David gegen Goliath: Vom Kampf brasilianischer Chemiearbeiter*innen

Von Jessica Zeller

Brasilianische Arbeiter*innen demonstrieren gegen Shell/BASF, Foto: Quimicos Unificados

(Berlin, 18. Dezember 2016, npl). Eine kleine brasilianische Chemiegewerkschaft hat es geschafft, zwei transnationale Konzerne – Shell und BASF – zu einer beispiellosen Vereinbarung zu verpflichten: Individuelle Entschädigung für rund 500 Betroffene und ihre Kinder sowie ein Fonds für Projekte zur Behandlung von Berufskrankheiten. Wie dieser Erfolg gelang, darüber berichteten eine brasilianische Gewerkschafterin und ein ehemaliger Arbeiter, die im November 2016 in Berlin und anderen deutschen Städten zu Gast waren.

Tavares: ein Arbeitsleben mit gefährlichen Pestiziden

Francisco Tavares Gomes, oder kurz Tavares, wie ihn in Brasilien alle nennen, ist ein Mann mit dichtem schwarzen Haar und freundlichen Augen. Gerade ist der 61-jährige Rentner gesund. Aber es ist gut möglich, dass das morgen schon ganz anders aussieht. Denn mehr als zwei Jahrzehnte kam er als Arbeiter in der Chemiefabrik von Paulínia in der Nähe von Sao Paolo mit krebserregenden Pestiziden in Kontakt. Sie verursachen schwere Gesundheits- und Umweltschäden, auch Todesfälle. „Der Konzern Shell hat uns ab 1977 insgesamt zwölf sehr gefährlichen chemischen Substanzen ausgesetzt. Obwohl diese Stoffe in großen Teilen der Welt schon damals verboten waren, fanden sie im Werk von Paulínia weiterhin in Verwendung“, erläutert der ehemalige brasilianische Chemiearbeiter.

Verseuchtes Wasser – zerstörte Gesundheit

Dass seine Arbeit seine Gesundheit und die seiner Kolleg*innen schwer schädigte, davon wusste Tavares bis zur Schließung des Werkes und der Versiegelung des Bodens im Jahr 2002 nichts. Wie auch: In Brasilien herrschte bis 1985 eine Militärdiktatur und die Arbeiter*innen hatten nicht nur kaum Rechte, sondern auch keinen Zugang zu Informationen. Außerdem gab es, zumindest dem Anschein nach, ausreichend Schutzmaßnahmen.

Wie diese aussahen, beschreibt der ehemalige Chemiearbeiter Tavares recht anschaulich: „Wir wurden gut geschult und haben jeden Tag mehrmals geduscht und unsere Kleidung gewechselt – allerdings hat das die Sache fast noch schlimmer gemacht, denn das Grundwasser war ja verseucht. Damit wurden auch das Essen oder der Kaffee in der Werkskantine zubereitet. Es war also total egal, ob man tatsächlich in der Produktion oder nur in der Verwaltung tätig war. Dem verseuchten Wasser waren 25 Jahre lang alle Arbeiterinnen und Arbeiter in Paulínia ausgesetzt.“ Und über die Jahre wurden viele von ihnen krank. Sie litten an chronischer Bindehautentzündung oder ständigem Erbrechen. Andere klagten über Angstzustände und Schlaflosigkeit. Frauen bekamen Kinder mit Behinderungen. Und über sechzig Arbeiter*innen starben –  an der ein oder anderen Form von Krebs.

Kampf um Entschädigung

Tavares und andere Kolleg*innen aus dem Werk begannen sich zu organisieren. Sie wollten eine Entschädigung: Von Shell, dem transnationalen Unternehmen, das das Werk in Paulínia fast zwanzig Jahre betrieb, und von BASF, dem deutschen Großkonzern, der die Fabrik im Jahr 2000 übernommen hatte. Unterstützt wurde ihr Kampf um Gerechtigkeit von der Gewerkschaft „Quimicos Unificados“, der Chemiegewerkschaft von Campinas.

Gloria Nozella ist dort Vorstandsmitglied und zuständig für Gesundheitspolitik: „Die Chemiegewerkschaft hat in der Auseinandersetzung der Arbeiter von Paulínia eine zentrale Rolle gespielt. Einmal pro Woche, jeden Donnerstag, haben sie sich in den Räumen der Gewerkschaft getroffen. Wir haben auch die Reisen der Arbeiter unterstützt, und Informationen über den Fall verbreitet. Mediziner, Sachverständige und staatliche Stellen wurden hinzugezogen. Quimocos Unificados hat also die logistische Struktur und die finanziellen Mittel bereitgestellt.“

Der ehemalige Chemiearbeiter Francisco Tavares Gomes und die Gewerkschaftsaktivistin Gloria Nozella / Foto: Quimicos Unificados

Die Chemiearbeiter*innen stritten für Ihre Rechte – auf der Straße und vor Gericht. Das Gesamtgutachten, mit dem der Prozess eröffnet wurde, umfasste rund 60.000 Seiten, mit unzähligen Dokumenten und Schilderungen von Betroffenen. Der Fall ging durch mehrere Instanzen. Im Jahr 2013 – nach rund zehn Jahren der gerichtlichen Auseinandersetzung – erkannte das Oberste Arbeitsgericht Brasiliens die Ansprüche der Arbeiter*innen an. Shell einigte sich vor Gericht mit ihnen auf eine abschließende Vereinbarung und entging so einer juristischen Verurteilung.

Der Vertrag sichert den Arbeiter*innen individuelle Entschädigungen zu, sowie das Recht der Beschäftigten und ihrer Familien auf lebenslange ärztliche Behandlung – insgesamt betrifft das mehr als tausend Personen. Hinzu kommt ein Fonds von umgerechnet etwa 50 Millionen Euro, aus dem beispielsweise der Bau eines Krankenhauses im ländlichen Gebiet oder einer Kinderkrebsklinik finanziert wurden.

Für die brasilianische Gewerkschaftsaktivistin Gloria Nozella waren für den Erfolg zwei Faktoren entscheidend: „Zum einen hatte der Konzern Shell ganz einfach Angst davor, verurteilt zu werden. Denn das hätte dem Unternehmen in seiner Glaubwürdigkeit schwer geschadet. Der zweite Faktor, der ganz entscheidend zu der jetzigen Lösung beitrug, war der jahrelange Druck, der von den Betroffenen und der brasilianischen Gesellschaft aufgebaut wurde.“

Erfolg beeindruckt auch deutsche Gewerkschafter*innen

Beatrix Sassermann, deutsche Gewerkschafterin und jahrzehntelang in einem Pharmaunternehmen beschäftigt, ist jedenfalls schwer beeindruckt vom Kampf und von den Errungenschaften ihrer brasilianischen Kolleg*innen. Sassermann ist Aktivistin in der „Basis Initiative Solidarität“ aus Wuppertal.

Sie hat mit dem ehemaligen Arbeiter Tavares und der Gewerkschaftsaktivistin Gloria Nozella eine Rundreise durch verschiedene deutsche Städte organisiert. „Das Ergebnis, was die Gewerkschaft und die Arbeiter erreicht haben, bricht mit einem geschriebenen Gesetz, das normalerweise für eine Entschädigung ein kausaler Zusammenhang zwischen den chemischen Produkten und einer Erkrankung nachgewiesen werden muss, was ganz oft schwierig ist. Und die brasilianischen Kollegen haben einen strategischen Schwerpunkt darauf gelegt, dass die Exposition das entscheidende Merkmal ist.  Das heißt, alle Arbeiter, die diesen Chemikalien ausgesetzt waren, kommen in den Genuss der Regelung, nicht nur die Erkrankten“, so Sassermann.

Ehemalige Chemiearbeiter*innen treffen sich noch heute

Die garantierte Gesundheitsversorgung betrifft also nicht nur die Behandlung von bereits ausgebrochenen Folgekrankheiten, die aus der jahrelangen Belastung mit gefährlichen Pestiziden resultieren. Hier geht es auch um  Prävention und Früherkennung. Auch Tavares, der Chemiearbeiter, der 25 Jahre lang in dem Werk von Paulínia arbeitete und seine Kinder gehen regelmäßig zu den ärztlichen Untersuchungen. Hier trifft er die Kolleg*innen von damals. „Aber“, so formuliert er hoffnungsvoll, „anders als früher treffen wir uns nicht länger um zu weinen oder zu klagen. Denn dank der medizinischen Versorgung konnten bei etlichen unserer Kolleginnen und Kollegen Krankheiten im Vorstadium festgestellt werden, wie zum Beispiel Prostatakrebs. Diese Männer konnten frühzeitig behandelt werden und sind heute gesund.“

Zu diesen Artikel gibt es auch einen Audiobeitrag den ihr hier anhören könnt.

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