Der Chavismus sitzt fest im Sattel, ist aber kein revolutionäres Projekt mehr

von Andreas Behn, Caracas

(Berlin, 04. August 2015, npl).- „Die Menschen werden nicht von den Hügeln, den cerros, herabkommen“, prophezeit Oscar Schemel vom Meinungsforschungsinstitut Hinterlaces. Die cerros sind Synonym für die Armenviertel, die in der venezolanischen Hauptstadt Caracas zumeist an steilen Berghängen liegen. Und das ‘Herunterkommen’ der Armen beschreibt die Ur-Angst der reichen Minderheit um ihre Privilegien. „Nein, die Armen sind schon vor langer Zeit herabgekommen“, fährt Schemel überzeugt fort. „Und sie haben nicht vor, wieder zu gehen.“

Wahlen im Dezember: Selbstherrliche Regierung dürfte Denkzettel erhalten

Die These dieses bekannten Meinungsforschers steht im Widerspruch zum weltweiten medialen Mainstream, der angesichts der heftigen Wirtschaftskrise das baldige Ende der sozialistischen Regierung von Nicolás Maduro und damit gleich des Chavismus als solchem voraussagt. Auch sein Institut Hinterlaces sagt der Opposition einen Sieg bei den Parlamentswahlen im Dezember voraus.

Doch diese Mehrheit kommt nicht durch überzeugte konservative Wähler*innen zustande, sondern aufgrund von Proteststimmen, die der selbstherrlichen Regierung einen Denkzettel verpassen werden. Der Chavismus, der das ölreiche südamerikanische Land in den vergangenen 16 Jahren grundlegend verändert hat und den Bewohner*innen der cerros erstmals eine Teilhabe am wirtschaftlichen wie politischen Leben ermöglichte, ist trotz der aktuellen Probleme noch lange nicht am Ende.

Keine sozialistische Wirtschaftsweise eingeführt

Fraglos, die Zustände in Venezuela sind beklemmend. Es wirkt, als ob die Menschen nur noch ein Thema kennen: Wie der Alltag angesichts der Versorgungskrise halbwegs organisiert werden kann. Die Preise steigen rasant, außer bei den subventionierten Produkten. Wenn diese geliefert werden, bilden sich Schlangen vor den Supermärkten. Viele dieser Güter werden gehortet oder tauchen später zu einem Vielfachen des offiziellen Preises auf dem Schwarzmarkt wieder auf. Oder sie werden, wie das lächerlich billige Benzin, außer Landes geschmuggelt, meist in Richtung Kolumbien. Da auch der Dollarkurs staatlich festgelegt ist, gibt es einen Parallelmarkt, auf dem die Devisen gerade Mal ein Vierzigstel wert sind.

Weder Hugo Chávez bis zu seinem Krebstod 2013 noch Nicolás Maduro haben eine sozialistische Wirtschaftsweise eingeführt. Die Umverteilung wurde meist durch Sozialprogramme und Verstaatlichungen gewährleistet. Kein Wunder, dass Preis- und Wechselkurskontrollen mitten in einer kapitalistischen Wirtschaft nicht funktionieren. Alle, auch die überzeugtesten Chavist*innen, kritisieren die Wirtschaftspolitik und fordern von der Regierung energische Kurskorrekturen.

Korruption innerhalb der Regierungsstrukturen

Aufschlussreich sind nicht die lautstarken Kritiker*innen der rechten Opposition, die alles verteufeln, aber als Alternative nichts Konkretes, also doch nur ein Zurück in die Verhältnisse vor 1999 zu bieten haben. Innerhalb des Chavismus gibt es immer mehr solidarische KritikerInnen, die sich teils als Fraktionen organisieren, teils nur recht fassungslos die jüngsten Entwicklungen hinterfragen. Da geht es nicht nur um eine Analyse der platten, teils peinlichen Staatsmedien, die das gewachsene politische Bewusstsein der Venezolaner*innen bitter unterfordern. Oder um die ersten Folgen des autoritären Gehabes, das immer mehr Menschen davon abhält, offen die Meinung zu sagen. Kritisiert wird auch die Korruption, die längst das Ausmaß einer Ausplünderung der Staatsfinanzen erreicht hat.

Kritisiert werden auch die Profiteure der offiziell niedrigen Preise und Devisenkurse: Wer im Staatsgefüge Zugang zu subventionierten Waren und US-Dollar hat, kann im Schmuggel Gewinnmargen erzielen, gegen die der Drogenhandel mühsam verdientes Geld ist. Es ist zu befürchten, dass Korrupte und Profiteure, zu denen Teile der Parteielite und des Militärs zählen, längst ihre eigenen Wege gehen. Maduro fehlt es womöglich an Macht, die von Vielen geforderten Korrekturen in der Wirtschaftspolitik einzuleiten, schlicht weil einige im Apparat nicht auf ihre illegalen Geschäfte verzichten wollen.

Chavismus könnte venezolanischer Peronismus werden

Die spannende Frage in Venezuela ist also nicht, wann und ob der Chavismus am Ende ist. Nach wie vor ist dank einer desolaten Opposition keine gangbare Alternative in Sicht. Der Chavismus hat nicht nur die politische Kultur und Sprache im Land grundlegend verändert. Er ist in allen Institutionen präsent, ist trotz aktueller Unzufriedenheit populär und wäre auch gegen bewaffnete Umsturzversuche gewappnet.

Der Chavismus sitzt fest im Sattel, doch es ist ein Chavismus, der immer weniger dem ursprünglichen revolutionären Projekt entspricht. Es droht die Gefahr, dass das Soziale in Zukunft nur noch Diskurs ist. Ein argentinischer Chavist sagte gar: Der Chavismus könnte ein venezolanischer Peronismus werden. Unbezwingbar, aber politisch unberechenbar.

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