Würdige Kinderarbeit?

(Berlin, 10. Oktober 2010, npl).- „Gibt es noch Fragen?“ Die schlaksige 14-Jährige aus Nicaragua mustert selbstbewusst die Runde der anwesenden Pressevertreter*innen. Francis Estefania Zeas aus Jinotega, der 60.000 Einwohner*innen zählenden Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, kennt sich aus mit Interviews. Sie ist seit vier Jahren mit dem Mikrofon für den „Club Infantil“ als Journalistin auf Stimmenfang. 30 Kinder und Jugendliche produzieren im Medienprojekt des Jugendklubs jede Woche eine Stunde Radioprogramm. Und eine Stunde Fernsehen. Außerdem geben sie noch eine Zeitschrift heraus. Ihre Zielgruppe: Die Erwachsenen.

Denn diese, so Francis, sollen durch diese Medienarbeit hinsichtlich der Wahrung von Kinderrechten sensibilisiert werden. In Nicaragua müssten viele Kinder arbeiten, obwohl dies offiziell verboten sei, erklärt sie. Das Verbot von Kinderarbeit gehe an der Lebensrealität der meisten Kinder jedoch vorbei, sagt die jüngste von fünf Geschwistern mit einer alleinerziehenden Mutter. Francis selbst arbeitet seit ihrem 9. Lebensjahr. „In meinem Land haben die meisten Frauen viele Kinder und sind alleinerziehend. Wenn die Kinder nicht mitarbeiten, reicht es nicht. Das schafft eine Mutter nicht allein“, erklärt sie.

Ziel: Arbeiten, zur Schule gehen, Freizeit

Die Bedingungen der Kinderarbeit sind äußerst prekär: Kinder, die oft Essen oder Spielzeug auf dem Markt und in Bussen verkaufen, als Haushaltshilfen arbeiten oder Botengänge erledigen, werden unterbezahlt, sexuell belästigt und schlecht behandelt, sagt Francis, die einmal Journalistin werden will. Da eine bessere Bezahlung der Eltern in ihrem Land nicht in Aussicht stehe, fordern die Kinder für sich selbst wenigstens „würdige Arbeit“: Damit meinen sie eine angemessene Bezahlung sowie Arbeitszeiten, die es ihnen ermöglichen, auch zur Schule zu gehen. Francis arbeitet täglich eine Stunde. Sie verkauft Tortillas – Maisfladen, die ihre Tante zubereitet – und erledigt Botengänge. „Aber ich achte darauf, dass ich auch Freizeit habe und sonntags nicht arbeite“, sagt sie in bestimmtem Ton. Mit ihrem Verdienst sorge sie für ihre persönlichen Bedürfnisse: Die Schuluniform, Kleidung, Schulmaterial. „Aber manchmal gebe ich das Geld auch meiner Mutter, wenn nichts mehr da ist“, ergänzt sie.

Mehr als 215 Millionen Kinder weltweit müssen arbeiten. In Lateinamerika und der Karibik sind es 14,1 Millionen Kinder oder 10 Prozent der fünf bis 17-Jährigen, so die Internationale Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen ILO. Rund 9 Millionen Kinder in Lateinamerika gehen gefährlichen Arbeiten nach, darunter fällt „jede Tätigkeit oder Beschäftigung, die sich ihrer Natur nach schädlich auf die Sicherheit, die körperliche oder seelische Gesundheit und die sittliche Entwicklung des Kindes auswirkt oder auswirken kann“, so die Formulierung der ILO.

Club Infantil will ermutigen

„Bei uns sollen die Kinder eigene Strategien zur Problemlösung entwickeln. Wir unterstützen sie dabei. Wir achten die Kinder als Persönlichkeiten und lehnen eine bevormundende Haltung ab“, sagt die 43-jährige Leiterin des Club Infantil, Lydia Palacios Chiong. Die staatlichen Stellen hätten zwar faktisch keine Mittel den Club zu unterstützen, stellten sich aber auch nicht quer, im Gegenteil: „Die Bestimmungen mögen andere sein. Aber die lokalen Behörden kennen die Realität und sehen, dass es den Kindern durch unsere Arbeit besser geht, dass sie weiterkommen. Wir arbeiten mit Theater, mit Tanz, und haben neben dem Medien- auch ein Alphabetisierungs-projekt. Und wir machen auch viel Straßensozialarbeit. Beispielsweise haben wir im Markt von Jinotega ein kleines Büro. Denn dort arbeiten sehr viele Kinder und wir können sie direkt erreichen.“

Die Mitarbeiter*innen im Club Infantil wollen, dass die Kinder ihre Rechte kennen: „Sie sollen lernen, an Dingen zu partizipieren, die sie betreffen. Sie sollen Fähigkeiten entwickeln, sich im Leben zu verteidigen. Wir haben nicht die Absicht, den Staat oder die Familie zu ersetzen. Wir glauben vielmehr, dass die Familie, die Gesellschaft und der Saat sich sensibilisieren müssen für die Situation der Kinder, damit sie miteinander respektvoll umgehen können. In Bezug auf die Kinderarbeit sensibilisieren wir die Händler bzw. die Arbeitgeber, die die Kinder beschäftigen, damit sie sie besser behandeln, damit sie die Kinder zur Schule gehen und spielen lassen. Sie sollen bessere Konditionen schaffen und ihnen nicht notwendigerweise die Arbeit verweigern, die die Kinder brauchen, um zu überleben“, erläutert Lydia Palacios Chiong den pädagogischen Ansatz des Jugendzentrums.

Position der ILO in der Kritik

Unterstützt wird der Jugendklub dabei unter anderem von der Christlichen Initiative Romero (CI) und dem Verein Pronats. Während die Internationale Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen, ILO, weiterhin Kinderarbeit ächtet, vertreten CI und Pronats die provokante Ansicht, dass Kinderarbeit fair sein könne. Es gehe ihnen darum, eine differenziertere Betrachtung der Kinderarbeit zu erreichen, erklärt Johanna Fincke von CI, die schlichte Kriminalisierung von Kinderarbeit, wie die ILO sie betreibe, nutze überhaupt nichts: „Das Problem ist doch, dass die Stimme der Kinder und Jugendlichen fast nie gehört wird, vor allem nicht auf internationalem Parkett, aber auch in der Öffentlichkeit hier. Wir haben von unseren Partnerorganisationen immer wieder gehört, dass es regelrechte Horrorszenarien gibt, als Folge des Verbots und der internationalen Ächtung der Kinderarbeit. Zum Beispiel kommt es auf den Märkten Guatemalas und Kolumbiens kommt immer wieder zu Razzien gegenüber arbeitenden Kindern, die Kaugummis oder Nahrungsmittel verkaufen. Die Kinder werden dann in Gefängnisse geworfen, es wird Schutzgeld von ihnen erpresst und sie sind der Polizei schutzlos ausgeliefert.“

Bei Kinderarbeit stellt sich die Systemfrage

Ähnlich äußert sich auch Manfred Liebel, emeritierter Professor für Sozialpädagogik an der Technischen Universität Berlin und Koordinator des European Net-work of Masters in Children‘s Rights ENMCR: „Wenn man einfach sagt: ‚Kinder dürfen nicht mehr arbeiten’, dann verbessert das die Situation der Kinder und ihrer Familien nicht automatisch, sondern verschlechtert sie eher“, konstatiert er. Es müssten, so sein Credo, Alternativen mit den Kindern selbst entwickelt werden. „Mit der ILO stimmen wir soweit überein, dass die Ausbeutung von Kindern unterbunden werden muss“, so Liebel. Man könne die Ausbeutung von Kindern nicht isoliert von der allgemeinen Ausbeutung von Menschen ins Visier nehmen und bekämpfen, letztendlich stelle sich da auch die Systemfrage, erklärt der Wissenschaftler.

Mit der Armut verschwinde nicht automatisch die Kinderarbeit, postuliert Liebel. Vor ein paar Jahren hätte eine 12-Jährige aus Lateinamerika, die arbeitet, bereits die deutschen Journalist*innen und ihn selbst irritiert, weil sie konstatiert hätte, dass sie ihre Arbeit als etwas Positives ansehe: Sie lerne viel. Ohne Armut würde sie sich dann ihre Tätigkeit aussuchen können und die Bedingungen, hätte sie geantwortet. Aber aufhören? Das wolle sie nicht, habe sie gesagt. Ähnliches klingt auch bei Francis durch: Sie habe die Unabhängigkeit schätzen gelernt, die ihr die Arbeit bietet. Und sie lerne viel, sagt sie.

* Vergleiche hierzu auch den Audiobeitrag von Bettina Hoyer und Birgit Krug im Rahmen der Kampagne “Menschen. Rechte. Stärken!”, der unter der URL http://www.npla.de/de/onda/serien/menschenrechte/content/1076 kostenlos angehört oder heruntergeladen werden kann.

(Foto: Francis Zeas bei der Arbeit, Christliche Initiative Romero)

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