Die kontroverse Realität der FARC

von Jenny Manrique

(Lima, 22. Juni 2012, noticias aliadas).- Ist die Guerilla der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) nach einem Jahrzehnt permanenter Angriffe durch militärische Streitkräfte an einem Tiefpunkt angelangt? Sicherheitsexperten sind sich einig, dass die gewählte Strategie zu einer Schwächung der ältesten Guerilla des Kontinents geführt habe; dennoch ist sie in der Lage, sich zu regenerieren und Anschläge größeren Ausmaßes durchzuführen.

In den Jahren seit 2008 hat die Führung der FARC schwere Verluste erlitten. Im Januar jenen Jahres starb einer der führenden Köpfe der Organisation, Raúl Reyes (alias Luis Edgar Devia Silva), während eines Bombenangriffs des kolumbianischen Militärs auf ein Lager der Guerilla auf ecuadorianischem Boden, was zu einer diplomatischen Krise zwischen den beiden Ländern führte. Zwei Monate später starb Manuel Marulanda (richtiger Name Pedro Antonio Marín), Anführer und Begründer der FARC, eines natürlichen Todes.

Militärische Tiefschläge gegen Guerilla

Im September 2010 wurde der Militärchef der FARC, Victor Julio Suárez, bekannt als Mono Jojoy, erschossen und im November 2011 starb Marulandas Nachfolger Alfonso Cano (richtiger Name Guillermo León Sáenz Vargas) während einer bewaffneten Aktion. Die Führung der FARC wurde daraufhin durch Timochenko (richtiger Name Rodrigo Londoño Echeverri) besetzt.

Auch die Operation Jaque, die im Juli 2008 zur Befreiung der ehemaligen Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt, sowie von elf kolumbianischen Soldaten und drei US-Amerikanern führte, war ein herber Schlag für die bewaffnete Gruppe.

Trotzdem haben die Aktivitäten der FARC gegen die Sicherheitskräfte nicht nachgelassen. Laut einem kürzlich erschienenen Bericht der Nichtregierungsorganisation „Sicherheit und Demokratie“ (Seguridad y Democracia) war das erste Drittel des Jahres 2012 das gewalttätigste seit fünf Jahren. Demnach gab es in nur 90 Tagen 98 Angriffe auf die Polizeikräfte, die in Kolumbien ihre Wachen in den Ortszentren haben, was bei den Attentaten auch zu zivilen Opfern führte.

Allein Ende Mai geriet das kolumbianische Militär an der Grenze zu Venezuela in einen Hinterhalt der FARC. Zwölf Soldaten starben, woraufhin sich der venezolanische Präsident Hugo Chávez gezwungen sah, zwei Militärbrigaden dorthin zu schicken.

“Plan Wiedergeburt”

Autobomben, Mörser und andere Sprengstoffe sind die Mittel einer Guerilla, “die sich umstrukturieren musste, nachdem ihre operativen Möglichkeiten in der Ära [des Ex-Präsidenten] Uribe [2002-2010] eingeschränkt worden sind.” Das erklärte der Experte Carlos Medina Gallego von der Kolumbianischen Nationaluniversität in einem Gespräch mit Noticias Aliadas. “Die FARC haben ihre Strategie wiederbelebt, mit einem Druck der zeigt, dass die Mechanik des Krieges unverändert ist”, so Medina weiter. Die Armee bezeichnet das als “Plan Wiedergeburt” der FARC.

Nariño, Cauca, Putumayo und Caquetá sind die Departments, in denen die FARC militärisch stark waren – und nach Ansicht des Verteidigungsministeriums sind dies weiterhin die Gebiete, in denen die meisten Kämpfe stattfinden und wo die Guerillakommandanten ihre Rückzugsräume haben.

So ist es kein Zufall, dass in eben diesem Department Caquetá, in der Gemeinde Montañitas, der französische Journalist Romeo Langlois am 30. Mai freigelassen worden ist. Die FARC nutzten diese Freilassung politisch aus, um vor den Bewohner*innen auf öffentlicher Bühne ein Kommuniqué anlässlich ihres 48. Jahrestages zu verlesen. Im Gegensatz zu vorhergegangenen Freilassungen wurde der Journalist diesmal von hundert Guerillakämpfer*innen bis ins Ortszentrum geleitet, wo diese sich dann unter die Zivilbevölkerung mischten.

Angriffe auf Infrastruktur

Auch in anderen nordöstlichen Regionen wie Magdalena Medio, sowie Catatumbo und Arauca an der Grenze zu Venezuela geht der Kampf der FARC und der ELN (Ejército de Liberación Nacional), der zweitgrößten Guerilla des Landes, um die Kontrolle der Drogenrouten weiter. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums haben Angriffe auf die Infrastruktur der Ölindustrie zwischen September 2011 und Februar 2012 zu 76 Angriffen auf die Pipeline Limón-Coveñas im Norden Kolumbiens geführt. Die Guerilla könne angreifen und sich dann auf venezolanischem Gebiet verstecken, so das Ministerium, was eine effektive Verfolgung erschwere.

Der Vorsitzende der Stiftung Sicherheit und Demokratie (Fundación Seguridad y Democracia), Alfredo Rangel, stößt ins selbe Horn: “Dass Chávez und [der kolumbianische Präsident] Santos wieder diplomatische Beziehungen aufgenommen haben bedeutet nicht, dass es in Venezuela keine (Guerilla-)Camps gebe und sich keine FARC-Kommandanten wie Timochenko dorthin flüchteten.”

Laut Ariel Ávila, Sicherheitsexperte der Nichtregierungsorganisation Nuevo Arcoiris, hätten die Aktionen der FARC in diesem Jahr einen größeren medialen Effekt erzielt, was jedoch nicht bedeute, dass es diese Aktionen in anderen Jahren nicht gegeben hätte. Auch deshalb schwanken die Angaben über die wahre Stärke der FARC je nach Quelle: Die Zahl der Kämpfer*innen wird zwischen 8.000 (offiziell) und 12.000 geschätzt, die der Fronten und mobilen Einheiten auf 87 (offiziell) bis 92.

Nach Meinung von Rangel, die mit der Regierung Uribe arbeitete (und diese massiv unterstützte und bis heute verteidigt, Anm. d. R.), habe die Fähigkeit der Armee, solche Angriffe zu beantworten, abgenommen – aufgrund der gesunkenen Moral in der Truppe. Dies liege an zwei eingebrachten Gesetzesentwürfen zur Einschränkung der Zuständigkeit der Militärgerichte. Die Regierung Santos hat Initiativen wie das Opfergesetz (Ley de Víctimas) und einen rechtlicher Rahmen für den Frieden vorangebracht, mit denen die Opfer des Konfliktes entschädigt werden sollen und ein übergreifendes Justizmodell eingerichtet werden soll, um einen Dialog mit den aufständischen Gruppen zu ermöglichen. Von Uribe-nahen Kreisen wurden diese Initiativen als “Rückschritt in der Sicherheit” kritisiert, während die Regierung diese als “Fortschritte für die Aussöhnung” bezeichnet.

Wirtschaft der Guerilla

Auch nach der Übergabe der letzten zehn Soldaten im vergangenen April, die sich noch in den Händen der FARC befunden hatten und deren Zusage, keine weiteren Geiseln zwecks Lösegeld mehr zu nehmen, muss angezweifelt werden, ob das die Finanzlage der Guerilla beeinträchtigt. “Die FARC erpressen weiter, doch ihre Haupteinnahmequelle liegt im Drogenhandel und neuerdings auch im illegalen Bergbau, mit dem sie 23 Prozent ihrer Einnahmen bestreiten”, so Ávila, der die Ausbeutung von Öl und Gold als den neuen “Boom” im bewaffneten Konflikt des Landes bezeichnet. Dieses Phänomen lässt sich besonders an der kolumbianischen Pazifikküste beobachten, dessen Hafen in Buenaventura auch die Hauptroute für die Drogen in Richtung USA ist.

Nach Untersuchungen der Organisation Nuevo Arcoiris kostet der monatliche Unterhalt eines Guerillero inklusive Ernährung, Uniformen und Waffen die FARC circa 600 US-Dollar.

Medina ergänzt, die FARC hätten “Parallelwirtschaften”; dort, wo sie noch an der Macht seien, “erheben sie Steuern von der Bevölkerung und investieren diese in Beziehungen, Landwirtschaft und Vieh.” Es gebe Fronten, die finanziell besser gestellt seien als andere. Damit stimmt er mit General Alejandro Navas überein, dem Kommandanten der Streitkräfte. Dieser sagt: “Es gibt sehr arme Fronten, die sich wegen der militärischen Belagerung nicht versorgen können.”

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