Haiti: Das lukrative Geschäft des Wiederaufbaus

von Otramérica

(Fortaleza, 18. Januar 2012, adital).- Die Art und Weise, wie die Zusammenarbeit in Haiti seit dem Erdbeben umgesetzt wird, ist ein Skandal. Trotz der fehlenden Transparenz in der Verwaltung geleingt es einer neuen Untersuchung eine Verflechtung aus privaten Geschäften, kolonialen Praktiken, mangelnder Effizienz und Diskriminierung nachzuweisen. Eine Katastrophe ist demnach eine „gute Gelegenheit“ dafür, Geschäfte zu machen.

Der langsame Weg in Richtung Wiederaufbau

Die NGO Intermon Oxfam kritisiert in ihrem Bericht „Haiti: The Slow Road to Reconstruction – Two Years after the Earthquake“ (1), dass auch zwei Jahre nach dem Erdbeben „ noch mehr als 519.000 Menschen in 758 Notlagern unter Zelten und Planen leben. Die Hälfte der Trümmer ist noch immer nicht weggeräumt und die Choleraepidemie hat tausenden Menschen das Leben gekostet und stellt eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Gesundheit dar. Wenige Menschen in Haiti haben Zugang zur Grundversorgung; die Mehrheit der erwerbsfähigen Bevölkerung ist arbeitslos oder unterbeschäftigt und 45 Prozent der Haitianer sind von fehlender Ernährungssicherheit betroffen. Zudem wurden Fortschritte im Wiederaufbau des Landes durch die Wahlen und die darauf folgende politische Konfrontation zwischen dem gewählten Präsidenten und dem Parlament, verhindert“. Aus Meldungen zum Erscheinen des Oxfam-Berichts geht hervor, dass die NGO aus dem globalen Norden darin erklärt, dass die Wahlen des vergangenen Jahres und die darauf folgenden Auseinandersetzungen zwischen Parlament und Präsident „den Wiederaufbau verhinderten“. Nun aber sei es an der Zeit, die verlorenen Monate nachzuholen und dabei alle Sektoren einzuschließen.

Koloniale Perspektive

Das heißt, letzten Endes liegt die Schuld bei den Haitianer*innen. Allerdings zeichnet sich Oxfams Bericht durch ein – sei es bewusst oder unbewusst – entscheidendes Versäumnis aus, oder – was noch schlimmer wäre – durch eine unverzeihliche koloniale Haltung. Die NGO betont zwar, dass sieben von zehn Dollar, die ins Land fließen, aus der internationalen Zusammenarbeit stammen. Sie weist jedoch nicht darauf hin, dass neun von zehn US-Dollar aus diesen Quellen von ausländischen NGOs, staatlichen Organisationen oder privaten Unternehmen verwaltet werden. So wird lediglich ein ganz geringer Betrag der ins Land fließenden 3.600 Mio. US-Dollar von der haitianischen Regierung und inländischen Organisationen verwaltet (wenn die humanitäre Hilfe und die Hilfe zum Wiederaufbau dieser zwei Jahre zusammenaddiert werden). Oxfam verschweigt auch, dass seit Januar 2010 insgesamt 1.556 Mio. Dollar zur Zahlung der umstrittenen UN-Stabilisierungsmission Haitis ausgegeben wurden.

Wo die Spendengelder hinflossen – und wohin nicht

Für einen genaueren Blick auf die Realität greifen wir auf den Artikel von Bill Quigley und Amber Ramanauskas, „Haiti: Seven Places Where the Earthquake Money Did and Did Not Go“ (2) zurück, der am 5. Januar 2012 in spanischer Übersetzung in Bahía Noticias unter dem Titel „Siete lugares a donde fue y no fue el dinero del terremoto“ (3) erschienen ist. Der Artikel fasst die wichtigsten Untersuchungsergebnisse darüber zusammen, wohin die Spendengelder für Haiti geflossen sind. Im Folgenden einige aufschlussreiche Erkenntnisse aus dem Artikel:

Der größte individuelle Empfänger der Spendengelder aus den USA war die US-Regierung selbst. Dasselbe gilt auch für die Spendengelder anderer Länder. Unmittelbar nach dem Erdbeben, versprachen die USA 379 Mio. US-Dollar an Hilfsmitteln und sandten Truppen von etwa 5.000 Soldaten nach Haiti. Die Nachrichtenagentur Associated Press fand allerdings heraus, dass ein Großteil der anfänglich versprochenen 379 Mio. US-Dollar nicht direkt nach Haiti ging und in einigen Fällen nicht einmal indirekt.

Im Januar 2010 konnte belegt werden, dass 33 Cent eines jeden US-Dollars, der für Haiti bestimmt war, direkt zurück in die USA flossen. 42 Cent pro US-Dollar gingen an private und öffentliche nicht staatliche Organisationen, wie „Save the Children“, das UN-Welternährungsprogramm und die Panamerikanische Gesundheitsorganisation (Organización Panamericana de la Salud).

Der UN-Sonderberichterstatter für Haiti erklärte, dass von den 2,4 Mrd. US-Dollar für humanitäre Hilfe rund 34 Prozent zur Katastrophenbewältigung an die jeweiligen zivilen und militärischen Einrichtungen zurückgezahlt wurden, die diese zuvor gespendet hatten. Etwa 28 Prozent gingen an die Behörden der Vereinten Nationen und an nicht staatliche Organisationen zur Durchführung bestimmter UN-Projekte und 26 Prozent wurden privaten Auftragsnehmer*innen und anderen NGOs ausgehändigt. Sechs Prozent wurden den Berechtigten in Naturalien zugewiesen und fünf Prozent der internationalen Gemeinschaft und den nationalen Gesellschaften des Roten Kreuzes. Ein Prozent wurde der Regierung Haitis überlassen und gerade einmal 0,4 Prozent der Gelder gingen an Nichtregierungsorganisationen aus Haiti.

Das Zentrum für Wirtschaftliche und Politische Forschung, die beste Quelle für exakte Informationen zum Thema, analysierte alle 1.490 Verträge, die von der US-Regierung seit dem Erdbeben im Januar 2010 bis April 2011 abgewickelt wurden. Dabei stellte sich heraus, dass nur 23 der Verträge zugunsten haitianischer Firmen abgeschlossen wurden.

Das Amerikanische Rote Kreuz erhielt mehr als 486 Mio. US-Dollar Spendengelder für Haiti. Davon sollen zwei Drittel in Hilfseinsätze und den Wiederaufbau investiert worden sein, genaue Daten sind jedoch nur schwer zugänglich. Die Vorstandsvorsitzende des Amerikanischen Roten Kreuz verzeichnet im Übrigen ein jährliches Gehalt von mehr als 500.000 US-Dollar. Zwischen der US-Behörde für internationale Entwicklung USAID und dem privaten Unternehmen CHF existieren Verträge über die Beseitigung der Trümmer in Port-au-Prince im Wert von 8,6 Mio. US-Dollar. CHF ist ein Unternehmen für internationale Entwicklung, das über gute politische Beziehungen und ein jährliches Budget von mehr als 200 Mio. US-Dollar verfügt. Im Jahr 2009 verdiente der Geschäftsführer der CHF 451.813 US-Dollar.

Die Ex-Präsidenten George W. Bush und Bill Clinton kündigten am 16. Januar 2010 eine Initiative zur Beschaffung von Finanzmitteln für Haiti an. Im Oktober 2011 hatte der Fonds bereits 54 Mio. US-Dollar an Spendengeldern eingenommen und sich mit verschiedenen haitianischen und internationalen Organisationen zusammengeschlossen. Auch wenn der Großteil der geleisteten Arbeit bewundernswert erscheint, spendete der Fonds auch 2 Mio. US-Dollar für den Bau eines haitianischen Luxushotels im Wert von 29 Mio. US-Dollar.

Lewis Lucke, ein USAID-Hilfskoordinator hohen Ranges, machte sich die Katastrophe zu Nutze und traf sich unmittelbar nach dem Erdbeben zweimal in seiner Eigenschaft als USAID-Vertreter mit dem haitianischen Premierminister. Daraufhin legte er sein Amt bei der USAID nieder und wurde vom Unternehmen Ashbritt mit Sitz in Florida und einem florierenden Geschäftspartner des Unternehmens in Haiti für 30.000 US-Dollar monatlich unter Vertrag genommen. Für das Partnerunternehmen betreibt Lucke Lobbyarbeit zu Gunsten von Verträgen im Bereich der Katastrophenhilfe. (Ashbritt ist bekannt dafür, von umfangreichen Verträgen profitiert zu haben, die im Zusammenhang mit dem Wirbelsturm Katrina ohne Ausschreibung vergeben wurden.) An Ashbritt und dessen haitianische Geschäftspartner wurde bereits zuvor 10 Mio. US-Dollar ohne öffentliche Ausschreibung vergeben. Luckes eigenen Angaben zufolge war er entscheidend daran beteiligt, dass ein weiterer 10 Mio. US-Dollar schwerer Vertrag der Weltbank sowie ein kleinerer von CHF International gewonnen werden konnte.

Fast zwei Jahre nach dem Erdbeben haben USAID und das Außenministerium der Vereinigten Staaten weniger als ein Prozent der 412 Mio. US-Dollar aus US-Fonds, die speziell für den Wiederaufbau der Infrastruktur Haitis bestimmt waren, ausgegeben. Laut einem Bericht des überparteilichen US-Rechnungshofes GAO (Government Accountability Office) des US-Kongresses wären sogar mindestens Ausgaben von 12 Prozent verpflichtend gewesen.

Die Tageszeitung Miami Herald wies darauf hin, dass seit Juli 2011 von den Projekten, die die Provisorische Kommission für den Wiederaufbau Haitis CIRH (Commission Intérimaire pour la Reconstruction d’Haïti) gebilligt und mit 3,2 Milliarden Dollar veranschlagt hatte, nur fünf Projekte tatsächlich durchgeführt wurden. Die Gesamtkosten dieser fünf Projekte belief sich auf 84 Mio. US-Dollar. Die CIRH, die seit Beginn von den Haitianer*innen und anderen Beobachter*innen stark kritisiert wurde, ist momentan praktisch aufgehoben, da ihr Mandat Ende Oktober 2011 endete. Im März 2010 wurde außerdem der internationale Wiederaufbaufonds für Haiti HRF (Haiti Reconstruction Fund) gegründet, der mit der CIRH zusammenarbeiten sollte. Solange die Arbeit der CIRH eingestellt ist, bleibt jedoch unklar, wie es mit dem HRF weitergehen soll.

Quelle: http://otramerica.com/especiales/haiti-el-terremoto-colonial/el-buen-negocio-de-reconstruir-haiti/1225

Anmerkungen:

(1) Bericht unter: http://www.oxfam.de/publikationen/haiti-2012

(2) Artikel im Original: https://www.commondreams.org/view/2012/01/03-2

(3) Artikel in spanischer Übersetzung: http://bahianoticias.com/haiti-siete-lugares-a-donde-fue-y-no-fue-el-dinero-del-terremoto/46163/

 

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