Ohne Internet keine Schule – Bildungsgerechtigkeit in der Krise

(Berlin, 2. August 2020, npla).- Am 25. Oktober wird die chilenische Bevölkerung darüber abstimmen, ob ihr Land eine neue Verfassung bekommen soll. Der eigentlich für April geplante Termin für das Plebiszit wurde Corona-bedingt verschoben, die politische Rechte war sowieso dagegen, weil sie die aus Zeiten der Diktatur stammende Verfassung beibehalten will. Nun aber ist der Termin bestätigt.

Viele erhoffen sich von einer neuen Verfassung auch mehr Gerechtigkeit in der Bildung. Die ist in Zeiten des Corona-bedingten Lockdowns noch stärker bedroht als ohnehin schon: Seit vier Monaten gelten Quarantäneauflagen in der Hauptstadt Santiago. Schulen und Universitäten stellen auch in Chile auf digitale Lehrangebote um. Was bedeutet das für diejenigen, die weder Geld für Essen noch für ausreichende Bandbreite im digitalen Raum haben?

Im Juli in Santiago de Chile: Lehrer Miguel Angel Pinto ist mal wieder im Videochat. Er berichtet, wie sich vor über drei Monaten mit der Pandemie Lehren und Lernen vom Klassenzimmer ins Internet verlagert hat. „Am 15. März war auf einmal alles vorbei. Ich hatte nur den WhatsApp-Kontakt von einer Mutter. Über sie habe ich alle anderen Eltern kontaktiert.“ Pinto ist Grundschullehrer und unterrichtet eine zweite Klasse an einer öffentlichen Schule. Er will zu allen 35 Kindern Kontakt halten – auch in Coronazeiten.

Die wenigsten Schüler*innen an öffentlichen Schulen haben zuhause einen Computer zur Verfügung

„Das erste, was ich dann gemacht habe, war eine Umfrage“, sagt er, „ob die Eltern oder die Kinder ein Handy oder einen Computer besitzen und ob sie damit Zugang zum Internet haben.“ Dabei sei herausgekommen, dass sehr wenige einen Rechner bei sich zu Hause stehen haben. Meistens hätten der Vater oder die Mutter aber ein Smartphone. „Und abends, wenn die Eltern von der Arbeit nach Hause kommen, können die Kinder dieses Gerät benutzen. Über ein Mini-Display müssen diese sieben Jahre alten Menschen dann herausfinden, welche Schularbeiten sie zu Hause machen sollen“, erkärt Pinto.

An Unterricht per Videokonferenz ist unter diesen Bedingungen nicht zu denken – anders als an privaten Schulen in wohlhabenderen Vierteln. Lehrer Pinto schickt kurze Videoclips mit Erklärungen für die Kinder per WhatsApp und die Aufgaben per E-Mail an die Eltern. Wenn die Kinder ihre Arbeiten – meist auf Papier – erledigt haben, rufen sie ihn kurz an, und erzählen, wie es ihnen damit gegangen ist.

„Das wichtigste ist doch, zu jedem einzelnen Kind immer wieder eine emotionale Verbindung aufzubauen“, meint Pinto. Er fragt sich, wie das über digitale Wege erreicht werden kann, „was sonst so einfach über ein Wort oder über einen Blick funktioniert. Für mich war das war das schwierigste, aber auch das bereicherndste.“

Drei-Klassen-System in der Bildung

Schon in normalen Zeiten ist fast die Hälfte der Eltern dieser Schule arbeitslos, beschreibt der Lehrer. Während der Pandemie ist diese Quote – wie im ganzen Land – noch einmal stark angestiegen. Die meisten Mütter seiner Schülerinnen und Schüler arbeiten als Reinigungskräfte oder als Hausangestellte, die Väter oft auf dem Bau, viele auch als Straßen- oder Marktverkäufer. Ein Drittel der Chileninnen und Chilenen arbeiten im informellen Sektor, ohne regulären Arbeitsvertrag, ohne Kranken- oder Arbeitslosenversicherung. Und da gilt: ohne Arbeit kein Geld. Die Kinder wiederum sind darauf angewiesen, Mittagessen in der Schule zu bekommen – eine Unterstützung, die seit Mitte März ausfällt, als die Schulen geschlossen wurden.

„Die meisten Kinder in meiner Klasse sind mit ihren Familien aus Venezuela oder Peru nach Chile gekommen“, erklärt Lehrer Pinto. „Viele mieten ein einzelnes Zimmer und leben dort unter sehr beengten Verhältnissen mit ihren vier oder fünf Kindern. Mehrere Familien teilen sich eine Wohnung.“

Ein typischer Fall, bestätigt der Soziologe Rodrigo Hidalgo. An vielen öffentlichen Schulen in Chile kommen inzwischen sehr viele Kinder aus Familien mit Migrationsgeschichte. „Sie haben die Plätze von chilenischen Kindern eingenommen, die früher an öffentlichen Schulen waren und jetzt in ‘subventionierte’ oder private Schulen gehen”, so Hidalgo. Weiter erklärt er, das chilenische Bildungssystem sei dreigeteilt und in hohem Maße sozial ungerecht: 53 Prozent der Schülerinnen und Schüler gehen demnach an öffentliche, von den Kommunen betriebene Schulen. Die sind zwar kostenlos, aber sehr schlecht ausgestattet.

Weitere 40 Prozent der Kinder besuchen sogenannte subventionierte Schulen und müssen etwa drei Euro Gebühren pro Monat und Kind bezahlen. Diese Schulen werden von privaten Unternehmen betrieben und bekommen staatliche Zuschüsse. An die am besten ausgestatteten rein privaten Schulen können nur etwa sieben Prozent der Schüler*innen gehen. Sie sind der wirtschaftlichen Elite vorbehalten, denn nur die kann die Kosten von durchschnittlich 450 Euro pro Monat aufbringen.

Proteste für gute und kostenlose Bildung für alle

Schon in den Jahren 2006, 2011 und 2014 traten große Bewegungen von Schüler*innen und Studierenden für den Zugang zu guter und kostenloser Bildung für alle ein – und politisierten sich über diese Forderung. Im estallido social, der Protestbewegung, die seit Oktober 2019 Millionen Chileninnen und Chilenen auf die Straße gebracht hat, war das Thema Bildungsgerechtigkeit wieder präsent.

Seit dem 15. März sind nicht nur die Schulen, sondern auch die Universitäten in Chile geschlossen. Hier ist der Zugang zum Internet noch wichtiger. Statt Präsenzunterricht gibt es nur noch Online-Lernen. Wer nicht im Netz ist, ist draußen. Studentin Carola Ramírez beschreibt, dass sie an der Uni gefragt wurden, wo es Probleme gibt. „Viele von uns haben keine ruhige Arbeitsatmosphäre, weil manche sich den Raum mit ihren Geschwistern oder den Eltern teilen müssen.“ erklärt Ramírez, „sie haben einen sehr schlechten Zugang zum Internet, mit dem die Audioverbindung nicht richtig funktioniert.“

Wer soll das bezahlen …

Umgerechnet 25 Euro im Monat kostet ein Internetzugang mittlerer Qualität in Chile. Ein stolzer Preis, wenn man bedenkt, dass der offizielle Mindestlohn bei etwa 390 Euro liegt und die Hälfte der chilenischen Bevölkerung unter 500 Euro monatlich verdient.

Über Social Media ging das Bild einer jungen Studentin  um die Welt, die über eine Holzleiter auf das Dach ihres Häuschens kletterte, um sich von dort ins Internet einzuwählen. Sinnbildlich steht dieses Foto für das „wahre Gesicht“ Chiles. Ein Land, das Mitglied in der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) ist und wegen seiner neoliberalen Wirtschaftspolitik zwar mit positiven makroökonomischen Zahlen glänzt, in dem das Gesundheits- und das Bildungssystem allerdings weitgehend privatisiert und große Teile der Bevölkerung arm und lebenslang verschuldet sind. Auch weil sie hohe Kredite aufnehmen müssen, um ihre Ausbildung zu finanzieren. Denn die Studierenden müssen nicht nur an privaten, sondern auch an öffentlichen und sogenannten subventionierten Hochschulen hohe Gebühren zahlen. Stipendien gibt es nur für Wenige, Gratiszugang zu öffentlichen Unis nur für die allerärmsten, die nämlich weniger als 170 Euro Einkommen haben. So verschulden sich viele Menschen auf Jahrzehnte, um ihre Ausbildung zu finanzieren.

Prekäre Arbeitsverhältnisse in der Lehre

Und auch viele Menschen mit akademischem Abschluss arbeiten später zu prekären Bedingungen. Wie Militza Meneses. Die Kulturwissenschaftlerin ist Lehrbeauftragte an drei Universitäten: zwei privaten und einer öffentlichen Hochschule. Auf Honorarbasis. Etwa 80 Prozent der Lehrenden sind sogenannte „Stunden-Profs“ oder auch „Taxi-Lehrkräfte“. Corona und die Umstellung der Lehre von Präsenz auf Online hat sie voll erwischt.

„Die Lehrkräfte tragen die größte Last, auch finanziell. Um zu unterrichten, müssen wir einen guten Internetzugang organisieren, die Uni zahlt das nicht. Auch nicht den höheren Stromverbrauch, den wir zuhause haben.“ Das mache zwar nicht ganz so viel aus, erklärt Meneses, „aber die Arbeitsbedingungen sind doch so ähnlich wie bei Uber: Wir stellen das Kapital und auch noch die Arbeitskraft!“

Wie sie Videos oder andere Lehrinhalte erstellen und hochladen, müssen Dozentinnen und Dozenten wie Militza Meneses sich selbst aneignen, z.B. über Tutorials auf Youtube. Denn die Unis waren noch gar nicht so weit. „Die Pandemie hat die Unis, an denen ich arbeite, überrollt. Sie waren noch sehr am Anfang in der Entwicklung digitaler Lehrformen. Plötzlich mussten alle, Studierende und Lehrende, sehr schnell lernen, wie das funktionieren kann.“

Corona bremst auch die Protestbewegung aus

Viele Studierende mussten zudem ihre Ausbildung aussetzen, weil ihre Eltern mit der Coronakrise Arbeit und Einkommen verloren haben. Chile gehört in Lateinamerika zu den besonders von der Pandemie betroffenen Ländern. Über 350.000 Infizierte und 9.000 Verstorbene wurden bisher registriert, bei rund 18 Millionen Einwohnern. Aktuell infizieren sich täglich um die 2.000 Menschen mit COVID-19, die meisten im Großraum Santiago. Die weitere Entwicklung bleibt abzuwarten.

Inzwischen werden die Kontaktbeschränkungen in einigen Regionen des Landes und in manchen Vierteln der Hauptstadt langsam gelockert.Weite Teile Santiagos liegen aber weiterhin unter strikter Quarantäne.

Ausgebremst hat die Pandemie allerdings nicht nur das alltägliche Leben, sondern auch die Protestbewegung. Vorerst zumindest. Doch die fordert weiterhin eine Neue Verfassung – auch um eine gesellschaftliche Lösung für das Problem der Bildungsungerechtigkeit im Land zu finden. Denn die wird – genau wie das Virus – nicht einfach so verschwinden.

Zu diesem Text gibt es auch einen Podcast bei Radio onda!

und einen längeren Beitrag des Autors zum Thema auf Spanisch

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