Neues Buch von Luiz Ruffato

»Mama, es geht mir gut« – so heißt der erste Teil des fünfteiligen Romanzyklus »Vorläufige Hölle« von Luiz Ruffato über das Leben der Armen und Migranten in Brasilien. Luiz Ruffato ist einer der bekanntesten zeitgenössischen Schriftsteller Brasiliens und war Gastredner auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse. Wir stellen euch das Buch und den Autor vor.

 

Viele gute, wenn nicht die besten Geschichten schreibt das Leben selbst. So auch die von Luiz Ruffato: 1961 geboren, wächst der Sohn einer Waschfrau und eines Popcornverkäufers in Cataguases auf, einer Kleinstadt im Hinterland des Bundesstaates Minas Gerais. Eines Tages, der junge Ruffato hilft gerade seinem Vater bei der Arbeit am Verkaufsstand, wird er von einem Mann angesprochen. Der Fremde ermöglicht dem Kind den Besuch einer weiterführenden Schule. Doch unter all den Mittelschichtskindern fühlt sich Ruffato nicht wohl. Er verkriecht sich in der Bibliothek und aus Schüchternheit, so beschreibt er es später, fängt er an zu lesen. Doch die Bücher, die Luiz Ruffato liest, handeln von Menschen, die so ganz anders sind als die, die er kennt.

 

»Wenn es ein Buch gibt, das du wirklich lesen willst, das aber noch nicht geschrieben wurde, dann musst du es schreiben«, sagte einst die afroamerikanische Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison. Der Brasilianer Luiz Ruffato scheint dieses Motto auf seinem Weg vom Ge­legenheitsjobber zum Journalisten und später zum Schriftsteller beherzigt zu haben. Er gibt den Namenlosen ein Gesicht – den Armen und Erfolglosen, den Migranten und Gestrandeten. Standen in seinem Debütroman und Überraschungserfolg ,,Es waren viele Pferde“ die Bewohner São Paulos im Vordergrund, richtet er in ,,Mama, es geht mir gut“ seinen Blick auf das ländlich geprägte Brasilien. Die erste Episode »Eine Fabel« handelt von den migrantischen Pionieren in der Landwirtschaft, die das arme Italien gegen das fruchtbare Brasilien eingetauscht haben.

 

Er baute seine Familie aus zwischen Axthieben und Brandrodung, Pflug und Hacke, tief hinten in einem engen Tal auf halbem Weg zwischen Rodeiro und der dahinter aufragenden Serra de Onça, dazwischen Três Vendas so ziemlich am Ufer des hastig dahin fließenden Rio Xopotó: Ein Loch vom Erlös harter Arbeit, Sonne auf Sonne im Rücken, in steilen Kaffeeplantagen von Piau, von Gott, Vater und Mutter verlassen. (…)

Er begann damit Bäume zu fällen und die Sümpfe herunterzubrennen, mit dickem Bambus Wasser aus der Quelle zu fassen und Steine zu hauen zur Befestigung der Fundamente für das Haus mit sechs Zimmern, die Hände fiebernd vor Schwielen, die Schultern krustig von grindigem Blut.

 

In sieben Kapiteln taucht Luiz Ruffato ein in das Leben und das Innenleben unterschiedlicher Akteure, springt zurück in die dokumentarische Form und wechselt urplötzlich, manchmal mitten im Satz, die Erzählperspektive. »Mama, es geht mir gut« ist kein linear erzählter Roman, sondern eine wohldurchdachte Komposition von Fragmenten, die Ruffato selbst als »literarische Installation« bezeichnet. Es gibt keine zwingende Struktur und keine oder nur zufällige inhaltliche Bezüge zwischen den Episoden, die man in beliebiger Reihenfolge lesen kann..

In der Episode »Wassermann« schildert Ruffato ein Gespräch zwischen Mutter und Sohn im Auto über den Tod des brutalen Vaters. Carlos, der Sohn, hat die Familie als Jugendlicher verlassen und ist nach São Paolo gezogen. Doch glücklich ist er auch in seinem neuen Leben nicht, von den Fesseln der Vergangenheit kann er sich nicht befreien. Als irgendwann doch alles gut zu werden scheint – er eine Frau, ein Kind, ein Haus und einen Beruf hat – verlässt er seine Familie.

 

Eines Sonntags, nach einem dieser nicht enden wollenden Grillfeste bei Senhor Domingos, erwachte ich, schaute Mariana an, die so jung war und so hübsch, und beschloss, ihr eine zweite Chance zu geben. War es richtig, dass sie die besten Jahre ihrer Jugend an meine komplette Unfähigkeit verschwendete? Wäre es nicht besser für sie, könnte sie es noch einmal versuchen?, einen idealen Partner finden, der sie verstand, der seine Finger mit ihren verschränkte und, wer weiß, gemeinsam mit ihr einen Schutz gegen alle Unbilden baute … Und ich? Was mache ich da?, verloren in Santo André, Dreizimmer mit Küche und Bad, kleines Gärtchen hinter dem Haus? Würde der Junge, der ruhig in seiner Wiege schlief, in mir seinen Vater erkennen? Würde er an mir bewundern, was seine Mutter an mir hasste? (…)

Ich stand auf, nahm den Zug und die Nacht erschrak sich vor mir betrunken zusammengesunken auf einem Tisch einer Bar in der Avenida Rio Branco, São Paulo.

 

Im Kapitel »Ende« entflieht der Schwarze Jair der Gesellschaft nach der Ära der Sklavenhalter der Provinz, doch findet er sich wieder verloren in der Großstadt, die Söhne ohne Zukunft und er ohne Hoffnung. Nun liegt er auf dem Sterbebett:

 

Der Pastor ließ die Gruppe gehen und zog einen Stuhl neben das Bett. Jair flüsterte, Schweißperlen auf der Stirn: Pastor, dieser Schmerz … dieser Schmerz sind die Toten …. meine Toten … die in mir faulen …. erschrocken fuhr der Pastor zurück, doch Jairs eiserner Griff hielt ihn zurück. Pastor Gott Gott ist nicht Liebe Ist Rache Bestrafung.

 

Ruffatos Episoden sind düster, oft rätselhaft und doch von einer erstaunlichen Tiefe.

Für den brasilianischen Schriftsteller bedarf das komplexe Leben der einfachen Menschen ausgewählter Stilmittel, welche die Vielschichtigkeit und Uneindeutigkeit ihrer inneren Zustände und ihrer Umwelt angemessen zum Ausdruck bringen. Auf vielfältige Weise zeigen seine Geschichten so ein Brasilien, das ganz anders ist als das Land, das wir aus den Medien zu kennen glauben. Ein Brasilien voller Konflikte, jenseits des Aufstiegs zur neu­­en Supermacht. Ein Land der Modernisierung, die das Versprechen der Gleichheit aller Menschen bis heute nicht einlöst. Erlöst wird keine von Ruffatos Figuren. Vielleicht hängt diese Melancholie auch mit seinem eigenen Leben und der glücklichen Wendung in seiner Jugend zusammen, die ihm Bildung und Aufstieg ermöglicht haben. Aber der Autor scheint dieser Fügung des Schicksals wohl selber immer noch nicht zu trauen. Er wache, heißt es, noch heute jeden Morgen mit der Angst auf, dieser Traum könne plötzlich zu Ende sein.

 

Das war eine Besprechung von ,,Mama, es geht mir gut“ des brasilianischen Schriftstellers Luiz Ruffato. Das Buch ist wie alle deutschen Übersetzungen seiner Werke beim Verlag Assoziation A erschienen. Es hat 160 Seiten und kostet 18 Euro. Übrigens, Luiz Ruffato ist gerade auf Lesereise in Deutschland. Wer sich beeilt, kann ihn am 30. Oktober in Frankfurt am Main sehen und hören. Mehr Termine und Infos über den Autor findet ihr auf der Webseite des Verlags: www.assoziation-a.de

 

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