Gewohnheiten aus Loja die spanischen Gebräuche ersetzen“. Dann werde es die „Wiedereroberung Spaniens durch Ecuador“ geben.

PERU

Gemeinschaftsbanken auf dem Land

(Lima, 31. August 1998 alc-Poonal). Die Einrichtung von Gemeinschaftsbanken zur Linderung der Armut in den marginalisierten Vierteln Limas und anderen Städten haben relativ viel Erfolg gehabt. Deswegen wurde jetzt damit begonnen, diese alternative Form der Kreditvergabe auch in ländlichen Regionen im Norden Perus einzurichten. Zielgruppe dieser Gemeinschaftsbanken sind vor allem Frauen, die sich um den Haushalt kümmern und meist außer einem mageren Taschengeld von ihrem Mann keine eigenen Einkünfte haben.

In Peru werden die Gemeinschaftsbanken auf dem Land von dem Zentrum für Sozialforschung „Solidarität“ begleitet, eine Organisation, die seit 1983 in den ländlichen Regionen Lambayeque und Cajamarca arbeitet und dort 50 Gemeinschaftsbanken mit 1.336 Genossenschafterinnen und einem Kapital von 270.440 US-Dollar aufgebaut hat. Nach drei Jahren haben die Frauen über dieses Startkapital hinaus insgesamt 110.320 US-Dollar gespart.

Das Projekt der Gemeinschaftsbanken auf dem Land wurde 1994 von „Solidarität“ gemeinsam mit den kirchlichen Organisationen „Lutheran World Relief“ und „Catholic Relief Service“ sowie der holländischen NGO „Bilance“ initiiert. Jedes Programm beginnt mit einer Studie über die Gemeinde, in der die Gemeinschaftsbank eingerichtet werden soll. Gleichzeitig finden Kurse für mögliche Genossenschafterinnen statt. Dann bekommt das Verwaltungskomitee der Gemeinschaftsbank von der Förderorganisation ein Startkapital von 1.500 US- Dollar, wovon an jede Genossenschafterein am Anfang höchtens 75 US-Dollar verliehen werden dürfen. Das Geld muß nach vier Monaten in vierzehntägigen Raten zurückgezahlt werden. Der Zinssatz beträgt monatlich drei Prozent, eine Sicherheit müssen die Frauen nicht hinterlegen.

Wenn sich die Genossenschafterin an diese Abmachungen hält, hat sie Anspruch auf eine höhere Kreditsumme, die bis zu 325 US-Dollar betragen kann. Wenn alles klappt, hat die Bank nach drei Jahren eigenes Kapital. Das Verwaltungskomitee, bestehend aus drei Personen, wird von der Genossenschafterinnenversammlung für ein Jahr demokratisch gewählt. Das Geld wird von einer normalen Geschäftsbank verwaltet.

Die Genossenschafterinnen berichten, das Projekt habe ihnen nicht nur geholfen, ihre wirtschaftliche Situation zu verbessern. Sie hätten dadurch auch mehr Selbstbewußtsein bekommen. „Ich bin Mutter von fünf Töchtern“, erzählt eine Bäuerin. „Mein Mann, ein Macho, ließ mich nicht aus dem Haus gehen. Ich war eine unterdrückte Frau. Ich mußte den Haushalt unter der Kontrolle meines Mannes machen. Seitdem ich Genossenschafterin bei der Gemeinschaftsbank bin, muß mein Mann umdenken. Er wird merken, daß ich gemeinsam mit den anderen Frauen viele nützliche Dinge lerne. Meine Töchter sind begeistert und erinnern mich schon immer daran, daß ich den Zahlungstermin nicht vergesse.“

Die Frauen verwenden die Kredite, um einen Teil der Ausbildung für die Kinder zu bezahlen oder um sich ein Kleinstunternehmen (microempresa) aufzubauen. Eine Frau beispielswiese kaufte sich Material, um Holzkreuze herzustellen und verkaufen zu können. Hier zeigt sich allerdings ein strukturelles Problem der hochgepriesenen Wundermittel Mikrokredite und Mikrounternehmen. Im Grunde versuchen die Frauen oft, sich eine Existenz im informellen Sektor aufzubauen. Jener Sektor, in den sich die Menschen flüchten, weil es keine Arbeitsplätze gibt.

Sie klammern sich an Holzkreuze, Kaugummis oder Stopfnadeln. Eine Ausbildung brauchen sie dafür nicht und sie bekommen sie auch nicht angeboten. Die Konkurrenz zwischen den einzelnen Verkäufer*innen ist oft groß, die Arbeitsbedingungen sind meist schlecht. Und wirklich grössere Verdienstaussichten gibt es selten. So gut es für die Frauen ist, sich über die Gemeinschaftsbank selbst Geld beschaffen zu können, dabei viel zu lernen und sich zu emanzipieren, so fragwürdig bleibt die langfristige Persepekive. Denn die Massenarmut in Peru haben auch die Gemeinschaftsbanken nicht entscheidend ändern können.

URUGUAY

Auch die Frente Amplio ist auf den Hund gekommen

(Montevideo, 2. September 1998, comcosur-Poonal).- Micaela, so heißt die Hündin,

die als eine Aspirant*innen für die Präsidentschaftskandidatur des Linksbündnisses Frente Amplio (FA) vorgeschlagen ist. Aufgestellt wurde Micaela von dem FA-Abgeordneten José Mujica, der in seinem Büro ein Foto der Hündin aufhängte und damit seine Entscheidung kundtat. Die Vorgeschichte dieser Aktion: In der linken Koalition schießen seit neuestem die Kandidat*innen wie Pilze aus dem Boden. Früher dagegen hatte es dagegen nach einigen Diskussionen immer eine Einheitskandidatur mit der Argumentation gegeben, das Programm sei das entscheidende. Einige Medien versichern, mit der Nominierung von Micaela würde der Streit der Linken ins Lächerliche gezogen. Andere sehen die Aktion als Kritik und Ironie gegenüber den internen Rivalitäten an. Die Frente Amplio erreichte bei den vergangenen Präsidentschaftswahlen ein Drittel aller Stimmen und hat seither noch an Popularität gewonnen. (vgl. auch Poonal 351, Brasilien: Hunde gehen vor die Wahlen – und umgekehrt)

VENEZUELA

Parlament macht Rückzieher bei der ILO-Konvention 169

Von Andrés Cañizalez

(Caracas, 3. September 1998, alc-Poonal).- Das venezolanische Parlament hat überraschenderweise eine Kehrtwende vollzogen und die Konvention 169 der Internaionalen Arbeitsorganisation (ILO) nicht ratifiziert. Vor kurzem hatte der Senat die Ratifizierung einstimmig beschlossen, von daher wurden keine Schwierigkeiten bei der offiziellen Annahme dieses Beschlusses durch die Abgeordnetenkammer erwartet. Die Senatorin Lucia Antillano, Vorsitzende des Umweltausschusses des Senats, zeigte sich erstaunt über den überraschenden Rückzug der sozialdemokratischen Partei „Demokratische Aktion“ und der christlich-sozialen Partei Copei.

Beide Parteien hatten bei der vorangegangenen Abstimmung im Senat noch keine Zweifel an der Ratifizierung geäußert. Vertreter*innen der beiden Parteien, die zusammen die einfache Mehrheit im Abgeordnetenhaus bilden, haben keine näheren Erklärung für ihr Verhalten abgegeben. Das Ende des Jahres zusammen mit dem Präsidenten neu zu wählende Parlament muß diesen Punkt daher noch einmal aufnehmen. Der kommende Kongreß wird am 23. Januar 1999 für eine Legislaturperiode von fünf Jahren zusammentreten. Die aktuellen Parlamenter*innen beschäftigen sich bereits jetzt vorrangig mit dem Wahlkampf.

Die Senatorin Antillano betonte, die Ratifizierung der Konvention 169 sei im Rahmen des Andenpaktes von besonderer Bedeutung, da Venezuela als einziges Land die Konvention noch nicht unterzeichnet und in nationales Gesetz umgesetzt habe. Allerdings werden Bestandteile auch in Venezuela bereits als Einzelgesetze diskutiert. Lucia Antillano griff Artikel sechs der Konvention heraus, nach dem die Regierungen die indigenen Gemeinschaften in die Entscheidungsfindung miteinbeziehen müssen, wenn es sich um gesetzliche oder administrative Maßnahmen handelt, von denen die Indígenas direkt betroffen sind.

In Artikel vier der Konvention sind die Regierungen aufgefordert, umweltschützende Maßnahmen vor allem in den Regionen zu ergreifen, in denen indigene Völker leben. Denn die Natur ist für deren Religion, Ernährung und Medizin von existenzieller Bedeutung. Auch diese Thematik befindete sich in der aktuellen politischen Auseinandersetzung auf der Tagesordnung: Während des Hin und Her im Parlament protestierten Indígenagruppen gegen ein riesiges Stromprojekt, mit dem Strom durch Amazonasgebiete von Guri in Venezuela bis Boa Vista im Nordosten Brasiliens geleitet werden soll. Im Rahmen dieser Protestaktionen blockierten die Indígenagruppen auch eine wichtige Autobahn nach Brasilien. (vgl. Poonal 352)

BOLIVIEN

„Koka ist kein Kokain!“ – Der Kampf der Kokaleros

(La Paz, 3. September 1998, pulsar-Poonal).- „Banzer, Koka ist kein Kokain und Kokaleros sind keine Drogenhändler!“ Mit dieser an den Präsidenten Hugo Banzer gerichtete Parole kündigte der Bauernführer und Abgeordnete Evo Morales nach 24 Tagen die Ankunft des Marsches der Koka-Bauern und -Bäuerinnen in La Paz an. Mehr als 20.000 Bäuerinnen und Bauern haben an dem Marsch teilgenommen. Während der Abschlußkundgebung auf dem Platz „San Franisco“ gegenüber dem Regierungsitz bedankte sich Morarles für die Unterstützung und Solidarität der Arbeiter*innen der bolivianischen Hauptstadt.

In seiner Rede übte Evo Morales harsche Kritik an der US-Botschaft in Bolivien. Die US-Vertretung müße den diplomatischen Rahmen einhalten. Die US-Botschafterin hatte kürzlich die Koka-Pflanzer*innen den Drogenhändler*innen gleichgestellt (vgl. Poonal 351). Außerdem polemisierte Morales gegen die Regierung. Wenn diese alle Campesinos als Drogenhändler*innen bezeichnet, müsse sie auch alle verhaften. Wenn nicht, trage sie dazu bei, ein schweres Vergehen zu decken.

Kritik übte Morales vor allem an Präsident Hugo Banzer. Er betonte, Banzer zeige mit seinem Hang zum Militarismus einmal mehr seine faschistische Einstellung. Hugo Banzer kam in den 70er Jahren mit Hilfe eines blutigen Militärputsches zum ersten Mal an die Macht. Auch wenn zahlreiche Bürger*innen von La Paz zur Begrüßung des Marsches kamen, war die Unterstützung seitens der Bevölkerung doch wesentlich geringer als beim letzten Marsch 1994. Damals war die ganze Stadt auf den Beinen.

GUATEMALA

Zum ersten Mal wird die Bestrafung von sexueller Nötigung gesetzlich geregelt

(Guatemala-Stadt, 3. September 1998, pulsar-Poonal).- In Guatemala wird das zweifelhafte Sprichwort „Wer ihr folgt, wird sie besitzen“ bald keine Gültigkeit mehr haben. Denn wer ihr ohne ihre Zustimmung folgt oder sie verfolgt, muß selbst mit Verfolgung rechnen – und zwar durch das Gesetz. Zum ersten Mal wird das Thema der sexuellen Nötigung auch von der Gesetzgebung aufgegriffen. Kürzlich wurde im guatemaltekischen Parlament ein Reformvorschlag für das Strafgesetzbuch eingereicht. Sexuelle Nötigung soll dort in einem eigenen Artikel behandelt werden. In dem Reformtext wird die Notwendigkeit betont, Frauen und Kindern Schutz zu bieten vor sexueller Nötigung bei der Arbeit, in der Familie, in der Schule oder in anderen Bereichen, in denen Abhängigkeitsbeziehungen bestehen. Das Gesetzesvorhaben soll die Hemmschwelle für sexuelle Bedrohung oder Mißhandlung erhöhen. Außerdem sollen die Strafen für Sexualstraftäter verschärft werden.

ARGENTINIEN

Neue Arbeitsgesetzgebung: Sieg für Menem im Parlament

(Buenos Aires, 3. September 1998, pulsar-Poonal).- Carlos Menem und seine Regierung haben im argentinischen Parlament einen Sieg davon getragen. Die Justizialistische Partei (PJ) erreichte die notwendigen Stimmen, um eine unternehmerfreundliche Reform des Arbeitsgesetzes durchzubringen. Die Flexibilisiereung der Arbeitsbedingungen beschneidet die Ansprüche der Arbeiter*innen bei Entlassungen und Zeitverträgen erheblich.

Auf die Verabschiedung dieses Gesetz hatten Unternehmer*innen und Präsident Carlos Menem schon lange hingearbeitet. In der regierungstreuen Gewerkschaftszentrale (CGT) hatten sie dabei eine Verbündete. Das Gesetzesprojekt ist bekannt geworden unter dem Namen „Modernisierung der Arbeitsbeziehungen“. Die starke Opposition im Parlament ließ die Befürworter*innen des Gesetzes jedoch nicht sofort zum Zuge kommen. Die Regierung erklärte, mit dieser Reform des Arbeitsgesetzes würden sowohl Arbeitslosigkeit als auch die Kosten für die Unternehmer gesenkt. Die Reform hätte nichts mit der Auflagen des IWF zu tun. Die regierungsfeindlichen Gewerkschaften werden jetzt überlegen, mit welchen Mitteln sie vorgehen wollen. Sie betonten, heute seien der Arbeiter und die Arbeiterin den Unternehmerinteressen noch schutzloser ausgesetzt.

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