Der Baguazo und weitere Kurven des Falles (Teil II)

von Roxana Olivera

(Berlin, 07. November 2014, revista ideele-poonal).- Mit diesem Prozess wird nicht versucht, der Wahrheit näher zu kommen. Und die Ursachen der Geschehnisse zu finden. Nichts in diesem Prozess wird auch nur im Entferntesten dazu beitragen, den Kontext und die Gründe dafür zu beleuchten, die zur Blockade des Amazonas und dem Konflikt an sich führten. Genauso wenig ist zu erwarten, dass dabei irgendeine Stellungnahme herauskommt, mit der versucht wird, das Recht auf sozialen Protest einzufordern.

Außerhalb des Gerichts

An dieser Stelle muss daran erinnert werden, dass – als unmittelbare Folge der Proteste im Amazonas – die Regierung von Alan García eine Reihe von Gesetzesdekreten verabschiedete, über die zuvor keine Befragung stattgefunden hatte, die verfassungswidrig waren, das Ökosystem des Regenwalds stark gefährdeten und die territorialen Rechte der indigenen Völker verletzten.

Die Idee dahinter war, die Ausbeutung der Amazonas-Region zu vereinfachen. So, wie es Santiago Manuin veranschaulicht: „Mit diesen Dekreten hätten sie uns unserer Territorien beraubt. Wenn sie uns unserer Territorien berauben, berauben sie uns unseres Rechts auf Leben. Deshalb mussten wir protestieren. Aber: Das haben wir immer auf friedliche Weise getan.“

Bei den Rechten, die Santiago und Roldán sowie die indigenen Völker der Amazonasregion einforderten, handelt es sich um ausdrücklich in internationalen Übereinkünften und Verträgen erklärte und anerkannte Rechte. Die peruanische Regierung war und ist verpflichtet, diese Rechte zu respektieren.

Da die indigenen Völker der Amazonas-Region ihr Überleben und das zukünftiger Generationen gefährdet sahen, organisierten sie ihren Protest und forderten die Rücknahme der umstrittenen Dekrete. Unwillig, den indigenen Forderungen nachzugeben, ordnete die Zentralregierung in Lima die Räumung der Blockade der Überlandverbindung Fernando Belaunde Terry an, welche die unbewaffneten Demontrant*innen just an diesem Tag freiwillig aufgegeben hätten. Doch davon – nicht ein einziges Wort in diesem Prozess.

Es waren Tausende Indigene, die auf der Straße protestierten. Sicher, viele von ihnen trugen Holzspeere bei sich. Allerdings muss man hervorheben, dass deren Gebrauch vor allem symbolischen Charakter trägt und es sich dabei nicht um Kriegsgerät handelt. Dazu Bischof Santiago García de la Rasilla: „Die Lanze ist eine symbolische Angelegenheit. Als ich zum Bischof von Jaén berufen wurde, übergaben mir die Indígenas der Region eine Lanze.“

Der Einsatz

Die Polizisten waren – ganz im Gegensatz dazu – mit echtem Kriegsgerät ausgerüstet. Also nichts von Symbolik. Um „die Blockade der Landstraße aufzulösen“ und „die Ordnung wiederherzustellen“, wurden 400 Polizisten eingesetzt mit 28 dafür verantwortlichen Offizieren. Sie verwendeten 304 Maschinengewehre vom Typ AKM mit 1.214 Magazinen, was – laut einer Dokumentation des Ombudsamtes – 36.420 Schüssen entspricht.

Zudem wurden 15 Sturmgewehre vom Typ Heckler & Koch G3 mit 60 Magazinen eingesetzt, 50 Tränengaswerfer mit 1.091 Geschossen, 38 Gummigeschosswerfer mit 640 Gummigeschosspatronen, zwei Pistolen vom Typ Pietro Beretta mit zwei Magazinen und 481 Tränengas-Handgranaten.

Aber das ist noch nicht alles. Verschiedene Personen, die an diesem Tag ebenfalls Zeug*innen der Ereignisse wurden, bezogen sich auf Sandras Aussage. Dabei bestätigten sie, dass es Scharfschützen gegeben habe, die aus den Hubschraubern schossen, mit denen die Einheiten die Landstraße überflogen, an der sich der Protest ereignete.

Gemäß dieser Aussagen gab es beispielsweise einen Polizisten, der – mit einem Gurt an der offenen Tür gesichert des Hubschraubers gesichert – mit einem Gewehr auf die Demonstrant*innen anlegte und schoss. Der angebliche Scharfschütze ist tot. Ministerin Cabanillas war diejenige, die seinen Tod vor der Presse verkündete. Dennoch, die Identität und die Rolle dieses Beamten sowie die Umstände die fraglichen Umstände seines Todes bleiben auf offizieller Ebene ein Mysterium. Und wenn er oder irgendein anderes Besatzungsmitglied eine Feuerwaffe mit großer Reichweite während der Operation verwendeten: Weshalb die ganze Geheimniskrämerei?

Ministerin Cabanillas hat ein ums andere Mal verneint, dass sie mit dem fragwürdigen Befehl zur Räumung durch die Polizei etwas zu tun gehabt habe. Obwohl es Beweise dafür gibt, die das Gegenteil nahelegen.

In einem Memorandum vom 3. Juni 2009, das an General Luis Muguruza (dem Leiter der Operation) gerichtet war, ordnet der Generaldirektor der peruanischen Polizei explizit an, „ständig über den Stand von Planung Durchführung der Operation zu informieren, um dieses Kommando und die Frau Ministerin, zum Zwecke der Entscheidungsfindung, informiert zu halten“. Weshalb sagt die Ministerin eine Sache und das Memorandum eine andere?

Wurde den im Memorandum aufgeführten Anweisungen nicht Folge geleistet? Hier steckt ein weiteres Rätsel. Dem offiziellen Bericht zufolge, der – wie zu erwarten war, unter anderem mit der Version von Ex-Präsident García, Ex-Ministerin Cabanillas und General Muguruza übereinstimmt – waren es die Demonstrationsteilnehmer*innen, die – mit Waffen ausgestattet – die Polizisten aus einem Hinterhalt heraus angriffen und „einen Schusswechsel begannen“.

Es gibt aber nicht nur keinen Beweis für die Richtigkeit dieser phantastischen Geschichte. Proben mit der Technik der Atomspektrometrie, die an den vier Indígenas vorgenommen wurden, die während der Operation in der Curva del Diablo starben, als auch an anderen in den Fall verwickelten Personen, wie Santiago, Sandra und Roldán, ergaben ganz eindeutig, dass sie an jenem Tag nicht mit Schusswaffen geschossen hatten. Von dem im Hubschrauber verstorbenen Scharfschützen allerdings und den Polizisten, die an diesem unheilvollen Einsatz beteiligt waren, kann man das nicht mit Sicherheit sagen.

Es bleiben noch viele Fragen zu der Polizeioperation und den dafür Verantwortlichen zu klären. Und obwohl es unglaublich erscheint, sind García, Cabanillas, Aráoz und Simon nicht Teil des Prozesses. Der Anwalt Juan José Quispe vom Institut für die Verteidigung des Rechts IDL (Instituto de Defensa Legal) forderte, dass diese Personen als Zeugen des Hintergrundes der Ereignisse geladen würden, damit sie darüber aussagten, wie es zu den Befehlen kam und auf welche Weise die Polizeiaktion geplant und durchgeführt wurde. Doch das Strafgericht von Bagua, unter dem Vorsitz von Gonzalo Zabarburu Saavedra, lehnte den Antrag von Quispe ab. Mit welcher Begründung? „Sie waren nicht am Ort des Geschehens und daher können ihre Zeugenaussagen nicht zur Aufklärung der Morde führen“, erklärte einer der Richter. Nicht mehr und nicht weniger.

Die Fahrtkosten

In Bagua geht der Alptraum des 5. Juni weiter. Die Angeklagten werden behandelt, als wären sie Mitglieder des organisierten Verbrechens, obwohl es sich um Einzelanklagen handelt. Niemand weiß, wann die eigene Vernehmung ansteht. Solange der Prozess andauert, sind Santiago, Sandra, Roldán und all die anderen Angeklagten verpflichtet, an jeder einzelnen Sitzung der Hauptverhandlung dieses Falles teilzunehmen. Ihnen bleibt gar nichts anderes übrig. Der Präsident der Kammer lässt jedes Mal die Liste herumgehen.

Die Missionarin Carmen Gómez Callejas äußert sich besorgt ob dieser Praxis, „denn was bedeutet diese Verlegung? Sie bedeutet, um sich ‚dem Gericht zur Verfügung zu halten‘ müssen alle Angeklagten aus ihren abgelegenen Gemeinschaften zum Gericht nach Bagua fahren. Und sie müssen diese Reise alle zwei Wochen antreten. Das verursacht enorme Kosten. Nur mal zur Orientierung: Ein Angeklagter aus dem Distrikt von Santiago dürfte rund 400 Soles (ca. 108 Euro) pro Reise ausgeben. Hinzu kommt, dass er etwa zehn Tage nicht bei seiner Familie sein und seiner Arbeit nicht nachgehen kann“.

Es lässt sich leicht ausrechnen, dass die Kosten für die Fahrten jedes Mal über 5.000 Soles (ca. 1.347 Euro) betragen. Die Angeklagten können diese Kosten meist nicht tragen. Sie leben mehrheitlich vom Eigenanbau in der Landwirtschaft. Einige von ihnen haben überhaupt keinen Umgang mit Geld. Doch diese kleinen Details scheinen die Justizbehörden im Strafgerichtssaal in Bagua nicht zu interessieren.

Die Anträge der Anwälte, es mögen doch nur jene Angeklagten zur Anwesenheit verpflichtet werden, die zum Termin auch als Zeug*innen aussagen sollen, wurde mehr als einmal abgelehnt. Da darf schon einmal gefragt werden: Wer von den Justizbeamt*innen hat den Überblick über alle diese Kosten – im Fall, dass die Angeklagten freigesprochen werden?

„Ich habe in diesem Fall hier überhaupt nichts verloren.“

Doch jenseits der Transportkosten entstehen noch andere Kosten, die mit Geld nicht zu begleichen sind. „Bei der Mehrheit der Angeklagten handelt es sich um Familienväter, die von Tag zu Tag von ihrer Arbeit leben. Für viele bedeuten zehn Reisetage, dass sie an zehn Tagen nicht für den Unterhalt ihrer Familien sorgen können“, so die Missionarin Gómez.

Sandra unterstreicht diesbezüglich: „Ich habe in diesem Fall hier überhaupt nichts verloren. Trotzdem habe ich meine Arbeit als Lehrerin verloren – weil ich so viele Male um Erlaubnis bitten musste, um zum Prozess zu fahren. Und als ob das nicht schon genug wäre, konnte ich auch keine andere Arbeit bekommen, denn – zu meiner großen Überraschung! – gelte ich als vorbestraft. Stellen Sie sich das mal vor! Und ich bin die einzige, die in meiner Familie ein Einkommen erzielt.“

Santiago sitzt mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen im Gerichtssaal. „Santiago war ein kerngesunder Mensch“, erzählt Gómez, „er war gut genährt und stark“. Das ist er jetzt nicht mehr.

Seitdem er niedergeschossen wurde, hat er 32 Kilogramm Gewicht verloren und 50 Zentimeter seines Dünndarms. Außerdem leidet er an schwerer Diabetes.

Um bei jeder Verhandlung zugegen zu sein, muss er Fahrten zwischen zehn und zwölf Stunden auf sich nehmen. Diese Fahrten sind lang und Kräfte zehrend. Und ohne jeden Zweifel schwächen sie Santiagos Gesundheit weiter. Doch trotz alledem schlägt Santiago weiterhin einen versöhnlichen Ton an, wenn er sich resigniert bei jeder Verhandlung einfindet.

Seine Zeugenaussage war diesbezüglich sehr aufschlussreich: „Als ich im Krankenhaus war und man mir vom Tod all der vielen Polizisten und der vielen Indígenas erzählte, habe ich nur bedauert, dass wir Indígenas, in dem Bemühen, unsere Territorien zu verteidigen, hier her gekommen sind. Und ebenso die Polizisten, die, nur weil sie einem Befehl gefolgt sind, Opfer von solch etwas Absurdem geworden sind. Wenn es nicht deswegen gewesen wäre, weshalb sollten wir aufeinander losgehen? Das kam mir damals in den Sinn. Und es schmerzte mich ungemein. Am Ende habe ich geweint.“

Dies ist der zweite und letzte Teil einer Reportage von Roxana Olivera, die in der Spezialausgabe der Revista Ideele “Memorias de un juicio olvidado“ (Zeugnisse eines vergessenen Gerichtsprozesses) erschienen ist. In der Spezialausgabe werden das Leiden und die Misshandlungen der Indigenen, aber auch die unermüdliche Arbeit einiger, für die Gerichtsprozesse wesentlicher Persönlichkeiten beschrieben. Letztlich ist es wichtig zu begreifen, dass das Gericht nicht über eine Gruppe von Angeklagten urteilt, sondern über zwei ganze indigene Völker, die Awajún und Wampis.

Zum ersten Teil geht es hier.

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