Wer denkt an die behinderten Frauen?

von Ángela Castellanos Aranguren

(Lima, 05. August 2013, semlac).- Behinderte Frauen in Kolumbien haben weniger Chancen als nicht-behinderte und sind häufiger der Gewalt ausgesetzt.

In dem von der Organisation der Amerikanischen Staaten OAS im Jahr 2006 ausgerufenen aktuellen Jahrzehnt für die Rechte und Würde von behinderten Personen auf dem amerikanischen Kontinent hat Kolumbien das Abkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert und ein entsprechendes Gesetz umgesetzt. Aber wird auf die Bedürfnisse behinderter Frauen eingegangen und werden ihre Rechte geschützt?

Im Februar 2013 wurde das Gesetz 1618 verabschiedet, welches die Internationale Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen aus dem Jahr 2006 umsetzt.

„Dank diesem Gesetz kann es jetzt nicht mehr vorkommen, dass zum Beispiel ein Gynäkologe die Mutter einer behinderten Jugendlichen fragt, ob er dieser eine Intrauterin-Spirale einsetzen darf, anstatt sich direkt an die junge Frau zu wenden“, bekräftigte Martha Cecilia Riveros gegenüber SEMlac. Riveros ist sehbehindert und arbeitet als Sozialarbeiterin im Zentrum für die Wiedereingliederung von blinden Erwachsenen CRAC (Centro de Rehabilitación para Adultos Ciegos). „Das Gesundheitssystem muss sich vor der Justiz dafür verantworten, die Rechte der jungen Frau missachtet zu haben und wenn der Staat nicht reagiert, könnte man sogar vor ein internationales Gericht gehen“, fügte Riveros hinzu.

Die Mehrheit der Frauen mit Behinderungen jedoch kennen ihre Rechte nicht und sind auch nicht in der Lage, diese umzusetzen. Meistens handelt es sich um Kolumbianerinnen, deren Einkommen den monatlichen Mindestlohn von 336 US-Dollar nicht übersteigt. Fast die Hälfte der Frauen verfügen kaum über elementare Schulbildung wie Schreiben und Lesen.

Die Beobachtungsstelle für geschlechterspezifische Angelegenheiten des Ministeriums für die Gleichstellung der Frau hat im Jahre 2012 einen Bericht erstellt, der auf Daten des Ministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung basiert. Diesem Bericht zufolge gibt es in Kolumbien mehr als 850.000 Menschen mit Behinderungen, 53 Prozent davon sind Frauen. Bei den über 40jährigen ist die Zahl der behinderten Frauen noch signifikant höher als die der Männer.

Diesen Zahlen zufolge leiden zwei Prozent der Bevölkerung an einer Behinderung. Sehr wahrscheinlich ist diese Prozentzahl jedoch höher, da es eine hohe Dunkelziffer gibt. Ergänzend dazu stellt der Bericht fest, dass 91 Prozent der behinderten Menschen über ein sehr niedriges Einkommen verfügen, welches den gesetzlichen Mindestlohn nicht übersteigt. 42 Prozent der Personen mit einer Behinderung haben kaum die Kenntnisse elementarer Schulbildung erworben und 54 Prozent sind in einem erwerbsfähigen Alter. „Es gibt Ansätze von Aufmerksamkeitszuwendungen hinsichtlich der Frauen mit Behinderungen – aber man muss sich fragen: Inwieweit werden unsere Stimmen erhört? Wir Frauen mit Behinderungen sind weitestgehend unsichtbar“, erklärte der Nachrichtenagentur SEMlac die Anthropologin Suzy Bermúdez, die einen Master in Geschichte und Sozialwissenschaften hat und deren Behinderung sich durch eine Schwäche in der Stimme äußert.

„In den Frauenorganisationen hat das Thema ‚Behinderung‘ noch keine hohe Priorität, aber deren Arbeit hat Türen und Tore geöffnet, damit alle Frauen – mit und ohne Behinderung – davon profitieren“ fügte Bermúdez hinzu, die eine anerkannte Spezialistin auf dem Gebiet geschlechterspezifischer Angelegenheiten ist.

Einige Behindertenorganisationen versuchen, auf lokale und die nationale Regierung einzuwirken, damit diese die in der internationalen Konvention verankerten Rechte entwickeln und anwenden. Auch setzen sie sich für Frauenrechte ein, die durch die Gesetzgebung geschützt sind.

Lernen, sich für die eigenen Rechte einzusetzen

Behinderte Menschen, die vom Zentrum CRAC betreut werden, beginnen damit, an ihrem Selbstwertgefühl zu arbeiten, ebenso wie an ihrer Selbstentdeckung. Auch versucht man, deren Fähigkeiten und Können mit Methoden zur Erlangung ihrer Autonomie zu schulen. „Es wird auf dem Gebiet der ‚Selbststärkung‘ gearbeitet als eine Möglichkeit, mit Mut Entscheidungen zu treffen und die Angst zu überwinden. Daher ist die Basis das Selbstwertgefühl der Menschen, damit diese in der Lage sind, die Stimme zu erheben, um Ideen Ausdruck zu verleihen und sich als handelnde Personen zu präsentieren. Diese ‚Selbststärkung‘ wird auf drei Gebieten vermittelt: auf sozialem, politischem und psychologischem Gebiet“. Dies erklärte Martha Cecilia Riveros, Sozialarbeiterin bei CRAC.

Die ‚Selbststärkung‘ schließt die Weitergabe von Informationen über Menschenrechte ein, ebenso wie eine Vermittlung von Wissen auf diesem Gebiet. „Die Mehrzahl der Personen mit Behinderungen, die in das Rehabilitationszentrum kommen, kennen ihre Rechte nicht; sie sind nicht in der Lage, diese einzufordern. Und am wenigsten die Frauen“, so Riveros.

„Wir machen sie mit ihren Rechten bekannt, die sie als Menschen mit Behinderungen haben, und bestärken sie darin, zu lernen, diese selbst umzusetzen (…). Zum Beispiel informieren wir sie über ihr Recht zu wählen, und wie sie dieses Recht wahrnehmen können mittels der Blinden- oder Großschrift. Letztere für Menschen, die nur schlecht sehen können, wie ich“, fügte sie hinzu.

Das politische Empowerment beinhaltet die Fortbildung für die Teilnahme an Versammlungen von Behindertenräten auf lokaler und Bezirksebene, welche in Bogotá stattfinden. Auch wird eine Begleitung dorthin angeboten. Die Versammlungen suchen ein Bündnis zwischen Staat und Gesellschaft zur Bildung von politischen Zielen, Plänen und Projekten, die mit dem Behindertensektor und ihren jeweiligen Budgets verbunden sind. Die Mitglieder dieser Räte werden gewählt von Leuten, welche sich vorher als Personen mit Behinderungen eingeschrieben haben.

Auch wird ein Training angeboten, um an Bereichen teilzunehmen, die für Menschen mit und ohne Behinderung zugänglich sind, wie zum Beispiel die Räte für Sozialpolitik der Bezirke Bogotas. „Dies alles mit der Absicht, dass behinderte Menschen nicht nur als Bittsteller an den Staat auftreten, sondern die Initiative ergreifen und mithelfen, ihre Rechte durchzusetzen“, erklärte Riveros.

Auch arbeiten sie mit Einrichtungen des Staates zusammen, damit letztere über die Bürgerrechte informierten und deren Umsetzung ermöglichen. Das Zentrum für die Wiedereingliederung von blinden Erwachsenen CRAC habe sich für Kampagnen mit dem Meldeamt (Ausstellung des Personalausweises) eingesetzt und mit dem Militär Maßnahmen zur Ausstellung eines Militärausweises erarbeitet (Dokument, welches jeder volljährige Mann besitzen muss).

„Wir tun dies, weil Menschen mit Behinderungen zu uns kommen, die noch nicht einmal über einen Personalausweis verfügen, weil die Familie diesen nie beantragt hat“, fügte Riveros hinzu.

Wie leben Frauen mit Behinderungen?

Das Verständnis für Behinderungen entwickelt sich allmählich. Der neueste Weltbehindertenbericht aus dem Jahr 2011 (von der Weltgesundheitsorganisation und Weltbank) bestätigt, dass „die stereotypen Vorstellungen von Behinderungen um Personen in Rollstühlen und einige andere ‚klassische‘ Gruppen kreisen, wie blinde oder taube Menschen“.

Aber, so kann man in dem Dokument ebenfalls ergänzend lesen, „aufgrund des Zusammenspiels von gesundheitlichen Problemen, persönlichen Eigenschaften und Umweltfaktoren gibt es enorme Unterschiede in den Erfahrungen mit Behinderungen. Obwohl Behinderungen immer auch Nachteile bedeuten, leiden nicht alle unter den gleichen Problemen.“

Die weltweite Studie belegt, dass neben schwerwiegenden Hemmnissen, wie zum Beispiel unzureichende Politik und Richtlinien, negative Haltungen und ungenügende Serviceleistungen, zu denen man oft keinen Zugang hat, „Frauen mit Behinderungen zusätzlich unter Diskriminierungen aufgrund ihres Geschlechtes leiden.“

Nach 18 Jahren Arbeit mit behinderten Menschen hat Riveros festgestellt, „ dass Frauen öfter unter Gewaltverbrechen und Vergewaltigungen zu leiden haben, außerdem unter männlicher Gewalt, Zwangsabtreibungen und –sterilisierungen, Menschenhandel und so weiter“.

„Häufig gestatten Männer ihren behinderten Frauen nicht, außerhalb des Haushaltes zu arbeiten. Und bis vor nicht allzu langer Zeit wurden blinde junge Frauen beim Gang in die Universität begleitet, obwohl sie in der Lage gewesen wären, alleine zu gehen“, erklärte Riveros.

Die Mehrheit (74 Prozent) der Bevölkerung, die an einer Behinderung leiden und als solche erfasst sind, leben in den Städten. Dort ist der Zugang (Mobilität) und die Zulassung zu Universitäten und Schulen einfacher. Diejenigen, die auf dem Land wohnen, gehen gewöhnlich nicht zur Schule, sondern verrichten im Haushalt Arbeiten, die die Eltern ihnen aufgetragen haben.

„Auf dem Land findet man häufiger Personen vor, die unter Sehbehinderungen leiden, was nicht diagnostiziert wurde. Oder sie werden nicht ihrer Behinderung entsprechend eingesetzt und müssen körperlich schwere Arbeiten verrichten, wodurch sie dem Risiko ausgesetzt sind, durch eine Netzhautablösung blind zu werden. Hinzu kommt, dass Mädchen und junge Frauen eher in der Landwirtschaft arbeiten müssen, als in die Schule zu gehen“, berichtete Riveros. Riveros fügte hinzu, dass Frauen, die in der Schwangerschaft an Präeklampsie leiden (schwangerschafts-bedingter Bluthochdruck) und während der Geburt nicht ausreichend betreut würden, der Verlust des Sehvermögens drohe.

„Ein weiterer Grund für eine Behinderung ist die Gewalt. Einige Frauen kommen zu CRAC mit Sehproblemen oder Sehbehinderungen, welche entstanden sind, als sie von ihrem Ehemann geschlagen wurden. Das wissen wir, weil sie es uns gesagt haben. Aber wenn diese Frauen sich behandeln lassen, wird als Grund für die Blindheit ein Trauma notiert“, fügte sie hinzu.

Sie erklärte außerdem, dass Frauen mit von Geburt an eingeschränktem Sehvermögen viel später (zwischen dem 25. und 28. Lebensjahr) an Rehabilitierungsmaßnahmen teilnehmen als Männer (zwischen 15 und 17), die mit der gleichen Behinderung zur Welt gekommen sind. „Warum? Weil die Familie Bedenken hat hinsichtlich des Risikos auf den Straßen. Ein anderer Grund ist, dass die Frauen mehr als Personen wahrgenommen werden, die beschützt werden müssen, als es bei Männern der Fall ist. Obwohl sich diese Situation seit dem Jahr 2000 allmählich ändert. Die Zahlen der Teilnahmen an den Rehabilitierungsmaßnahmen nähern sich langsam an“, so Riveros.

Momentan nimmt die Anzahl der Frauen zu, die sich an sportlichen Aktivitäten und professionellem Tanz beteiligen und auch an Einrichtungen wie lokalen Räten und Organisationen für behinderte Menschen teilnehmen.

„Wir Frauen haben für diese Aufgaben kämpfen müssen“, sagte Riveros, die Führungspositionen in dieser Art von Einrichtungen innehatte. Die Sozialarbeiterin war Repräsentantin Kolumbiens in der Lateinamerikanischen Blindenunion. „Wir mussten lernen, dass wir als Organisationen von Menschen mit Behinderungen selbst politischen Druck auf den Staat ausüben können, ohne eine politische Partei zu sein. Deren Unterstützung suchten wir in der Vergangenheit und wurden sogar ausgenutzt“, so Riveros.

 

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