Poonal Nr. 189

Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 189 vom 18.04.1995

Inhalt


MEXIKO

LATEINAMERIKA

HAITI

PERU

BRASILIEN


MEXIKO

Pleite im Öffentlichen Personentransport

(Mexiko-Stadt, 16. April 1995, POONAL).- Die Verwaltung der mexikanischen Hauptstadt hat die Ruta 100, die öffentliche Verkehrsgesellschaft in Mexiko-Stadt, am 8. April überraschend für bankrott erklärt. Rund 14 000 Beschäftigte verlieren dadurch ihre Arbeit. Im wegen der Osterferien relativ leeren Mexiko-Stadt gab es trotz der vielen privaten Transportbusse und eines städtischen Notdienstes bereits zahlreiche Verkehrsprobleme. Für die kommende Woche wird allgemein ein Chaos erwartet. Die Stadtverwaltung hat die Gründung eines neuen privaten Transportunternehmens mit weniger Bussen und Personal angekündigt. Vorerst sollen 2.000 Polizisten angemietete und stadteigene Busse fahren, um einen völligen Kollaps zu verhindern. Bei vollem Betrieb beförderte die Ruta-100 täglich knapp 3 Millionen der 20 bis 25 Millionen Einwohner*innen von Mexiko-Stadt.

Viele Beobachter*innen sehen in dem Vorgehen der Hauptstadtbehörde einen gezielten Schlag gegen die Gewerkschaft der Ruta-100, die SUTAUR. Gleichzeitig mit der Schließung des Transportunternehmens wurden fünf Gewerkschaftsführer verhaftet. Sie werden beschuldigt, Gelder veruntreut zu haben. Tatsächlich waren in der Vergangenheit häufiger Gerüchte über Koruption innerhalb der Gewerkschaft laut geworden. Allerdings mußte die Stadt für die jetztigen Verhaftungen Anzeigen aus dem Jahr 1991 hervorkramen.

Die Bankrotterklärung des Staatsunternehmens kann auch als Versuch gewertet werden, eine der stärksten unabhängigen Gewerkschaften Mexikos zu zerschlagen. Von den 14.000 Mitarbeiter*innen der Ruta- 100 waren 12.000 gewerkschaftlich organisiert. Wenn die SUTAUR es wollte, standen buchstäblich alle Räder still. Mit der Unabhängigen Proletarischen Bewegung (MPI) verfügte sie sogar über eine Art politischen Arm mit maoistischer Tendenz. Die Gewerkschaft sympathisierte ganz offen mit den Rebell*innen der Nationalen Zapatistischen Befreiungsarmee (EZLN) in Chiapas. Es fehlt auch nicht an Beschuldigungen, SUTAUR habe die Zapatisten direkt finanziert.

Der Versuch, die Gewerkschaft zu spalten, indem die Stadtverwaltung einigen eine Neueinstellung im neu zu schaffenden Transportunternehmen anbot, schlug bisher fehl. Stattdessen protestieren Tausende von Arbeiter*innen fast täglich auf dem Platz vor dem Nationalpalast oder vor anderen staatlichen Einrichtungen. Die nach dem Gesetz vorgeschriebenen Abfindungen lehnen die meisten bislang ab. Große Teile der Bevölkerung sympathisieren mit der Ruta-100-Belegschaft. Die eigentliche Kraftprobe mit den Behörden steht jedoch noch aus. Eine besondere Note erhalten die Ereignisse durch den angeblichen Selbstmord des Verantwortlichen für den Transportverkehr in der Hauptstadt, Luis Miguel Moreno, am 10. April. Daß dieser die Kraft gefunden haben soll, gleich mit zwei Schüssen ins Herz seinem Leben ein Ende zu bereiten, übersteigt die Vorstellungskraft vieler Mexikaner*innen.

Permanente Friedensverhandlungen

(Mexiko-Stadt, 16. April 1995, POONAL).- Ab dem 20. April wollen die mexikanische Regierung und die Nationale Zapatistische Befreiungsarmee (EZLN) Verhandlungen aufnehmen, um zu einem dauerhaften Frieden zu kommen. Dies ist das Ergebnis der klärenden Gespräche, die am 9. April in dem Ort San Miguel im Bundesstaat Chiapas stattfanden. Dort waren sieben Kommandanten der Guerilla, drei Vertreter der mexikanischen Regierung, die Mitglieder der Parlamentskommission zu Chiapas und Bischof Samuel Ruiz von der Nationalen Vermittlungskommission zusammengekommen. Die Verhandlungen sollen in dem Ort San Larráinzar geführt werden.

LATEINAMERIKA

Menschenrechte in den 90er Jahren, Teil III

(Lima, März 1995, noticias aliadas-POONAL).- Die Menschenrechtssituation ist in vielen Ländern Lateinamerikas zwar besser geworden, seit in den 80er Jahren zivile Regierungen an die Stelle der Militärdiktaturen traten, doch es bleiben zahlreiche Probleme. Teil III geht auf die Schwierigkeiten mit den Menschenrechten in Kolumbien, Guatemala, Venezuela und Chile ein.

Kolumbien: Straffreiheit für Täter in Uniform

„Als Präsident Kolumbiens und in Verteidigung der internationalen Rechtsprechung akzeptiere ich die Verantwortung für die schweren Verbrechen, die von Dienern des Staates begangen wurden.“ Mit diesen Worten brach Regierungschef Ernesto Samper eine lange Tradition der kolumbianischen Staatsoberhäupter, die internationale Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen im Land als Imageproblem abzutun. Samper gab seine Erklärung ab, nachdem er einen Bericht erhielt, der paramilitärische Gruppen der Ultrarechten für 34 Morde zwischen 1988 und 1991 in dem Ort Trujillo im westlichen Bundesstaat Valle del Cauca verantwortlich macht. Dem Bericht zufolge erlaubten Polizei, Richter und Armee diesen Gruppen, die Morde durchzuführen. Einige Soldaten nahmen sogar direkt daran teil. Die Opfer wurden beschuldigt, die Guerilla zu unterstützen. Menschenrechtsorganisationen zeigten sich von der Erklärung des Präsidenten angenehm überrascht. „Wir hatten nicht erwartet, daß Samper die Verantwortung des Staates für die Massaker eingestehen würde“, so Juan Carlos Gutiérrez, Anwalt der interkonfessionellen Komission für Gerechtigkeit und Frieden. Dennoch geht Gutiérrez davon aus, daß die Straffreiheit in Kolumbien fortbestehen wird. Einer der Verantwortlichen für das Massaker in Trujillo etwa, der Majoroberst Alirio Antonio Urueña, wird wohl nie für seine Verbrechen bestraft werden. Augenzeug*innen haben ausgesagt, sie hätten beobachtet, Urueña habe die Opfer mit einer Säge in Stücke zerschnitten. Die einzige Konsequenz: Urueña wurde nach Bekanntwerden der Zeugenberichte vom Dienst suspendiert. Die offizielle Untersuchungskommission geht von 34 Ermordeten in Trujillo aus, Menschenrechtsgruppen sprechen sogar von 107 Opfern. Die Haltung des Präsidenten gegenüber den Menschenrechten ist widersprüchlich. Einerseits erkannte er öffentlich die staatliche Verantwortung für Verletzungen an, anderseits legte er sein Veto gegen das Gesetz über die Fälle des Verschwindenlassens von Personen ein. Dieses Gesetz wurde vom kolumbianischen Parlament verabschiedet und hatte die Unterstützung der Menschenrechtsgruppen. Zwei Führerinnen der Vereinigung von Familienangehörigen der Verhafteten/Verschwundenen klagten während der Diskussion über das Gesetz, sie würden von Unbekannten verfolgt und erhielten telefonische Morddrohungen.

177 außergerichtliche Hinrichtungen durch „Sicherheitskräfte“

Das Untersuchungs- und Volksbildungszentrum CINEP registierte in den ersten neun Monaten des Vorjahres 177 außergerichtliche Hinrichtungen durch Mitglieder des Staatsapparates. Sorge bereiten den Menschenrechtsgruppen ebenfalls die Militäroperationen, die von den sogenannten mobilen Brigaden in ländlichen Zonen durchgeführt werden. Es handelt sich um Aufstandsbekämpfungseinheiten der Armee, die wiederholt angeklagt wurden, Menschen außergerichtlich hinzurichten, zu foltern und willkürliche Verhaftungen vorzunehmen. Häufig werden auch Knder Opfer des Staatsterrors, von ihnen werden oftmals Informationen über ihre Eltern erpreßt. Campesinos und Campesinas aus Yonds in der Provinz Antioquia beschuldigen die Einheit, fünf Kinder, darunter eines von vier Jahren, im Juni des vergangenen Jahres gefoltert zu haben. Im September 1994 veröffentliche eine kolumbianische Zeitschrift einen Artikel, in dem der bekannte paramilitärische Anführer „Castaño“ versicherte, seine Spezialarmee sei ursprünglich von Sicherheitskräften des Staates rekrutiert und ausgebildet worden. Castaño und seine Leute sind für eine Reihe von Massakern und Morden verantwortlich. Obwohl ein Haftbefehl gegen den Milizchef vorliegt, reist er unbehelligt zwischen seiner Villa im kolumbianischen Cordoba und seinem Haus in Paris, Frankreich, hin und her. Castaño hat unter anderem seine Beteiligung bei dem Mord am Präsidentschaftskandidaten Bernardo Jaramillo von der Volksunion (Union Popular) im Jahr 1990 zugegeben. Vor allem Aktivist*innen der Gewerkschaften sind Ziel der Angriffe der Todesschwadrone. Die Vereinte ArbeiterInnenzentrale CUT nennt 123 Morde an kolumbianischen Gewerkschafter*innen von Januar bis Mitte Oktober 1994. In der Mehrheit dieser Fälle waren Paramilitärs beteiligt. In den Gefängnissen des Landes zählt Folter zu den üblichen Methoden, in Verhören Geständnisse von Gefangenen zu erpressen. Eine Untersuchung von Menschenrechtsgruppen in der Stadt Barrancabermeja kam zu folgendem Ergebnis: Von 183 Personen, die zwischen Januar 1993 und Juni 1994 von den Sicherheitskräften verhaftet wurden, wurden 170 gefoltert. Die CUT berichtet über 1.542 ermorderte Gewerkschafter*innen, seit die Organisation sich 1986 gründete. Kein einziger Verantwortlicher wurde verurteilt.

Guatemala: Das eisige Schweigen brechen

Carlos überlebte das Massaker am Rio Negro im Jahr 1982. Aber seine Frau und seine Kinder hatten nicht das gleiche Glück. Sie wurden am 13. März des Jahres zusammen mit 144 anderen Frauen und Kindern von Soldaten und Mitgliedern der paramilitärischen Zivilpatrouillen ermordet. Die Frauen wurden vergewaltigt, bevor die Mörder sie umbrachten. Wie im Falle hunderter weiterer Massaker, zehntausender verschwundener Personen und mehr als 100.000 politisch motivierter Morde in Guatemala folgte den Verbrechen eisiges Schweigen des Staates. Erst 1992 konnte die beinahe schon eherne Regel der Straflosigkeit für staatliche Gewalttäter zumindest angekratzt werden. 1992 begann die Ausgrabung von Leichen in den geheimen Massengräbern. Basisorganisationen wie die Gruppe für gegenseitige Hilfe von Familienangehörigen Verhafteter und Verschwundener (GAM) und die Nationale Koordination der Witwen Guatemalas (CONAVIGUA) sowie ein Team aus Gerichtsmediziner*innen waren dafür verantwortlich. Seitdem wurden immer neue geheime Massengräber entdeckt. Als die Gerichtsmediziner*innen die Leichen des Massakers in Rio Negro ausgrub, verfolgte Carlos, wie die Überreste seiner Ehefrau und seiner Kinder wieder ans Tageslicht kamen. Im April 1993 erhielten die Opfer ein christliches Begräbnis auf dem Friedhof von Rabinal in der Provinz Baja Verapaz. „Das ist nur der Anfang“, sagt Carlos, der rastlos in der ganzen Region von Rabinal arbeitet, um den anderen Überlebenden der Massaker zu helfen, ihre Erfahrungen zu erzählen und vielleicht die Exhumierung ihrer Familienangehörigen zu erreichen. Doch der Kampf für Gerechigkeit ist nicht ungefährlich, denn die Täter laufen noch frei herum. Carlos etwa begegnet bei seinen Recherchen ständig Santos, einem bekannten Auftragsmörder der Militärs. „Er kennt mich und ich weiß, wer er ist“ berichtet Carlos. Er hat bereits zahlreiche Todesdrohungen erhalten. Die Nonne Nilida vom Ordern Töchter der Barmherzigkeit arbeitet in 38 Dörfern in der Umgebung von Rabinal. Sie sagt: “ Das wichtigste für die Überlebenden ist, zu wissen, wo die Körper ihrer Familienangehörigen liegen. Aber die Leute haben Angst, gegen diejenigen vorzugehen, die diese Verbrechen begangen haben. Sie fürchten, daß sie Opfer von Anschlägen werden könnten.“ Wenn sich Juana, eine alte Indígena von der Ethnie der Achi aus der Ortschaft La Ceiba dem Militärposten nähert, beginnt sie zu weinen. Sie zeigt auf einen Mann am Straßenrand. „Sehen Sie ihn? Sein Name ist David Reyes. Er war von der Geheimpolizei (policia judicial). Am 16. Oktober 1981 kam er in mein Haus und schleppte meine Söhne vor meinen Augen fort. Tomas und Jesus hießen sie. Außerdem raubte er zwei Silberkreuze. Meine Söhne brachte er zum Militärposten von Rabinal. Später erfuhr ich, daß sie auf der Hacienda umgebracht wurden.“

Venezuela: Verbrechen während des Ausnahmezustands

Am 27. Juni, knapp fünf Monate nach seinem Regierungsantritt, verkündete Präsident Rafael Caldera die Aufhebung der Verfassungsrechte, die die individuelle Sicherheit, die freie Wirtschaftsausübung, das Eigentum, den Schutz vor Verhaftung ohne richterlichen Befehl, die Unverletzbarkeit der Wohnung und die freie Beweglichkeit garantieren. Die Regierung begründete diese Maßnahmen mit der Notwendigkeit, freie Hand bei der Verhaftung, Untersuchung und gerichtlichen Anklage on Wirtschaftskriminellen zu bekommen, die sich auf Staatskosten bereichert haben. In diesem Fall stellte sich der Generalstaatsanwalt der Nation, Ivan Darío Badell, der Regierug entgegen. Er verwies auf die unveräußerlichen Rechte auf Leben und körperliche und seelische Unversehrtheit hin und machte unmißverständlich darauf aufmerksam, daß Folter und Mißhandlungen nicht durch angebliche Maßnahmen zur Verbrechensbekämpfung gerechtfertigt werden könnten. „Das heißt, diese Grundrechte sind unaufhebbar und können keiner Einschränkung unterworfen werden“, sagte Badell. „Das Ausnahmerecht soll Normalität schaffen, um den sozialen Frieden und die Stabilität des demokratischen Systems zu garantieren. Seine Gültigkeit ist zeitweise und vorübergehend“, belehrte Badell die Minister. Internationale Organisationen wie Human Rights Watch/Americas und Amnesty International haben genauso wie der Kongreß und das Außenministerium der USA ihre Besorgnis über die Ausschreitungen der Sicherheitskräfte gegen die Zivilbevölkerung geäußert. Laut Human Rights Watch „fanden viele Razzien in Armenvierteln der Hauptstadt statt. Außer jungen Familien mit niedrigem Einkommen… waren soziale Aktivist*innen, Volksführer*innen und Mitglieder von politischen Parteien der Linken Ziel von Durchsuchungen, willkürlichen Verhaftungen und wurden oft ohne Kommunikation mit der Außenwelt gelassen“. Die venezolanische Menschenrechtsorganisation PROVEA zieht eine wenig erfreuliche Bilanz der ersten Monate unter der Regierung von Caldera. PROVEA verzeichnet für den Zeitraum von Oktober 1993 bis September 1994 7.608 willkürliche Verhaftungen. In der Mehrheit der Fälle geschahen sie während Hausdurchsuchungen oder breit angelegten Sicherheitsoperationen. Die Organisation registrierte 148 Anschläge und 47 außergerichtliche Hinrichtungen. Sie erhielt 39 Klagen wegen Folter und drei wegen des Veschwindenlassens von Personen. „Seit der Aufhebung der Grundrechte haben sich die unterdrückerische Politik und die Sicherheitspläne in einer stärkeren Verletzung der Grundrechte ausgedrückt“, urteilt die Menschenrechtsorganisation. Die Parlamentskommission für Menschenrechte und Verfassungsgarantien erhielt 1994 mehr als 500 Eingaben gegen Mitglieder der Hauptstadtpolizei, der Nationalgarde, der Gerichtspolizei sowie der politischen Polizei aus den Provinzen und Kommunen. Die Vergehen reichen von willkürlichen Verhaftungen bis hin zu außergerichtlichen Hinrichtungen. Den Sicherheitskräften wird unter anderem Folter, Machtmißbrauch, Bestechung und unterschiedlichste Formen von Einschüchterung und Erniedrigung vorgeworfen. Eines wird deutlich: Der venezolanische Staat zeigt beim Kampf um die Einhaltung der Menschenrechte bemerkenswert wenig Engagement.

Chile: Menschenrechte sind für die Regierung kein Thema

Die Menschenrechte in Chile waren der delikateste Punkt bei dem Übergang vom Pinochet-Regime zu einer eingeschränkten Demokratie. Als die erste zivile Konzertationsregierung im März 1990 nach 17 Jahren Militärdiktatur die Macht übernahm, glaubten die Chilen*innen, nun würden endlich die Verbrechen der Diktatur aufgedeckt und die Schuldigen würden bestraft. Doch die ersehnte Gerechtigkeit kam nicht und wird wahrscheinlich nie kommen. Die beiden von der Christdemokratie angeführten Regierungen – von Patricio Aylwin (1990-1994) und derzeit von Eduardo Frei – haben sich gehütet, die Militärs zur Rechenschaft zu ziehen. Diese bleiben eine reale Macht – durch illegale Drohungen und durch institutionelle Verankerungen, die Diktator General Augusto noch durchsetzte, bevor er den Präsidentenstuhl räumen mußte. Unter anderem wurde dadurch auch das neoliberale Wirtschaftsmodell gestützt, das das Militärregime nach dem Putsch 1973 mit großer mitlitärischer Brutalität eingeführt hatte. Jetzt ist es in die Kategorie eines Dogmas erhoben. Im Bereich der Menschenrechte bestand die Konzertationsstrategie darin, das Thema von der nationalen Ebene in den privaten Bereich der direkt betroffenen Familien zu verlagern. Es wurde zur Privatangelegenheit der Opfer, Gerechtigkeit vor den Gerichten einzuklagen, die christdemokratischen Regierungen wollten von den staatlichen Verbrechen der Vergangenheit nichts wissen. Die Gerichte allerdings haben ihre Ergebenheit gegenüber dem Militärregime ausreichend unter Beweis gestellt. In mehr als tausend Prozessen mußten sich Gerichte mit Menschenrechtsverletzungen befassen, nicht einmal ein Dutzend der Beschuldigten wurde verurteilt. Die verurteilten Straftäter befinden sich ausschließlich in Polizei- oder Militärgefängnissen – bis auf einen Delinquenten, der bislang seltsamterweise immer noch in Freiheit lebt. Die Unterdrücker und Folterer bleiben in Freiheit. Mehr noch, General Pinochet, die Gallionsfigur der Diktatur, ist nach wie vor Kommandant der Streitkräfte. Sola Sierra, Präsidentin der Vereinigung von Familienangehörigen der Verhafteten/Verschwundenen (AFDD) stellt den demokratischen Nachfolgeregierungen ein vernichtendes Zeugnis aus. Selbst in den wenigen Fällen, in denen die Verantwortlichen bestraft wurden, hätten die zivilen Machthaber nichts zum Erfolg beigetragen. Allein dem Einsatz mutiger Richter und engagierter Menschenrechtsaktivist*innen sei es zu verdanken, daß nicht alle Verbrecher in Uniform noch heute unbehelligt leben können. Allerdings hat in fast allen Fällen, in denen Richter*innen eine gründliche Untersuchung einleiteten und gegen Polizisten und Soldaten und Geheimdienstagenten ermittelte, schritt die Militärjustiz ein. Sie schloß die Fälle unter Hinweis auf das Amnestiegesetzes von 1978 ab. Die Regierung zuckt lediglich die Schultern und guckt beiseite – sie scheint an einer Aufhellung der Vergangenheit wenig Interesse zu haben. Der große Hit der Aylwin-Regierung war die Ernennung einer Kommission, die die Menschenrechtsverletzungen mit Todesfolge unter dem Militärregime untersuchen sollte. Über die willkürlichen Verhaftungen, die Folter, die Vertreibung ins Exil und andere Mißbräuche kein Wort. Nicht einmal die Schuldigen wurden genannt. Der sogenannte Rettig-Bericht verharrte bei ohnehin schon bekannten Halbwahrheiten, die nun noch mit amtlichem Stempel versehen wurden. Sola Sierra von der AFDD fragt sich: „Was machte die Regierung Aylwin konkret? Nichts. Es gab weder Bestrafte, noch eine Politik, die Verschwundenen ausfindig zu machen.“ In der Tat, bisher konnten nur die Überreste von 152 der fast 1.200 Verschwundenen gefunden und identifiziert werden.

Die Militärs verhindern jegliche Versuche, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen

Jedesmal, wenn die Absicht besteht, Pinochet zur Rechenschaft zu ziehen, reagiert die Armee und bringt die zivilen Machthaber wieder auf ihren Kurs. Die Regierung von Aylwin wurde durch Machtdemonstrantionen der sogenannten „Koordinierungs-Manöver“ und der „Boinazos“ (Kappen) gezähmt. Nach dem „Boinazo“ von 1993 begannen die ersten Verhandlungen, die den Militärs ein Sondergefängnis zusicherten – für den Fall, es müsse tatsächlich jemand von ihnen in Haft. Dieses Gefängnis wird in diesem Jahr (1995) gebaut. Monate später versuchte Präsident Aylwin, ein Schlußpunkt-Gesetz zu verabschieden, das auch unter dem Namen Aylwin-Gesetz bekannt wurde. Das Vorhaben scheiterte jedoch an dem Widerstand der Bevölkerung und an Konflikten innerhalb der Regierungskoalition. Nach Sola Sierra ist die Menschenrechtspolitik des neuen Präsidenten Eduardo Frei bisher nicht der Rede wert gewesen. „Heute ist besonders erkennbar, daß die Regierung ein Versprechen gemeinsamer Arbeit mit der Rechten hat, damit man bei der Wahrheit und der Gerechtigkeit nicht vorwärtskommt“, klagt sie an. Für Frei sind die Menschenrechte ein Randthema, das andere „wichtigere“ Dinge nicht stören darf. Beispielsweise den Beitritt Chiles zum Nordamerikanischen Freihandelsvertrag (NAFTA). Die Art dieses Übergangs zu einer Demokratie, die der Militärmacht untertan ist, hat der Bevölkerung weder die Möglichkeit gegeben, sich auszudrücken noch einzugreifen. Die Kultur der Solidarität löste sich in Luft auf. Jeder kümmert sich um seine eigenen Probleme. Von den Menschenrechtsorganisationenm, die sich noch unter der Militärdiktatur gründeten, bestehen nur einige – sehr geschwächte – Gruppen von Familienangehörigen und zwei Rechtsberatungen weiter. Die katholische Kirche folgt diesem Trend auf ihre Weise, indem sie das Solidaritätsvikariat schloß. Diese Einrichtung bot den Opfern der Unterdrückung Hilfe und Schutz. Die konservative Kirche der 90er Jahre unterstreicht die Notwendigkeit zur „Versöhnung“. Sie hält bereits die Bedingungen dafür gegeben, damit andere Organismen, jetzt vom Staat, sich um die Menschenrechte sorgen. Das ist nicht gerade der Fall gewesen. Für Sola Sierra ist diese Gleichgültigkeit oder Resignation jedoch nur scheinbar: „Heute liegt die Priorität nicht beim Kampf um das Leben. Es gibt mehr vorrangige Themen wie die Katastrophe des Gesundheitswesens, die Bildung, die Armut.“

HAITI

Nordamerikanischer Menschenrechtsgruppen kritisieren US-Politik

(Port-au-Prince, 4. April 1995, hib-POONAL).- Zwei Menschenrechtsgruppen aus den USA haben die schleppende Umsetzung der Reformen im haitianischen Polizeiapparat und Justizwesen heftig kritisiert und auf eine anhaltende Destabilisierung der Lage hingewiesen. „Sicherheit gefährdet – recycelte haitianische Soldaten in vorderster Polizeilinie“ titelte Human Rights Watch/Americas zusammen mit der National Coalition for Haitian Refugees (NCHR). Die NCHR überschrieb einen zweiten Bericht „Keine besondere Priorität – die Rechtsreform auf Haiti“. Die Beschreibungen zeichnen ein düsteres Bild für die Zukunft des Landes. Die Kritik bekommt noch eine besondere Bedeutung dadurch, daß sie von zwei US-Menschenrechtsorganisationen stammt, die nicht kaum verdächtigt werden können, dem US-Imperialismus feindlich gesinnt zu sein. Das ist schon daran zu bemerken, daß die Tatsache, daß Haiti sich unter einer Militärbesatzung befindet und seine Regierung unter internationaler Vormundschaft steht, whlweislich verschwiegen wird. Im ersten Bericht, der vom 29. März stammt, bemerken die beiden Organisationen, Haiti befinde sich nicht in „sicherem und stabilen Zustand“, wie es die UNO gefordert habe. Sie schreiben dies im wesentlichen der IPSF zu, die aus etwa 3.000 „früheren Mitgliedern desselben Militärs (gebildet) ist, dessen brutales Vorgehen die internationale Anstrengung für die Wiederherstellung der Demokratie zunichte machte“. Die Bevölkerung traue diesen Kräften nicht, so Human Rights Watch und NCHR. Als Folge daraus würden die öffentliche Sicherheitstruppe kaum patrouillieren. Einige Mitglieder seien dabei überrascht worden, wie sie dieselbe Art von Brutalität und Erpressung an den Tag legten wie während ihrer Zeit in der Haitianischen Armee.

Entwaffnung der paramilitärischen Banden gescheitert

Weder die USA noch die haitianische Regierung hätten die zu den IPSF zugelassenen Soldaten angemessen überprüft, meinen die Menschenrechtsorganisationen. Die Einheiten werden bis mindestens November 1996 für die „Sicherheit“ zuständig sein. Von 7.000 Anwärtern wollte die haitianische Regierung 900 von Anfang an ausschließen. Die USA akzeptierten dies nicht und reduzierten die Liste auf 300 Personen. Im Bericht wird auch das Scheitern der USA kritisiert, die Armee und die Paramilitärs zu entwaffnen sowie die Kandidat*innen für die neue Polizei auszuwählen, deren Ausbildung zudem sehr langsam voranschreite. Zum überwältigenden US-Einfluß auf die Sicherheitskräfte wird bemerkt: Die USA versuchten, „von der Armee zu bewahren, was eben zu bewahren war. Die Armee, zu der sie seit langer Zeit Kontakte pflegten und auf die sie seit jeher großen Einfluß hatten, sollte die Politik von Präsident Aristide in ihrem Sinn kontrollieren.“ Der zweite Bericht hebt die Art hervor, wie das Justizsystem lange Zeit von den Reichen und dem Militär als eine „Waffe für Unterdrückung und Schrecken“ benutzt wurde. Es ist aber keine Kritik an der US-Dominanz bei den Reformen zu finden, die bereits angefangen haben. Die NCHR-Empfehlungen gehen nicht über klassische Ausbildungsprogramme, Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung, ein moderneres Gesetzbuch und ähnliche Änderungen hinaus – in einem Wort: technische Verbesserungen, die dem System sicher erlauben, besser zu funktionieren, die aber nicht auf die demokratischen Forderungen der Bevölkerung nach einem grundlegenden und tiefen Wechsel des Systems selber antworten.

Steht eine Regierungsumbildung bevor?

(Port-au-Prince, 6. April 1995, hib-POONAL).- Angesichts wachsender Proteste und Klagen gegen Premierminister Smarck Michel und sein Kabinett mehren sich die Gerüchte über eine Regierungsumbildung. Michel reagierte auf Straßendemonstrationen gegen die hohen Lebenshaltungskosten und für seinen Rücktritt gereizt: „Eine Regierung besteht aus einem Präsidenten, der den Premierminister auswählt und einem Parlament, das ihn bestätigt. Diese 200 oder 300 Leute, die meinen Rücktritt fordern… Ich weiß nicht, ob sie verstehen, was sie verlangen, denn wenn der Premierminister zurücktritt, tritt das ganze Kabinett zurück.“

Ende März hatten etwa 1.000 Menschen in Port-au-Prince demonstriert. Ihr Marsch begann vor der St. Jean Bosco-Kirche, der ehemaligen Gemeinde von Jean-Bertrand Aristide. Auf einem großen Transparent war zu lesen: „Smarck Michel + Moiere (Gesundheitsminister) + Lafortune (Handelsminister) + Madame Rey (Finanzministerin) = Verschwörung gegen Aristide“. Die Demonstration war unter anderem von der GIIKAP organisiert, die aus mehreren Gruppen besteht und an den kommenden Wahlen als Partei teilnehmen wird. Die Nachrichtenagentur IPS schrieb am 4. April, Aristide würde die Maßnahmen der Regierung mißbilligen und habe als Zeichen des Protestes seit einem Monat nicht mehr den Sitzungen des Ministerrates vorgesessen.

Der Präsident selber erwähnte Journalist*innen gegenüber die Kritik als „Geräusch im Getriebe. Wir werden aber auf alle Geräusche hören.“ Außerdem betonte er, weiterhin eng mit Michel zusammenzuarbeiten. Die Kritik und die Proteste zeigen, daß die Haitianer*innen mehr und mehr verärgert über die blumigen Versprechen der Regierung sind, die von der Unfähigkeit begleitet sind, irgendwelche konkreten Maßnahmen zu ergreifen, die den steigenden Preisen, der zusammenbrechenden Infrastruktur, der Unsicherheit und der Arbeitslosigkeit Einhalt gebieten. Dennoch nimmt die Kritik konsequent Aristide aus, obgleich er ebenfalls für die Regierungspolitik verantwortlich ist.

PERU

Wähler*innen votieren für „Kontinuität“

Von Lucien Chauvin

(Lima, 13. April 1995, noticias aliadas-POONAL).- Der amtierende Regierungschef Alberto Fujimori hat bei den peruanischen Präsidentschaftswahlen am 9. April mehr als 60 Prozent der gültigen abgegebenen Stimmen bekommen und wird eine weitere Amtsperiode den Andenstaat regieren. Fujimoris Wiederwahl stürzt die traditionellen Parteien regelrecht in die Bedeutungslosigkeit. Fujimori bekam dreimal soviele Stimmen wie sein härtester Rivale, der ehemalige UNO-Generalsekretär Javier Pérez de Cuellar. Er ist der erste Präsident in der Geschichte Perus, der zwei aufeinanderfolgende freie Wahlen gewinnen konnte.

Den Ausschlag für den Wahlsieg gab, daß Fujimori die Hyperinflation beseitigt hat und den Terrorismus der maoistischen Guerillaorganisation Sendero Luminoso eingedämmt hat. Er erreichte die wirtschaftliche und politische Stabilität des Landes, allerdings auf Kosten einer wachsenden Armut und der Aufhebung vieler Verfassungsrechte in einem Großteil des Landes. Die Bevölkerung, die der alltäglichen Gewalt und Instabilität müde ist, verzieh dem Staatschef offensichtlich seinen diktatorischen Regierungsstil. Das Wahlergebnis, das viele Beobachter*innen überrascht hat – viele hatten eine Stichwahl im Juni erwartet, drückt die starke Unterstützung aus, die Fujimori in den vergangenen Monaten in den ärmsten Zonen des Landes gewonnen hat.

„Ich habe für Fujimori gestimmt, weil er die Ordnung im Land wiederherstellte. Niemand der anderen Kandidaten wußte wirklich, was das für uns bedeutete, als es Terrorimsus gab oder das Geld nicht reichte, um Brot zu kaufen, weil die Preise stiegen und stiegen“, sagt Jesús López, Bewohner von Villa El Salvador, einem der größten Amenviertel der Hauptstadt Lima. Viele andere arme Peruaner*innen äußern sich ähnlich, obwohl sie besonders stark von der neoliberalen Wirtschaftspolitik Fujimoris seit 1990 betroffen sind. „Wir müssen den Weg weitergehen, den der Präsident für das Land eröffnet hat. Es gibt Probleme, aber wir sehen keinen Grund für die Opposition zu stimmen. Sie wiederholen immer dasselbe“, gibt eine Frau aus dem Armenviertel Villa María del Triunfo eine weitverbreitete Meinung wieder.

Fujimori hatte während des Wahlkampfes immer wieder versichert, daß sich seine rigide Wirtschaftspolitik langsam auch für die ärmeren Schichten auszahlen werde. Nun, da die Inflation unter Kontrolle sei und die Auslandsinvestitionen wieder ins Land flössen, gebe es künftig mehr Möglichkeiten, die trostlose Lage der Mehrheit der Bevölkerung zu bekämpfen. Mehr als die Hälfte der Peruaner*innen leben in Armut, 70 Prozent der Erwerbstätigen sind arbeitslos oder unterbeschäftigt. Doch die Hoffnung in Fujimori scheint ungebrochen: „Der Chinese (Spitzname des Präsidenten, d. Red.) hat mehr für uns getan als irgendein anderer Präsident. Ich habe jahrelang für die Vereinigte Linke gestimmt, aber sie versprechen immer nur Dinge, die sie nicht erfüllen“, meint Jesús López. Fujimori begann seine politische Karriere in Peru vor kaum fünf Jahren, völlig überraschend gewann er im Juni 1990 als weitgehend unbekannter Außenseiter die Präsidentschaftswahlen. Er leitete eine streng neoliberale Wirtschaftspolitik, die unter dem Begriff Fuji-Schock bekannt wurde. Er strich die Staatsausgaben zusammen, veräußerte die Staatsbetriebe und gab die Preise frei. Innenpolitisch sicherte er sich die Macht mit dem sogenannten Autogolpe, einer Art Staatsstreich von oben, mit dem er das Parlament ausschaltete. Und vor allem ging er mit massiver militärischer Macht gegen die maoistische Guerilla Sendere Luminoso vor.

Seine Popularität im Land wuchs ab April 1992, als er den Kongreß auflöste und das Justizwesen neu organisierte. Der sogenannte „Autogolpe“ hatte die Unterstützung von mehr als 80 Prozent der Bevölkerung, das politische Establishment hatte jeglichen Kredit bei den Wähler*innen verloren. Das wichtigste Ereignis war jedoch die Verhaftung des Sendero-Führers Abimael Guzman fünf Monate nach dem Autogolpe. Mit dem gefangenen Guzman, der zudem seine Anhängerschaft zu einem „Friedensabkommen“ und zur Waffenniederlegung aufrief, befand sich Fujimori auf dem Weg, sein Wahlversprechen zu erfüllen, die Aufständischen bis 1995 zu besiegen. Die Verhaftung Guzmans brachte zusammen mit einer Wirtschaftspolitik, die ganz im Sinne von IWF und Weltbank war, Peru auf internationaler Ebene verlorenes Vertrauen zurück. Und langsam zeigen sich auch Erfolge der harten Roßkur: 1994 wuchs das Bruttosozialprodukt um mehr als 11 Prozent, die Inflation sackte auf ebenfalls 11 Prozent und war eine der niedrigsten in der Region.

Fujimori wird nun auch die absolute Mehrheit im neuen Ein- Kammerparlament haben, wo seine Koalition „Cambio 90-Nueva Mayoría“ einen starken Rückhalt hat. Rolanda Miranda, ein weiterer Bewohner aus Villa El Salvador meint: „Javier Pérez de Cuéllar hätte gewinnen können, wenn er nicht die Heuchler aus der Vergangenheit auf seiner Liste gehabt hätte. Die hatten mehr als zehn Jahre Zeit, die Probleme des Landes zu lösen.“

BRASILIEN

Schonfrist der Regierung ist abgelaufen

Interview mit Joao Machado von der Führung der oppositionellen ArbeiterInnenpartei (PT)

(Quito, 12. April 1995, alai-POONAL).- Die Flitterwochen der Regierung Cardoso gingen schneller als erwartet zu Ende. Es wird schon von Spaltungserscheinungen gesprochen. Gibt es unterschiedliche politische Strömungen in der Regierung?

Machado: Nein, das ist es nicht. Es gibt schwierige Fragen für die Regierung. Wenn sie es als vorrangig ansieht, wieder einen Handesbilanzüberschuß zu erzielen, dann muß sie den Real (die brasilianische Währung; die Red.) abwerten. Das hat sie bisher nur sehr begrenzt gemacht, denn die Konsequenz wäre sonst eine erhöhte Inflation. Auf der anderen Seite führt die Logik der Politik, die stark auf der Überbewertung der Währung beruht, zu einem höheren Handelsbilanzdefizit. Die künstliche Stützung des Wechselkurses birgt jedoch das Risiko, in einigen Monaten eine so kritische Lage wie in Mexiko zu haben.

Es gibt also schwierige Optionen. Das Wirtschaftsteam von Cardoso entstammt ausschließlich der Schule, die den Namen „Konsens von Washington“ bekommen hat. Dabei handelt es sich um die neue neoliberale Konzeption für Lateinamerika, wie sie von multilateralen Organisationen wie dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank vorgeschlagen wird. Es gibt keine unterschiedlichen Ansichten, sondern unterschiedliche Empfindlichkeiten. Ein Teil beschäftigt sich mehr mit den Problemen der Exporteure, sie bekommen von dieser Seite mehr Druck. Andere sorgen sich mehr um die Inflation.

Frage: Du hast an anderer Stelle davon gesprochen, dies könnte einen größeren Spielraum für die Opposition eröffnen? Wen zählst Du zur Opposition?

Machado: Die Parteien und jene gesellschaftlichen Gruppen, die eine mutige Position einnehmen, die dem Regierungsprojekt widersprechen. Vor allem die, die die (Präsidentschafts-) Kandidatur von Lula unterstützt haben. Das sind Parteien wie die PT, wie die Sozialistische Partei, die sozialistische Partei der Arbeiter*innen und der größte Teil der Gewerkschafts- und Volksbewegung. Vor allem aus diesen Elementen besteht die Opposition. Derzeit gibt es eine Tendenz, sie zu vereinen. Bei den vergangenen Wahlen waren sie gespalten.

Nach den Wahlen im vegangenen Jahr hatten wir das Gefühl, sehr isoliert zu sein. Aber das ist in Wirklichkeit nicht so. Die Meinungsumfragen zeigen, daß die Mehrheit der Bevölkerung bereits das Vertrauen in die Regierung verloren hat. Das Mißtrauen ist durch zwei Enwicklungen gewachsen: Erstens durch die Mexiko-Krise. Die Mehrheit der Bevölkerung weiß nicht genau, was da in Mexiko passiert ist, aber sie fühlt, da ist was faul. Der andere Faktor sind eine Reihen von Handlungen von Fernando Cardoso. Während die Regierung beispielsweise akzeptierte, daß Abgeordnete und Senator*innen sich ihre Gehälter beträchtlich erhöhten, verweigerte sie eine Erhöhung des Mindestlohnes.

Frage: Was ist los mit der PT? Nach den Wahlen hat sie sich für viele überraschend sehr zurückgezogen und in Schweigen gehüllt.

Machado: Zum einen war die PT nicht auf die Niederlage vorbereitet. Obwohl man ungefähr ab August fühlte, daß die Stimmung kippte, hatte sich die Partei in der Tat nur auf einen Sieg vorbereitet. Die Mehrheit der Leute hatten einen übertriebenen Optimismus, sie konnten oder wollten sich eine Niederlage nicht vorstellen. Die Niederlage hat daher tiefe Enttäuschung hervorgerufen und außerdem die internen Differenzen vertieft. Ein Teil der Partei ist zwar nicht allgemein mit der Regierung einverstanden, akzeptiert aber einige der Reformvorschläge. In der Partei ist eine Debatte ausgebrochen, wie die Oppositionsrolle am besten ausgefüllt werden kann. Jetzt beginnt sich eine deutliche Mehrheit zugunsten einer sehr harten Opposition herauszukristallisieren.

Zum anderen macht die Partei große Anstrengungen, den Widerstand gegen die Projekte der Regierung zu verbreitern. Lula hat sich mit Brizola (ppulistischer Oppositionspolitiker; die Red.) getroffen und wird dies mit anderen Parteiführer*innen tun. Die Partei entwickelt wieder stärkere Aktivitäten. Aber es stimmt: einige Monate gab es heftige Diskussionen über den künftigen Kurs. Mehr als zu anderen Zeiten ist die wirtschaftliche Situation heute die Schlüsselfrage für die Haltung gegenüber der Regierung und für die Mobilisierung der Basis. Wir erleben verschärfte Wirtschaftskrisen in Lateinamerika, die diesem Thema eine ganz besondere Bedeutung geben.

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