Die würdige Tänzerin

 Von Wolf-Dieter Vogel

(Berlin, 20. Dezember 2016, npl).- In ihrer Kindheit wurde die spastisch gelähmte Kubanerin Yanel Barbeito in der DDR behandelt, heute tritt sie im Tanztheater auf. Doch die Situation von Menschen mit Behinderungen ist auf der Insel weiterhin schwierig.

Sechs Stunden Probe am Tag

Anfang Mai 2016 auf dem Gelände der Kölner Wachsfabrik: Es sind die ersten sonnigen Tage des Jahres, doch den Tänzerinnen und Tänzern bleibt keine Zeit für Kaffeepausen im Schatten der Bäume auf dem Hof. Nur wenige Tage fehlen bis zur Premiere von „UpDATING YOU“ und noch immer stimmen einige Schritte nicht. Yanel Barbeito springt auf die Bühne und tanzt mit einem jungen Mann im Rollstuhl.

Sechs Stunden Probe am Tag, eine unglaubliche Anstrengung für eine Frau, die ihre Arme und Beine nur eingeschränkt bewegen kann. Trotzdem ist die Kubanerin zufrieden. Denn mit der Kölner DINA13-Tanzcompany macht die 44-Jährige völlig neue Erfahrungen: „Ich habe mein ganzes Leben mit normalen Tänzerinnen gearbeitet. Nun gut, normal sind wir alle. Ich meine, ich war nie mit Menschen auf der Bühne, die ebenfalls besondere körperliche Eigenschaften hatten und sich anders bewegten als die Mehrheit“, sagt sie.

Medizinische Behandlung in der DDR

Yanel Barbeito kniet auf dem Boden, springt auf, wirft die Hände nach oben und lässt sich wieder fallen. Wer der Kubanerin zusieht, glaubt nicht, dass sie in ihren ersten Lebensjahren weder laufen noch sprechen konnte. Es hatte damals ein paar Sekunden zu lange gedauert, bis sie auf die Welt kam. Das führte kurzzeitig zur Lähmung des Gehirns. Die Mediziner*innen nennen das infantile Zerebralparese, doch Yanel Barbeito hat ihre eigene Erklärung: „Ich habe mich im Bauch meiner Mutter versteckt, weil ich einfach nicht sehen wollte, was in der Gesellschaft passiert. Ich wollte nicht geboren werden.“

Das Sprechen kostet sie noch immer Kraft. Doch hätten ihre Eltern sie nicht mit sieben Jahren zur Behandlung in die DDR geschickt, könnte man die Künstlerin heute nicht im modernen Tanztheater bewundern. Die Ärzte im Krankenhaus Berlin-Buch setzten auf eine spezielle Behandlung. „Sie  wollten, dass wir Kinder durch künstlerische Aktivitäten genesen. Also bekam ich Malunterricht“, erinnert sie sich. Aber das habe sie so gelangweilt, dass sie fast mit dem Pinsel eingeschlafen sei. Dann ging sie in den Chor, doch sie konnte nicht singen. Daraufhin lernte sie Theaterspielen. „Das ging schon besser, gefiel mir aber nicht“, erzählt sie. Dann schlug der Arzt vor, es mit Tanzen zu versuchen. „Dabei bin ich geblieben.“

Sich zeigen und Hilfe annehmen

Das war 1978. Vier Jahre später kehrte sie nach Havanna zurück. Dort begann für die noch kleine Yanel eine große Karriere als Tänzerin und Choreographin im kubanischen Fernsehballett. Ihr Selbstbewusstsein verdanke sie aber nicht nur der außergewöhnlichen Therapie, betont Barbeito: „Viele Kinder wie ich gingen in Kuba nicht auf die Straße. Sie nahmen keinen Bus. Es kostet sie immer noch viel Überwindung, um Unterstützung beim Einsteigen zu bitten. Ich akzeptiere die Hilfe. Die Deutschen haben mich gelehrt, Hilfe anzunehmen.“

Ob das heute anders ist? Ein wenig, sagt sie. Damals habe es im künstlerischen Leben nur eine gegeben, die körperlich behindert war: Sie. Inzwischen gebe es mehr gehandikapte Künstler*innen. So habe sie erst jüngst ein zehnjähriges Mädchen gesehen, das keine Arme hatte und dennoch tanzte. „Ohne Arme, das ist unglaublich.“ Dann verweist sie auf eine Gruppe namens „Soldidarid con Panamá“, in der Rollstuhlfahrer tanzten.

Insgesamt leben 367.000 Menschen mit Behinderungen in Kuba, etwa drei Prozent der Bevölkerung. Ein Teil von ihnen kann auf die Unterstützung regierungsnaher Organisationen bauen. Viel Geld kann der Staat jedoch nicht aufbringen, erklärt Mabel Ballesteros Lopez von der Hilfsorganisation ACLIFIM: „Krücken, Rollstühle oder spezielle Sitze für Kinder mit infantiler Zerebralparese und andere Instrumente, die das Leben von Menschen mit Behinderungen verbessern, sind sehr teuer. Wir können sie nicht kaufen“, sagt sie.

Kuba: Selbstorganisation von Menschen mit Behinderung ist schwierig

Sicher tue der Staat viel, um Medikamente zu besorgen. Doch durch die weiter existierende US-Wirtschaftsblockade sei es sehr schwierig, an spezielle Geräte zu kommen, die Menschen mit Behinderungen brauchen. „Für die Gleichberechtigung und Inklusion von Behinderten hat die Wirtschaftsblockade sehr negative Auswirkungen“, resümiert sie.

Andere werfen der kubanischen Regierung schwere Versäumnisse vor. So etwa die Gruppe Cubalex. Sie ist 2014 vor die Interamerikanische Menschenrechtskommission gezogen, um auf die schwierige Lage von Behinderten auf der Insel aufmerksam zu machen. „Im kubanischen Rechtssystem gibt es kein spezielles Gesetz, das die Rechte und den Schutz von Menschen mit Behinderungen regelt“, kritisiert die Cubalex-Vertreterin Yaremis Flores. Außerdem würden sich die Medien viel zu wenig mit dem Thema beschäftigen. Das führe dazu, dass die Bevölkerung nichts über die internationalen Verpflichtungen wisse, die Kuba eingegangen ist.

Seit 2013 gebe es einen nationalen Plan zur Verbesserung der Lage von Behinderten, erklärt Flores. Doch der habe zunächst keine Auswirkungen gehabt. Flores kritisiert die rechtliche Situation: „Die Verfassung garantiert zwar, dass sich Menschen mit Behinderungen organisieren dürfen. Trotzdem verbietet die kubanische Regierung, neue Gruppen oder NGOs zu gründen, mit dem Vorwand, diese hätten die gleichen Ziele wie bereits existierende Organisationen oder staatliche Einrichtungen.“ Auch Cubalex muss illegal arbeiten. Die Gruppe darf deshalb niemanden juristisch vertreten und bekommt von den Behörden keine Informationen. Viele Gehandikapte kommen dadurch nicht zu ihrem Recht, denn nur, wer an  eine anerkannte Organisation angebunden ist, kann auf staatliche Unterstützung zählen.

„Etwas leben, was ich in Kuba nicht gelebt habe“

Yanel Barbeito hat sich trotz der schwierigen Bedingungen durchgeschlagen. Der Zufall wollte, dass sie nun auf einer deutschen Bühne steht. Ein Kinderfreund aus den Tagen in Berlin-Buch hatte sie und ihren Mann eingeladen. Es sollte ein Urlaub werden, doch die beiden sind geblieben. Dann kam das erfolgreiche Casting bei der Kölner DIN-13-Tanzcompany, und dann dieses Stück, das sich mit Porno-Portalen, digitaler Manipulation und Abhängigkeiten vom weltweiten Netz beschäftigt. Eine ungewöhnliche Herausforderung, denn in Barbeitos Heimat ist das Internet sehr eingeschränkt zugänglich. „Updating you` heißt ja: ,aktualisiere dich`. Für mich bedeutet das, etwas zu leben, was ich in Kuba nicht gelebt habe. Ich aktualisiere mich. Ich bin die Yanel, die ich seit Langem sein will und nicht sein konnte.“

Dortmund, Berlin, Bonn. Und zum Abschluss wieder Köln. Updating you wurde in einigen deutschen Städten gespielt – und mit Erfolg. Nach dem letzten Auftritt im November sind die beiden zu Freunden nach Spanien gereist, wo sie derzeit leben. Wie es weitergeht? „Ich möchte noch mehr lernen“ sagt Yanel. Obwohl sie ihre Heimat liebe, so die Lebenskünstlerin, werde sie wohl nicht so bald nach Kuba zurückkehren.

Zu diesem Artikel gibt es auch einen Audiobeitrag, den ihr hier anhören könnt.

 

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