Poonal Nr. 179

Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 179 vom 07.02.1995

Inhalt


MEXIKO

BRASILIEN

UNICEF: Es fehlt nicht das Geld sondern der politische Wille

GUATEMALA

GUATEMALA/MEXIKO

HAITI

KUBA

HONDURAS

PERU

BOLIVIEN

KOLUMBIEN


MEXIKO

Der Milliardenkredit – eine Zeitbombe

(Mexiko-Stadt, 1. Februar 1995, POONAL).- Bill Clinton machte es möglich: Der Weltuntergangsstimmung an der mexikanischen Börse folgte der Jubel. Nachdem die Aktien seit Jahresanfang etwa 20 Prozent verloren hatten, schnellten die Kurse an einem einzigen Tag um durchschnittlich gut 10 Prozent nach oben. Der mexikanische Peso, noch einen Tag vorher zum wiederholten Male kräftig gegenüber dem Dollar gefallen, stabilisierte sich und gewann an Wert. Wenige Stunden zuvor hatte US-Präsident Bill Clinton dem fast bankrotten Mexiko einen 20-Milliarden-Dollarkredit versprochen, die höchste Summe, die die US-Regierung ohne Zustimmung des Kongresses genehmigen kann. Dieser hatte in den vergangenen Tagen Kreditgarantien von über 40 Milliarden Dollar abgelehnt. Zur selben Zeit wie Clintons Zusicherung wurde eine 17,7 Milliarden-Zusage des Internationalen Währungsfonds (IWF) an Mexiko bekannt. Nie zuvor vergab der IWF auf einmal eine so hohe Summe an ein einziges Land. Dazu kommen 10 Milliarden Dollar von der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich und 3 Milliarden von Geschäftsbanken. So hat Mexiko von einem auf den anderen Tag mehr als 50 Milliarden Dollar abrufbereit zur Verfügung.

Die Zukunft der NAFTA stand bei Kreditzusage Clintons im Vordergrund

Präsident Ernesto Zedillo bedankte sich denn auch artig in einer Rede an die Nation bei seinem Kollegen Clinton für dessen „solidarische, verständnisvolle, und verantwortliche Haltung“ und drückte ihm seine „Anerkennung“ aus. Jetzt verspricht Zedillo, das Geld werde für die Umwandlung kurzfristiger in langfristige Schulden verwandt. Die Gesamtschulden gegenüber dem Ausland würden sich nicht erhöhen. Die nationale Souveränität stehe durch etwaige Kreditbedingungen auf keinen Fall auf dem Spiel. Das wird sich erst noch zeigen müssen. Fest steht, daß Clinton nicht uneigennützig handelte. Noch am 30. Januar hatte es Gerüchte gegeben, die Devisenreserven Mexikos seien auf zwei Milliarden Dollar gesunken. In diesem Falle hätte das Land seine absolute Zahlungsunfähigkeit gegenüber dem Ausland eingestehen müssen. Das konnte auch nicht im Interesse der US-Regierung sein, die mit Mühe und Not den nordamerikanischen Freihandelsvertrag NAFTA mit Kanada und Mexiko im eigenen Land durchgesetzt hatte. Auch die Großzügigkeit des IWF ist nicht von Edelmut gekennzeichnet. Ein Finanzkollaps des ehemaligen Musterschülers hätte der internationalen Finanzorganisation schlecht zu Gesicht gestanden.

Wirtschaftsprofessor warnt vor den unkalkulierbaren Folgen

Die offizielle Freude fand kein ungeteiltes Echo im Land. Die gewaltige Kreditsumme, die Mexiko kurzfristig vor dem Zusammenbruch retten mag, ist mittelfristig eine Zeitbombe. Dies machte in einem Fernsehinterview der Wirtschaftsprofessor Dr. Fernando Noriega von der Nationaluniversität deutlich. Vom regierungsnahen Kanal 13 wohl eingeladen, um in den Milliardenjubel einzustimmen, verwies Noriega stattdessen auf die Gefahren in den kommenden Jahren. Seiner Meinung nach wird die kurzfristig wiedergewonnene Stabilität nur neue Spekulationsgelder ins Land locken, jedoch keine Investitionen in die Produktion zur Folge haben. Wie soll Mexiko jedoch Devisen erwirtschaften, wenn die eigene Produktion nicht international wettbewerbsfähig ist? Selbst bei einer Explosion der Exporte, so rechnete der Professor vor, könne das Land angesichts des schlechten Wechselkurses gegenüber dem Dollar niemals genug Geld einnehmen, um die zukünftigen Schuldenzahlungen ans Ausland zu leisten. „Eine Hypothek auf die Zukunft“ nannte Noriega die neuen Devisenschulden.

Angesichts des Schreckens, den die Forderungen des US-Kongresses bei den vorausgegangenen Diskussionen um das 40-Milliardenpaket aus den USA verursacht hatten, äußerten sich sogar Abgeordnete der Regierungspartei PRI vorsichtig über die geänderten Aussichten. Ohne Zweifel hat die reine Ankündigung der Kredite die mexikanische und die internationale Finanzwelt kurzfristig beruhigt. Doch viele glauben mit Professor Noriega: das dicke Ende für Mexiko kommt noch.

BRASILIEN

Mercosul ist ein strategischer Markt für die EU

(Rio de Janiero, 3.Februar 1995, ibase-POONAL).- Der Mercosul erscheint als neuer Wachstumspol in der Weltwirtschaft. Für die Europäische Union handelt es sich um eine strategische Schlüsselregion. In einem Dokument der Europäischen Kommission wird nun eine internationale Assoziierung der beiden Wirtschaftsblöcke vorgeschlagen, die nach und nach in eine Freihandelszone übergehen soll, zunächst für die Sektoren Industrie und Dienstleistungen, später auch für die Landwirtschaft. Dem Kommissionsbericht zufolge dienen diese Pläne den ökonomischen und politischen Interessen beider Teile. Die Mitgliedstaaten des Mercosul hätten alle Voraussetzungen, um ein gleichberechtigter Partner in der Weltpolitik zu werden, heißt es. Außerdem hätten diese marktwirtschaftlich ausgerichteten Länder ein großes Entwicklungspotenzial, enorme natürliche Ressourcen und eine wachsende Nachfrage nach Konsumgütern. Die EU ist für 33,6% der ausländischen Investitionen in Brasilien verantwortlich – und wird mit ca. 28% der Ex- und Importe wichtigster Wirtschaftspartner des Mercosul.

Präsident Cardoso stellt Reformprojekte vor

(Rio de Janiero, 3.Februar 1995, ibase-POONAL).- In einer Rede vor dem Senat ging der neue Präsident auf die von ihm angestrebten Reformen ein. Es gibt keine starke Demokratie ohne starkes Parlament, sagte Cardoso. Der dauernden Praxis von Dialog und politischer Debatte im Nationalkongreß lägen die Tugenden zugrunde, die den Übergang vom Autoritarismus zur Demokratie ermöglicht hätte, so der Präsident. Wenn auch die letzten Wahlen einen Endpunkt in dieser Geschichte darstellten, blieben dennoch politische Reformen notwendig, um eine nur formelle Demokratie, die jedes sozialen und ökonomischen Inhalts entleert ist, zu verhindern. Brasilien habe noch mit Hypotheken aus der Vergangenheit zu kämpfen. So behindern das Vermächtnis der Ära Vargas mit seinem autarken Entwicklungsmodell und seinem interventionistischen Staat den gesellschaftlichen Fortschritt.

Ab Februar will Cardoso dem Kongreß seine Reformprojekte vorlegen. Als Reformprojekte führte er das gegenwärtige Fiskalsystem, die Kompetenzverteilung zwischen Bund, Bundesstaaten und Munizipien und die wirtschaftliche Ordnung mit der Flexibilisierung der Monopole und der Öffnung für Auslandskapital an. Der Dollar soll nie wieder zum Index der Preise werden. Außerdem sollten die Steuern, die Exporte behindern abgeschafft werden. Im Sozialbereich sollen die Kriterien für die Sozialfürsorge modifiziert werden, unter Bercksichtigung einer Zeitdauer der in Anspruch genommenen Dienste und Festlegung eines Mindestalters. Bei der Altersversorgung sollen Privilegien der öffentlichen Angestellten, der Parlamentarier und der Lehrer abgeschafft werden.

Kindersterblichkeit in Brasilien schlimmer als in armen Ländern.

(Rio de Janiero, 3.Februar 1995, ibase-POONAL).- Nach dem kürzlich veröffentlichten UNICEF-Bericht liegt Brasilien bei diesem wichtigsten sozialen Indikator an 83.Stelle in der Welt. Dort sterben von 1.000 Geborenen 63 vor Vollendung des 5. Lebensjahres. In Paraguay, einem Land, das mit 1.380 US$ nur etwa das halbe Pro- Kopf-Einkommen Brasiliens aufweist (2.770.-US$) sterben nur 34 von 1.000 Kindern vor dem 5. Lebensjahr.

UNICEF: Es fehlt nicht das Geld sondern der politische Wille

Einige Basisfaktoren zeigen, daß in Brasilien noch viel zu

verbessern ist. So kommen 11% der Neugeborenen mit weniger als 2,5

Kg. Gewicht auf die Welt. Die Lebenserwartung beträgt durchschnittlich 66 Jahre, in der Schweiz sind es 78 Jahre. Positive Entwicklungen gibt es bei den Impfungen: 75% der Kinder unter einem Jahr sind gegen Diphterie, Polio und Tetanus geimpft. Weiter problematisch bleibt die Unterernährung. Nach UNICEF- Schätzungen werden in den ersten drei Monaten dieses Jahres im brasilianischen Nordosten 30.000 Kinder mangels medizinischer Hilfe an Magen-,Darm- und Atemwegsinfektionen sterben. Da diese Erkrankungen sich mit der Regenzeit ausweiten, hat die UNICEF die Bürgermeister und Gouverneure der kritischen Regionen aufgefordert Vorräte an Medikamenten, besonders an Antibiotika anzulegen. Nicht einmal in den ärmsten Munizipien der Region fehlt es an Geld und Mitarbeiter*innen, die Todesfälle zu verhindern. Es fehlt nur der politische Wille, kritisiert der UNICEF-Repräsentant in Brasilien.

GUATEMALA

Bischofskonferenz zieht Quezada Toruño zurück

(Guatemala, 31. Januar 1995, cerigua-POONAL).- Der Bischof von Zacapa, Rodolfo Quezada Toruño, wird nicht mehr direkt an den Friedensverhandlungen teilnehmen. Dies kündigte die guatemaltekische Bischofskonferenz (CEG) an. Angesichts der Sackgasse, in der sich die Verhandlungen zwischen Regierung, Armee und Guerilla befinden, wiesen es die Bischöfe zurück, in dem „politischen Spiel“ mitzuspielen. Quezada Toruño wird den Vorsitz der Versammlung der Zivilen Gesellschaftsgruppen (ASC) abgeben, deren Präsident er seit 1994 war. „Diese Form der Präsenz und der Aktion im Friedensprozeß ist beendet“, heißt es im Brief der Bischofskonferenz. Es bedeute jedoch nicht, daß die katholische Kirche an der Entwicklung nicht mehr teilnehmen werde.

Bischof Toruño spielte in den bisherigen Verhandlungen eine entscheidende Rolle. Von 1987 bis Mitte 1993 saß er der inzwischen aufgelösten Nationalen Versöhnungskommission (CNR) vor. Außerdem fungierte er von März 1990 bis November 1993 als Vermittler in den Gesprächen zwischen Regierung und Aufständischen. Kurz darauf wählte ihn die Versammlung der Zivilen Gesellschaftsgruppen (ASC) an ihre Spitze. Nicht nur nach Einschätzung der Bischofskonferenz hat er „die Arbeit der Versammlung mit bemerkenswertem Erfolg geleitet, bis ein Konsens über die substantiellen Themen erreicht und konkrete Vorschläge formuliert wurden, um sie den (Kriegs- )Parteien zu präsentieren.“

Militärgeheimdienst verantwortlich für Priestermord

(Guatemala, 31. Januar 1995, cerigua-POONAL).- Nach Informationen der Gruppe für gegenseitige Hilfe von Familienangehörigen Verhafteter und Verschwundener (GAM) wurde der belgische Priester Alfonso Stelsen vom Militär umgebracht. Die Bande Jugendlicher, die Stelsen in einem Stadtviertel der Hauptstadt ermordete, sei von ehemaligen Geheimdienstlern angeleitet worden, die heute als Soldaten in der Provinz San Marcos stationiert wären und auch mit dem Drogenhandel zu tun hätten. Bereits kurz nach dem Mord hatten die katholische Kirche sowie Menschenrechts- und Volksorganisationen die Tat als politisches Verbrechen bezeichnet. Stelsen widmete sich bei seiner Arbeit der armen Bevölkerung.

GUATEMALA/MEXIKO

ACNUR: 1995 kehren 10.000 Flüchtlinge zurück

(Mexiko, 28. Januar 1995, cerigua-POONAL).- Luis Varesse Escotto, Funktionär des Flüchtlingskomissariat der Vereinten Nationen (ACNUR) im Süden Mexikos, kündigte die Rückkehr von etwa 10.000 Flüchtlingen nach Guatemala noch in diesem Jahr an. Beim ACNUR sei eine entsprechende Anzahl von Anträgen eingegangen. Die Zahl der Rückkehrer*innen 1994 gab er mit ungefähr 7.000 an. Immer noch befinden sich 37.000 der offiziell anerkannten guatemaltekischen Flüchtlinge in den mexikanischen Bundesstaaten Chiapas, Campeche und Quintana Roo. Für die Rückkehrunterstützung hat die UNO drei Millionen Dollar zur Verfügung gestellt.

HAITI

USA wollen Militäraktion an die UNO übergeben

(Port-au-Prince, 28. Januar 1995, hib-POONAL).- Während die Berichte über Gewalt und Waffenpräsenz auf dem Land und in der Hauptstadtumgebung weiter durchsickern, wollen die USA ihre Grünhelme gegen die Blauhelme der Vereinten Nationen eintauschen. US-Funktionäre versicherten unterdessen der UNO und der Botschaft, die Situation im Land sei „sicher und stabil“. Wenn China oder Rußland nicht doch Erfolg mit ihren Manövern haben, das Votum des UNO-Sicherheitsrates zu verzögern, wird die US-Armee am 31. März das Kommando an die UNO übergeben. Doch mehr als 3.000 US-Soldaten bleiben auf der Insel. Trotz der Reserviertheit von Frankreich wird die 6.000 Mann starke „Friedenstruppe“ von einem US-Offizier angeführt werden.

Präsident Aristie hofiert die US Besatzer

Präsident Jean-Bertrand Aristide, der auf politische Probleme mit den Besatzern hingewiesen hat, schockierte die Leute kürzlich, indem er die US-Truppen fast anbettelte, zu bleiben. Er scheint überzeugt zu sein, daß dieselben Soldaten, die sich weigern, die Banden zu entwaffnen, für mehr Sicherheit sorgen könnten als die „Friedenstruppen“. Hat er bereits vergessen, wer die haitianische Armee und die paramilitärischen Kräfte organisierte? In Jeremie fragte der Präsident eine Menschenmenge auf Creole: „Hat ihre Anwesenheit Licht (ins Dunkel) gebracht?… Seid Ihr froh, daß sie hier sind?“ Auf Englisch fuhr Aristide dann an die US-Militärs gewandt fort: „Noch einmal: wir sind froh, daß die amerikanischen Truppen hier sind.“

Aber zumindest in einigen Regionen ist das Bild der US-Armee befleckt. Auf dem Land werden die Soldaten – oft Mitglieder der „Spezialeinheiten“ – Seite an Seite mit den örtlichen „Autoritäten“ und der englischsprachigen Elite angetroffen. Sie drangsalieren und verhaften einfache Bürger*innen. Die Bevölkerung beobachtet dieselbe unterdrückerische Struktur der Macht – Landbesitzer*innen, Gewalttäter und korrupte Politiker*innen, die ihre Posten behalten.

UNO Generalsekretär Butros Ghali zögert noch In der Hauptstadt und in einigen anderen Städten steigt die Anzahl der Raubüberfälle. Die US-Funktionäre streiten ab, daß solche Vorkommnisse und andere wie die Gewalt im Artebonite-Tal etwas mit der fehlenden Entwaffnung zu tun haben. Der UNO-Generalsekretär scheint jedoch anderer Meinung zu sein. In seinem Bericht für die UNO schreibt Butros Butros Ghali am 17. Januar: „Während politisch motivierte Gewalt und Menschenrechtsverletzungen“ abgenommen hätten, „gibt es Informationen über gewalttätige Attacken früherer Bereichschefs, Attachés oder FRAPH-Mitglieder… Morde werden nahezu täglich berichtet.“ Banden früherer Attachés oder Mitglieder der Front für den Haitianischen Fortschritt (FRAPH) würden versuchen, „die einheimischen Volksorganisationen einzuschüchtern“. Die Gewalt gehe von Gruppen aus, die mit hochkalibrigen Schußwaffen ausgerüstet seien – einschließlich automatischer Waffen. „Das weist auf wahrscheinliche Verbindungen zu früheren paramilitärischen Netzen hin“, so Ghali. „Die relative Sicherheit, die die Haitianer*innen zur Zeit genießen, ist sehr brüchig.“

Der Bericht zeigt das UNO-Zögern und die Nervosität, wenn von sozialen „Spannungen“, der „Frustration“ der Leute über fehlende Gerechtigkeit und ihren Erwartungen an die „Fortführung des Entwaffnungsprogrammes“ die Rede ist. Zweifellos sind die Probleme, die die Blauhelme von den US-Truppen in Somalia erbten, noch frisch in Erinnerung. Aber wie in der Vergangenheit ist von der UNO zu erwarten, daß sie sich dem Druck und den folgenden Diktaten der USA beugt. Die „Forderung“ aus dem vergangenen Herbst nach Entwaffnung wird jetzt als „Hoffnung“ ausgedrückt. Während die USA nach dem 31. März die Kontrolle behalten werden, wird die UNO zum potentiellen Prügelknaben.

Landkonflikte fordern weitere Tote

(Gonaives, 11. Januar 1995, hib-POONAL).- Seit Mitte Oktober sind mehr als ein Dutzend Bäuer*innen im Artibonite-Tal bei Landkonflikten getötet worden. In der Region gibt es schon seit Jahren heftige Kämpfe um Land. Landlose Landarbeiter*innen und kleine Pächter*innen haben schon zu Zeiten des Diktators Duvalier und unter der Putschregierung illegal Grundstücke besetzt. Ein anderer Grund für die Eskalation ist die Ausbeutung der kleinen Pächter*innen. Auch nach dem Rückzug der Putschisten und der Rückkehr von Präsident Aristide sind Konflikte wie im Artebonite- Tal typisch. Die anti-demokratischen Kräfte versuchen, ihre Privilegien mit Gewalt zu behalten. Die Regierung hat zwei Delegationen mit Premierminister Smarck Michel an der Spitze in die Region entsandt, scheint mit dem Problem jedoch derzeit überfordert. Denn die Landkonflikte werden solange weiterschwelen, bis die Regierung die Profiteure des Putsches von vor drei Jahren verfolgt und die Besitzverhältnisse überprüft.

Anfang Januar wurden in der Ortschaft Desdunes vier Menschen getötet. Sieben Häuser wurden niedergebrannt. Mindestens neun Tote und sieben Verletzte gab es bisher bei Auseinandersetzungen zwischen den Weilern Blain und Brizard. Neun Bauern aus Blain wurden während der Arbeit auf ihren Reisfeldern umgebracht. Einige wurden enthauptet, andere erschossen. Die Leute aus Brizard haben einige frühere Soldaten als Verbündete. Einwohner*innen aus Blain töteten in einem Racheakt zwei Menschen aus Blizard. Der Landkonflikt der beiden Weiler basiert auf einer illegalen Enteignungen, für die vor allem der Putschunterstützer und Senator Eddy Dupiton verantwortlich gemacht wird.

Die katholische Menschenrechtsorganisation „Gerechtigkeit und Frieden“ schreibt in einem Bericht vom 24. Dezember: „Wenn die Leute aus Blain in der Vergangenheit vor Gericht zogen, um die Verhaftung von 'Landräubern' zu verlangen, dann wurden sie selber verhaftet. Denn der Anwalt der Brizard-Leute, Mr. Eddy Dupiton, war zugleich der örtliche Staatsanwalt.“ Andere Bewohner*innen der Region bestätigen die Situation. Ives Dor, ein örtlicher Staatsbediensteter, erzählte der Zeitschrift „Libete“, daß „Dupitons Unterstützung sie stark fühlen läßt. Eddy gab das Land Roland (sein Bruder, der beim Gericht arbeitete). Roland gab es seinem Freund. Sie grenzten es ab, sie verkauften es, sie verjagten alle Pächter*innen.“

„Gerechtigkeit und Frieden“ hat wiederholt „das Schweigen und die Abwesenheit jeglicher Aktionen seitens der Regierung“ angeklagt. Die Kommission fordert eine vorübergehende Beschlagnahmung des Landes und die Reform des Landgerichtswesens. Die Aristide- Regierung versuchte in der ersten Amtsperiode das Problem mit einem Schiedsrichter zu lösen. Aber die einzige wirkliche Lösung ist eine grundlegende Landreform, die die Bevölkerung erwartete, als sie Aristide in den Präsidentenpalast hievte. Die Reform muß die komplette Landesfläche betreffen. Sie muß bestimmen, wer illegal die über 100.000 Hektar Staatsland in Besitz hat, dieses Land konfiszieren und danach eine tiefgreifende Agrarreform durchführen.

KUBA

Privatisierung keine Patentlösung

– Von Mary Simon

(Havanna, 3. Februar 1995, prensa latina-POONAL).- Die Öffnung gegenüber dem Auslandskapital bedeutet nach Wirtschaftsminister und Vizepräsident Carlos Lage keinen Privatisierungsprozeß auf Kuba. In einem Interview für Prensa Latina während des 25. Weltwirtschaftsforums in Davos betonte Lage, dies sei keine Lösung für das Land. Dagegen könne in einigen Wirtschaftsbereichen die Notwendigkeit herrschen, mit dem Auslandskapital Verbindungen einzugehen, um sich bestimmten Problemen zu stellen. Der Vizepräsident nannte als Beispiele die Zementindustrie und das Kommunikationswesen.

In beiden Fällen erwarb jeweils ein mexikanisches Unternehmen die Hälfte der Aktien einer Zementfabrik bzw. der kubanischen Telefongesellschaft. Im Kommunikationswesen geht damit eine bestimmte Einnahmegarantie und die Zusicherung von Investitionen in der Höhe mehrerer hundert Millionen Dollar in den kommenden zehn Jahren einher. Auch in der Zuckerindustrie gibt es Verhandlungen über gemischte Unternehmen. Laut Lage versucht die kubanische Regierung, diesen Prozeß mit der größtmöglichen Flexibilität anzugehen, um die für das Land günstigsten Ergebnisse zu erzielen.

Über die Arbeitslosigkeit befragt, die angesichts der Neustrukturierung des Staatsapparates entsteht, bezeichnete der Vizepräsident diese Situation nicht als Problem. Die Zahl der Beschäftigten würde allmählich reduziert. In der Regel sei das Vorgehen dabei sehr vorsichtig. Die Personaleinsparung werde als eine von verschiedenen Optionen angewandt. Durch Tourismus, Auslandsinvestitionen und die Arbeit auf eigene Rechnung (bisher 160.000 registrierte Personen) sieht Lage neue Beschäftigungsmöglichkeiten. Die „freien Arbeitskräfte werden immer geschützt bleiben“, versicherte er.

HONDURAS

Erster Schritt zur Neubildung der Polizei

(Mexiko-Stadt, 25. Januar 1995, POONAL).- Am 23. Januar nahm die Abteilung für Verbrechensuntersuchungen (DIC) offiziell ihre Arbeit in Honduras auf. Die DIC ersetzt die aufgelöste Nationale Untersuchungsabteilung (DNI), die in der Vergangenheit wegen ihrer Foltermethoden berüchtigt war und für das Verschwinden von mindestens 184 Oppositionellen der Linken verantwortlich gemacht wird. Die 450 Mitarbeiter*innen der neuen Organisation bilden einen Teil der zukünftigen Zivilen Nationalpolizei, die 1997 vollständig ihre Arbeit aufnehmen soll. Der Präsident Carlos Roberto Reina sprach beim Einweihungsakt von einer „Anstrengung, die nationalen Institutionen zu modernisieren“. Die Abteilung für Verbrechensuntersuchungen untersteht der ebenfalls neu geschaffenen Bundesstaatsanwaltschaft und wird von dem Psychologen Wilfredo Alvarado Madrid geleitet. Dieser spielte in seiner Rede deutlich auf die Vergangenheit an, in der die Vorgängerorganisation nichts anderes als ein Geheimdienst unter Militärkontrolle war. Madrid versicherte, die DIC werde niemals die Folter als Untersuchungsmittel anwenden, sondern die Menschenrechte respektieren. Armeechef General Luis Discua, einer der Adressaten dieser Anspielung, bezeichnete die Unterordnung der Polizei unter die zivile Gewalt als „Initiative“ der Militärs. „Wir haben keinen Krieg für eine Veränderung gebraucht. Hier machen wir Veränderungen allmählich, organisiert und friedlich“, sagte der General. Im Vergleich zur heftigen Kritik der Militärführung an den Reformen der Regierung Roberto Reinas in den letzten Monaten waren dies sehr gemäßigte Worte.

PERU

50 Prozent der Kinder leiden an chronischer Unterernährung

– Von Zoraida Portillo

(Lima, 9. Januar 1995, sem-POONAL).- María Espinoza konnte ihre Freude nicht verbergen: das Haar ihrer fünften und jüngsten Tochter Esther wurde feiner und heller, je mehr die Tochter heranwuchs. Mit drei Jahre war es blond, fast weiss. Die Freude hatte ein Ende, als die Mutter Esther wegen eines starken Durchfalls zum Gesundheitsposten brachte. Dort wurde eine chronische Unterernährung bei dem Kind festgestellt. Der Arzt erklärte, die veränderte Haarfarbe sei nichts anderes als ein Symptom für die gefährdete Gesundheit des Kindes. Eine Situation, die viele Kinder in Peru betrifft. „Fehlende Pigmente sind ein sichtbares Zeichen für Hunger und Schäden im Organismus, die sich in verzögertem Wachstum und geringen intellektuellen und körperlichen Fähigkeiten zeigen“, urteilt der Kinderarzt César Bernales.

Untersuchungen des Forschungsinstitutes für Ernährung zeigen, daß ein Viertel der 23 Millionen Peruaner*innen an Blutarmut leidet. Die Hälfte davon sind Frauen im gebärfähigen Alter. In der Entbindungsanstalt von Lima, wo die meisten armen Frauen versorgt werden, haben 75 Prozent der Wöchnerinnen Blutarmut aufgrund von Ernährungsproblemen. In vielen Stadtvierteln haben die Familien – oft alleinerziehende Mütter mit mehreren Kindern – nur eine Mahlzeit am Tag. Ohne die Volksküchen von Stadtteilorganisationen und andere Hilfseinrichtungen sähe die Lage noch trauriger aus. 40 Prozent der Kinder unter 5 Jahren leiden an extremer Unterernährung, fast 50 Prozent der Kinder zwischen 6 und 9 Jahren leiden an chronischer Unternährung.

Auf dem Land ist die Situation im allegemeinen schlimmer als in den Stadtgebieten. Besonders kritisch ist es im Andenhochland. Dort sind die Kinder in den Städten bereits zu 67 Prozent unterernährt. Auf dem Land beträgt die Zahl fast 75 Prozent. Studien belegen, daß der Leidensweg der Kinder anfängt, sobald nach etwa sechs Monaten die Muttermilch nicht mehr die einzige Nahrung darstellt. Fehlendes Trinkwasser an vielen Orten sowie mangelnde hygienische Bedingungen verschlechtern die Gesundheitsbedingungen weiter. Auch der 14jährige Krieg zwischen der Guerilla des Sendero Luminoso (Leuchtender Pfad) und dem offiziellen Militär verschärfte die Lebenssituation vieler Menschen. Etwa eine Million Menschen wurden durch den Konflikt vertrieben. Für viele brachte der Wechsel des Wohnortes den radikalen Wechsel der Ernährungsgewohnheiten mit sich. Die Kinder hatten darunter am meisten zu leiden.

BOLIVIEN

Im Jahr 2000 stehen wir an der Tür zur Macht“

– Interview mit Félix Cárdenas, Präsidentschaftskandidat der

Indígena-Bewegung „Patriotische Versammlung“

(La Paz, Dezember 1994, alai-POONAL).- Seit mehreren Jahrzehnten machen sich die indigenen Völker Boliviens durch die verschiedenen kataristischen und indianischen Bewegungen in der Politik bemerkbar (Tupaj Katari hieß der Anführer eines Aymara-Aufstandes im Jahr 1781. Seit Ende der 60er Jahre entstanden sogenannte kataristische Bewegungen, die Geschichte, Kultur und andine Organisationsformen wieder aufwerten wollten. Anfangs ausschließlich kulturellen Charakters nahm die politische Bedeutung dieser Gruppierungen immer mehr zu; die Red.) Doch die Wahl des Aymara Víctor Hugo Cárdenas zum Vizepräsidenten der Republik am 6. Juni 1993 bedeutete einen Markstein in der institutionellen Geschichte des Landes. Damals betrat im Rahmen der Kampagne „500 Jahre Widerstand“ auch die Bewegung Pachacutec die politische Bühne. Für sie kandidierte – als Repräsentant der „Patriotischen Versammlung“ – Félix Cárdenas, ein Bruder von Víctor Hugo, für das Präsidentenamt. Mit ihm sprach Oswaldo León über die politischen Perspektiven der Indígena-Bewegung.

„Von heute an kann keine Regierung, ob links oder rechts, ohne Indígenas an ihrer Seite regieren“

Frage: Seit mehr als einem Jahr ist ein Aymara, Víctor Hugo Cárdenas, Vizepräsident der Republik. Welches Echo hat dies in einem Land gehabt, in dem die Mehrheit der Bevölkerung aus Indígenas besteht?

Cárdenas: Víctor Hugo steht vor der Entscheidung, ob er die Hoffnungen der Menschen, die gewählt haben, aufnimmt oder sie letztendlich enttäuscht. Wir haben so eine Erfahrung mit der Linken gehabt. Sie hatte mit der UDP ihre Gelegenheit und es war der Moment, in dem die Wirtschaftskrise am stärksten fühlbar war. Es war eine verheerende Regierung. Darum verkürzte sich die Amtszeit des damaligen Präsidenten Hernán Siles Zuazo. Viele Leute können sagen, ich war nicht dabei, zum Beispiel die Trotzkisten. Aber für die Bevölkerung war es generell die Linke, die ihre Chance hatte. Niemand wird (mehr) für sie stimmen, so gut ihr Programm auch sein mag. Das möchten wir nicht mit Víctor Hugo erleben. Das Scheitern von Víctor Hugo kann auch das Scheitern von uns allen bedeuten. Unglücklicherweise hängt unser Schicksal von dem ab, was er macht und alles, was er bis jetzt gemacht hat, ist ein Desaster… Ich weiß nicht, wie das alles ausgehen wird.

Cárdenas: Wir Indios haben uns einen Minderwertigkeitskomplex geschaffen. Für viele ist es daher eine Frage von Stolz, daß auch wir bis dahin kommen können. Es ist klar, daß von heute an keine Regierung, ob rechts oder links, ohne Indígenas an ihrer Seite regieren kann. Von heute an gibt ihnen die Indígena-Komponente die Legitimität. Es scheint so etwas wie eine Art Jagd nach den Quetschua und Aymara-Führer*innen zu geben, um eine Kandidatur im Jahr 1997 oder 2000 und darüber hinaus möglich zu machen.

Wie ist Ihre Haltung gegenüber Víctor Hugo Cárdenas?

Cárdenas: Ursprünglich war Víctor Hugo der Präsidentschaftskandidat unserer Bewegung, die die linken Parteien, die kataristischen Bewegungen und die Intellektuellen, die nicht ihre Prinzipien aufgegeben hatten, zusammenfaßte. Doch von einem Moment zum anderen entschied er sich, mit der Nationalistisch-Revolutionären Bewegung (MNR) als Vizepräsidentschaftskandidat in den Wahlkampf zu ziehen. Er optierte dafür, in einer Regierung der Unternehmer*innen zu sein, denn es ist die reine Privatwirtschaft, die jetzt an der Regierung ist. Sie hat die schwere Aufgabe, das neoliberale Modell zu festigen. Wirtschaftliche Maßnahmen wie die Privatisierung des Bodens, wie das Gesetz zur Volksbeteiligung bedeuten im Grund die Auslöschung des Indígena- und Campesino-Elements, der ursprünglichen Autoritäten.

Wir sind keine Anhänger der Gewalt sind, aber sie zwingen uns dazu, uns zu verteidigen.

Die Regierung setzte auch die von den USA geforderte „Option Null“ in Marsch, um die Kokapflanze auszurotten. Wir sprechen vom Imperialismus in unserem Land, der mit Stiefeln, Uniform und ausgeklügelter Bewaffnung präsent ist. Diejenigen von uns, die im Chapare leben, befinden sich praktisch auf einem Schlachtfeld. Die Compañneros dieser Zone haben Komitees zur Selbstverteidigung gebildet. Wir sind keine Anhänger der Gewalt sind, aber sie zwingen uns dazu, uns zu verteidigen. Auch im Rest des Landes entstehen diese Selbstverteidigungskomitees. In einigen Fällen, um die Koka zu verteidigen; in anderen Fällen für die öffentliche und kostenlose Erziehung oder für die Verteidigung des Landes.

Wie entstand in diesem Kontext die Bewegung Pachacutec?

Cárdenas: Sie war eine Antwort auf den 12. Oktober 1992, auf die Notwendigkeit, die zahlreichen und sich vervielfachenden kataristischen Bewegungen und die verschiedenen Indígena- Bewegungen zu einen. Wir wollten zumindest einen neuen Prozeß einleiten. Das heißt, die 500 Jahre abschließen und einen wirklichen Befreiungsprozeß einleiten, der von uns ausgeht. Das war das Ziel des 12. Oktober. Es wurde zu Demonstrationen in ganzen Land aufgerufen, um die Entdeckung, die Conquista zurückzuweisen. Die größte Versammlung war für La Paz vorgesehen und zur Überraschung aller kamen etwa 70.000, besonders Aymaras. Wenige Tage später befanden wir uns schon im Wahlkampf für den 6. Juni 1993 und entschieden uns, diesem Programm eine Form zu geben. Als Víctor Hugo mit der MNR ging, wurde ich aufgestellt. Die Tragödie war, daß wir 20.000 Stimmen bekamen, er aber etwa 300.000.

Warum gab es nicht die Unterstützung der 70.000, die im Jahr vorher demonstrierten?

Cárdenas: Weil die Aymaras siegestrunken waren und mit Víctor Hugo gingen. Der Sieg der MNR erklärt sich durch seinen Beitritt. Wir hatten uns jedoch zum Ziel gesetzt, 1993 auf die Welt zu kommen, 1997 zu wachsen und im Jahr 2000 an den Türen zur Macht zu stehen. Der Linken bleibt kein anderer Weg, als für 1997 mit uns ein Programm zu diskutieren, um ein sehr viel breiteres Bündnis zu bilden. Pachacutec ist der Keimling des politischen Instrumentes, den die Volksorganisationen fordern.

Du sagtest, daß in Bolivien von heute an keine politische Aktion mehr ohne die Indígena-Komponente denkbar ist. Auf welcher Basis will Pachacutec demnach im Jahr 2000 an den Türen zur Macht stehen?

Cárdenas: Zuallerst, wir können nicht wie die klassische Linke verfahren. Daß heißt, ein Programm entwerfen, indem man zehn Intellektuelle zusammenbringt. Wir wollen, daß das Volk sein Regierungsprogramm macht. Die Gemeinden sollen sagen: das ist es, was wir vorrangig brauchen. Eine Gemeinde wird Wasser brauchen, eine andere Strom. Eine Bewegung wie die unsere muß all dies nur systematisieren und in einen Vorschlag für das Land umwandeln. In diesem Prozeß sprechen wir von der Klasse, der Nation und dem Geschlecht als den drei Stützpfeilern. Wir sind in eine Bewegung, die das Beste der Linken, das Beste des Intellektuellentums ausdrücken will. Aber die Vorreiterrolle sollen die ursprünglichen Völker spielen. So gesehen ist Pachacutec ein multikulturelles, ein multiethnisches Land im Kleinen.

Welche Bedeutung hat in dieser internen Diskussion das Thema Identität?

Cárdenas: Wir haben das Westliche des sozialistischen Programmes, wie es von der Arbeiterklasse, den Intellektuellen und der Mittelklasse verstanden wird, kritisiert. Wir haben die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, unsere eigene Utopie zu schaffen, die von unserer Identität ausgeht. Wir erinnern die Arbeiter*innen daran, daß sie auch Aymaras, Quechuas sind. In diesem Prozeß sind wir zu der Schlußfolgerung gekommen, daß er keine reinen klassischen und keine reinen indigenistischen Lösungen gibt. Es gibt eine Kombination von allem, der Kampf beinhaltet Klasse und Volkszugehörigkeit. Es gibt keine vorherbestimmten Avantgarden. Es gibt Vorreiter und in diesen Zeiten sind die indigenen Völker die Vorreiter.

In diesen Zeiten sind die indigenen Völker die Vorreiter

Der Fall der Berliner Mauer hat es uns erlaubt, mehr auf uns selbst zu sehen, auf unsere Wurzeln. Das wird uns auf unserem Weg stärken. Vorher war es schwer denkbar, daß ein Minenarbeiter die Whipala (bestimmtes Kleidungsstück der Indígenas; die Red.) trägt. Alles indígenahafte wurde als rückschrittlich angesehen. Ich würde sagen, auch die Mauer zwischen der Linken und der Indígena- Bewegung ist gefallen. Darum konnten wir den Arbeiterabsolutismus wegwischen, der im Namen des Marxismus-Leninismus die Arbeiterklasse vergöttlichte, indem diese die Architektin der Revolution und wir Campesinos die Maurer dieser Revolution sein sollten.

Welche Bedeutung hat die Geschlechterfrage?

Cárdenas: Dieses Thema hat uns viele Probleme in die Campesino- Bewegung hineingetragen. Es gibt Machismus, aber unter diesem Vorwand werden auch die europäischen Probleme nach Südamerika gebracht. In Europa sind die Bildung, die Gesundheit, der Hunger, die Armut gelöste Fragen. Da es in Europa nichts mehr zu tun gibt, erfinden sie sich neue Formen, um in Aktivitäten zu bleiben. So haben sie den Feminismus erfunden, der vielleicht seine Daseinsberechtigung dort hat, wo er herkommt, … daß der Kampf gegen den Mann geht, usw. Der Feminismus ist ein Produkt seiner eigenen Gesellschaft, aber das tragen sie uns in die Länder Südamerikas. Wir haben das in Bolivien erlebt, wo er (der Feminismus) in der bolivianischen Bourgeosie eine Akzeptanz hat.

„Die Marginalisierung der Frau ist bei uns kein Problem der Männer, sondern der kapitalistischen Gesellschaft“

In dieser Schicht merken die Frauen, daß es ihre eigenen Probleme sind und sie gründen feministische Bewegungen. Das soll in die Stadtrandzonen und aufs Land getragen werden, wo die Fragen nicht mehr dieselben sind, die in Europa gebrauchten Argumente haben hier keine Wirkung mehr. Auf alle Fälle ist die Marginalisierung der Frau real, sie existiert. Das soll nicht geleugnet werden. Aber es ist kein Problem der Männer, sondern ein Problem der kapitalistischen Gesellschaft. Aufgrund der Tatsache, Frau zu sein, gibt es Marginalisierung, Ausbeutung, Diskriminierung. Wir haben die Themen zu einem zentralen Thema unseres Programms gemacht.

Welche Echo haben Eure Vorschläge unter den Nicht- Indígenaschichten ausgelöst?

Cárdenas: Sie haben keinen anderen Ausweg, als sich der Realität anzupassen. In einem anderen Zusammenhang, in einem anderen Land wären unsere Forderungen und Vorschläge vielleicht eine Verrücktheit. Aber wir sind davon überzeugt, in unserem Land die Mehrheit zu sein und sie sind die Minderheit. Den Mestizen bleibt nichts anderes übrig, als sich zu definieren, wenn sie Aymaras oder Quechuas sind. Denn um Aymara oder Quechua zu sein, muß man nicht notwendigerweise Aymara oder Quechua sprechen oder sich entsprechend kleiden. Das wäre ein indigener Fundamentalismus, an dem wir kein Interesse haben. Das Thema der Identität ist auch, wie ein Aymara zu handeln, zu denken, Ziele der Aymaras aufzunehmen und dafür zu kämpfen. In diesem Sinne kann ein Gringo, ein Weißer, ein Kreole auch Aymara sein, da gibt es kein Problem.

„Wir haben kein Interesse an indigenem Fundamentalismus“

Die Kreolen müssen eine Identität annehmen. Dabei passiert etwas, was auch in den Zeiten der Arbeiterklasse passiert ist: Die begeistertsten revolutionären Arbeiter waren die Akademiker, die sich jedem Minenarbeiter in den Weg stellten, der ihnen vorauseilte. Jetzt sind es die Akademiker*innen, die in allen Universitäten Whipalas tragen. Einige Aymaras protestieren und sagen: Wie ist es möglich, daß sie auf diese Art die Whipala verunglimpfen. Die verständigeren Leute sagen: Laßt sie. Es gibt eine Art Attraktion der Vorschläge, die von den ursprünglichen Völkern kommen. Aber das hat einen Sinn. Es geschieht, weil wir uns nicht in einem Fundamentalismus einschließen. Wenn unser Ziel die Befreiung ist, dann werden wir uns so respektieren, wie wir sind. Es geht um ein Projekt, das niemanden ausschliet.

KOLUMBIEN

Frauen verstärken Informationsaustausch

(Bogota, Februar 1995, fempress-POONAL).- 30 kolumbianische Bürgermeisterinnen trafen sich mit Kolleginnen aus Spanien, Ecuador, Peru und Venezuela, um sich über Erfahrungen, Schwierigkeiten und Erfolge in ihrer Amtszeit auszutauschen. Es war das erste internationale Treffen dieser Art in Kolumbien. Bei einem anderen Treffen kamen 33 Frauen zusammen, die in 22 Städten des Landes seit vier Jahren in den Frauenabteilungen der Familienentwicklungsprogramme arbeiten.

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