„Wie sich die Welt dreht und wie wir uns in ihr bewegen“

(Berlin, 20. Mai 2021, npla).- Die flache und trocken-heiße Dornbuschsavanne der Provinz Chaco im Norden Argentiniens erscheint endlos. Heute wird sie von wenigen schnurgeraden Teerstraßen und zahllosen Erdpisten durchquert, auf denen hin und wieder Pickups, Motorroller oder schwer beladene LKWs vorbei rauschen. Die Landschaft ist geprägt von den langen Dürreperioden, dem aufgewirbelten Sandboden und den mit Zäunen abgesteckten, riesigen Sojafeldern. In den noch übrig gebliebenen Urwäldern leben nur noch wenige Menschen. Viele von ihnen Indigene der Wichí, Mocovie und Qom, die manchmal auch Toba genannt werden.

Der Glaube an übernatürliche Wesen ist in indigener Kosmovision noch heute präsent

„Ich heiße Leandro und ich bin Lehrer für interkulturelle und bilinguale Bildung“ sagt der junge Qom-Indigene in einem Video der ökumenischen Junta Unida de Misiones (JUM) aus Juan Jose Castelli im Chaco. Die Organisation unterstützt seit mehr als 50 Jahren die Belange der indigenen Gruppen der Region. Eines ihrer Arbeitsfelder ist es heute, indigene Jugendliche dabei zu begleiten, sich mit ihrer Kosmovision, ihrer kulturell eigenen Sicht auf die Welt, zu beschäftigen. Leandro erklärt, was das bedeutet: „Unsere Kosmovision ist verbunden mit gewissen Vorstellungen, unserem Territorium und der Mutter Erde. Das Besondere unserer Sichtweise ist, dass wir an die Existenz von bestimmten Wesen glauben, wie den Eigentümer des Waldes, den Eigentümer des Wassers oder zum Beispiel die Mutter der Schlangen.“

Von den Fischen des Rio Bermejo und den Pflanzen und Tieren des sogenannten „Monte Impenetrable“, des „undurchdringlichen Waldes“, ernährten sich die indigenen Gruppen des Chaco schon lange, bevor die europäischen Kolonialisten die amerikanischen Kontinente betraten.

Im Jahr 1810 war die Hälfte des Landes noch unter Kontrolle indigener Gruppen

„Zu den Pueblos Indígenas zu gehören, sollte heute nicht mehr Synonym für Armut oder eine entwertete Person sein. Heute müssen wir als Jugendliche daher viel über unsere eigene Geschichte der Vertreibung wissen, die unsere Kultur zur Zeit der Gründung des argentinischen Staates erlebt hat. Wir müssen erkennen, dass der eigene Staat uns damals schikaniert und uns unsere Territorien geraubt hat. Trotzdem dürfen wir unsere eigene Identität nicht verlieren.“

Nach der Ankunft der ersten europäische Siedlergruppe im 16. Jahrhundert intensivierten diese ihre Eroberungsfeldzüge in die fruchtbaren Pampas im Norden und die Araukania im Süden Argentiniens. Zu dieser Zeit gelangten sie nur selten bis in den noch nicht erkundeten und durch die harten Lebensbedingungen für sie weniger interessanten Chaco, etwa 1000 km nördlich ihrer Buenos Aires genannten Siedlung. Noch im Jahr der Unabhängigkeit Argentiniens von der spanischen Krone im Jahr 1810 war die Hälfte des Landes unter Kontrolle indigener Gruppen. In den ersten bedeutsamen nationalen Schriften wurden indigene und afroargentinische Kulturen mit Wildnis, Rohheit, Primitivität und rückschrittlichem Landleben gleichgesetzt. In einer „zivilisierten“ und „fortschrittlichen“ Nation nach dem Vorbild Europas hatten sie keinen Platz mehr.

Rassistische Denkweisen legitimierte Kriege gegen Indigene

So schrieb etwa der erste Präsident Argentiniens, Domingo Sarmiento im Jahr 1874: „Die amerikanischen Rassen leben in der unendlichen Faulheit und sind sogar trotz Zwang unfähig, sich mit einer harten und regelmäßigen Arbeit zu beschäftigen. Das hat die Idee aufgeworfen, Schwarze einzuführen, was eine ebenso fatale Situation hervorgerufen hat.“ Einflussreiche Institutionen, wie der bewaffnete Landbesitzerverband „La Sociedad Rural“ oder die mächtige Tageszeitung „La Nación“ legitimierten mit solchen stereotypen Vorstellungen blutige Feldzüge, z.B. in den Chaco. Verharmlosend als „Expeditionen in die Wüste“ bezeichnet, wurden dabei zahllose Indigene getötet oder gefangen genommen.

Diese historischen Ereignisse werden in vielen Schulen des Landes bis heute wenig gelehrt, weshalb viele Menschen von ihr nichts wissen oder nichts wissen wollen. In dem Projekt „Juventudes“ der eingangs erwähnten Organisation JUM aber, wird diese düstere Seite der Geschichte mit indigenen Jugendlichen besprochen. Der junge Qom Leandro hebt hervor, dass diese Auseinandersetzung daher besonders wichtig ist, um das Selbstbewusstsein junger Menschen zu stärken, die bis heute unter rassistischer Diskriminierung leiden.„Das niedrige Selbstwertgefühl vieler indigener Jugendlicher ist ein Resultat der täglichen Diskriminierungen, die sie im schulischen oder sozialen Umfeld, zum Beispiel in Diskotheken abbekommen. Solche Erfahrungen schwächen den Geist und das Nachdenken der jungen Menschen.“

Eingliederung indigener Gruppen ins kapitalistische Wirtschaftssystem erfolgte mit Gewalt

Die tiefer im Inneren der Wälder lebenden indigenen Gemeinschaften setzten sich zwar lange erfolgreich gegen die militärischen Vorstöße in ihre Gebiete zur wehr, doch angesichts der militärischen Übermacht wurden schließlich viele ihrer Mitglieder getötet oder enteignet und mit Gewalt zu unterbezahlter Arbeit gezwungen: gegen Essensgutscheine wurden sie zur Abholzung von Wäldern für wertvolles Tropenholzes oder zur Ernte auf den Baumwollfeldern gedrängt. Die Ländereien wurden mit Zäunen abgesteckt – was der Kosmovision der indigenen Gruppen grundsätzlich widerspricht. Im Jahr 1924 kam es mit dem Massaker von Napalpí zu einem schrecklichen Tiefpunkt der sogenannten „Conquista del Chaco“, bei dem hunderte indigene Baumwollpflücker*innen getötet wurden.

Leandro: „Die Weitergabe des Wissens über unsere eigene Kultur ist durch unseren Kontakt mit den anderen Kulturen gewissermaßen verloren gegangen. Durch die Abwertung uns gegenüber und durch die historischen Taten die sich vor vielen Jahren ereigneten. Und weil wir innerhalb einer Kultur überleben mussten, in der indigen zu sein bedeutete, in Armut zu leben und diskriminiert zu werden.“ Die schwierigen Lebensbedingungen im wasserarmen Chaco werden seit den 1960er Jahren durch die Abholzung der Wälder des Chaco weiter verschärft, die das Land lediglich für das Agrarbusiness nutzbar macht und das Waldökosystem zerstört. Die Baumwollernte und der zunehmende Sojaanbau benötigen viel Wasser und kommen mit Maschinen, ohne die Arbeitskraft der Landbevölkerung aus. So sind seither viele Menschen gezwungen, in Städte zu ziehen.

Noch heute werden als nicht-weiß/nicht-europäisch gelesene Personen diskriminiert

In den Städten des Chaco leben Indigene in direkter Nachbarschaft mit Nachfahren italienischer, polnischer oder deutscher Einwanderer*innen. Die verschiedenen Gruppen verbinden heute zum Teil enge und solidarische Freundschaften sowie gegenseitige Wertschätzung. Familien mit gleichermaßen indigenen und europäischen Vorfahren werden „Criollos“ – Kreolen genannt. Doch noch heute kommt es vielerorts zu Diskriminierungen von Personen, die als indigen oder criollo, also als nicht-weiß bzw. nicht-europäischstämmig gelesen werden.

Junge Vorbilder, wie der Lehrer Leandro zeigen, was es heute heißt im Chaco Nachfahre von Indigenen zu sein. Nämlich dass es vor Allem eine Frage des Denkens und damit des Zugangs zu Wissens über die oft verdrängte Geschichte und bis heute existente indigene Kultur ist. „Denjenigen, die aus irgendeinem Grund ihre Sprache verlernt haben oder die Sprache nicht sprechen, sollten sich trotzdem als Indigene fühlen. Es ist nicht wichtig eine Sprache zu sprechen, sondern es gibt bestimmte andere Charakteristiken, an denen jemand seine Indigenität entdecken kann. Das ist die Art zu Denken. Die Art und Weise zu bemerken wie sich die Welt dreht und wie wir uns in ihr bewegen.“

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