Zentralamerika: Die Jugendlichen wollen raus aus den armen Vierteln!

(San José, 20. Juli 2018, pressenza/IPS/poonal).- La Carpio liegt wie eine verarmte urbane Insel in der Peripherie von San José, Hauptstadt von Costa Rica. Auf der einen Seite fließt der Torres mit dem landesweit am stärksten verseuchten Wasser vorbei, auf der anderen Seite erhebt sich eine enorme Müllhalde. Eine Anlage, die das Abwasser von elf Städten klärt, umgibt La Carpio. In Mitten von ungestrichenen Häusern, Basaren, mehr als 60 Kneipen und hundert Kirchen verschiedener Konfessionen, leben fast 25.000 Menschen in zehn km Entfernung zum Zentrum von San José. Hier entstehen tausende Lebensgeschichten von Costa-Ricaner*- und auch Nicaraguaner*innen, die im zentralamerikanischen Nachbarland als die größte migrantische Gruppe gelten. Die meisten von ihnen sind junge Menschen, die aus Gründen der Ungleichheit und aus Angst vor verschiedenen Arten von Gewalt migriert sind.

Im Durchschnitt geben fast die Hälfte der jugendliche Bewohner*innen (14-24 Jahre) von Armutsvierteln wie La Carpio, Jorge Dimitrov (Managua, Nicaragua), El Limón (Guatemala-Stadt), Nueva Capital (Tegucigalpa, Honduras) oder Popotlán (Großraum San Salvador, El Salvador) an, ihr Land verlassen zu wollen, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten. Diese Information ist der Studie „Zerrissenes Zentralamerika. Bedürfnisse und Erwartungen von Jugendlichen in verarmten Gemeinden“ zu entnehmen, die im Juni 2018 in Teilen vom Institut für Sozialforschung der Universität von Costa Rica UCR veröffentlicht wurde. Die Studie basiert auf Interviews mit 1501 Jugendlichen in den fünf genannten Armutsvierteln. In jedem Viertel wurden 300 junge Menschen in ihrem Zuhause mit Hilfe von fast hundert Interviewer*innen aus den Gemeinden selbst interviewt.

An diesen Orten erleben im Durchschnitt fast zwei Drittel der Jugendlichen die Verteilung des Reichtums als sehr ungerecht oder ungerecht. Etwa die Hälfte gab an, in letzter Zeit Angst vor der Gewalt in ihrem Umfeld zu haben und glauben, dass „ihr Schicksal nicht in ihren Händen liegt“.

El Salvador

In Popotlán, gelegen in Apopa im Großraum von San Salvador, bekräftigen 74 Prozent der unter 24-jährigen, dass sie emigrieren wollen; in Nueva Capital, Tegucigalpa, Honduras waren es 60 Prozent; in La Carpio, San José 50 Prozent; in El Limón, Guatemala-Stadt 49 Prozent und in Jorge Dimitrov, Managua, Nicaragua 47 Prozent. Die Jugendlichen aus Popotlán sind von Gewalt umgeben. Sie werden stigmatisiert, weil sie an einem Ort leben, den kriminelle Banden teilweise in No-Go-Areas umgewandelt haben und an dem die hygienischen Bedingungen und der Zugang zu Lebensmitteln problematisch sind.

Maria weiß was gemeint ist, denn sie lebt in diesem Viertel und koordiniert eine Basisorganisation, die Jugendliche mit Lebensmitteln und Lernangeboten unterstützt. Tage nach dem Interview wird sie darum bitten, ihr dieses Pseudonym zu geben und den Namen ihres Kollektivs nicht zu veröffentlichen, nachdem es zu einigen Morden im Umfeld gekommen ist. „Hier jung zu sein, scheint ein Verbrechen zu sein. Du freust dich darauf endlich volljährig zu werden, aber das passiert hier nicht. Hier hat man Angst davor, dass die Polizei dich aufgreift, weil du jung bist, nicht so sehr, weil du Gangmitglied bist, sondern weil du hier in der Siedlung lebst. Arbeit zu bekommen ist sehr schwierig, wenn du sagst, dass du aus Popotlán bist“, sagt sie in einem Telefoninterview mit dem Inter Press Service.

Jugend = Migration

Jugend könne in dieser Region fast gleichgesetzt werden mit Migration, so Salvador Gutiérrez vom Regionalbüro Zentral-, Nordamerika und die Karibik der Internationalen Organisation für Migration (IOM). „Im Allgemeinen sind es in Zentralamerika vor allem die 14 bis 24-jährigen, die migrieren. Ein deutliches Unterscheidungsmerkmal bei jungen Leuten ist, dass diejenigen, die migrieren, dabei sind, sich ein Leben aufzubauen“, sagt Salvador Gutiérrez. Die jungen Leute in Zentralamerika unterscheiden sich auch von anderen Migrant*innen, weil sie vor der Gewalt und dem Verbrechen fliehen, die sie oft am eigenen Leib erfahren haben. Sie wollen wieder mit ihren Familien zusammen sein, die bereits in einem anderen Land leben. Oder sie suchen Arbeit in der Landwirtschaft, bei ländlichen Produzent*innen, die selbst migriert sind.

Das Stigma jung zu sein, bringt in Popotlán viele dazu zu migrieren; andere, wie die Gemeindeaktivistin Maria bleiben und kämpfen für die jungen Leute „in einer Zone, wo der Staat kaum hinreicht“. Fünf von diesen Jugendlichen gehen bald zur Universität. „Leben ist ein Wunder und wir versuchen sie dazu zu bringen, Werte für sich zu entdecken, die sie an die anderen weitergeben können (…) Ein Jugendlicher sagte mir, dass er zur Uni gehen wolle und sich wünscht, dass seine Eltern stolz auf ihn seien. Manchmal tut es weh, wenn deine eigene Familie nicht an dich glaubt“, erzählt Maria.

Ein zerrissenes Umfeld

31 Jahre nach dem Abkommen von Esquipulas II, das feierlich erklärt, sich der Jugend im Isthmus anzunehmen und in dem Schritte für einen anhaltenden Frieden in der Region festgelegt wurden, „bleibt Zentralamerika zerrissen“, analysiert Carlos Sandoval, Koordinator der UCR-Studie. „Darüber hinaus geht uns die Haupterrungenschaft der parlamentarischen Demokratie, als ein Mechanismus der politischen Legitimierung verloren. Was diese Studie vielleicht verdeutlicht ist, dass es an Ideen fehlt, wie Zentralamerika neu gedacht werden kann“, fügt Sandoval hinzu. In den betreffenden Vierteln gibt die große Mehrheit an (zwischen 64 Prozent in Costa Rica und 79 Prozent in El Salvador), dass es ihnen egal ist, ob es auf „demokratischem oder nicht demokratischen Weg passiert“, Hauptsache „die Probleme werden gelöst“.

„Es überrascht uns nicht, dass das was gerade in Nicaragua passiert zu einem neuen Zyklus der sozialen Mobilisierung führt“, reflektiert Sandoval in Hinsicht auf die gesellschaftliche Rebellion in Nicaragua, die im April dieses Jahres ausgebrochen ist und die trotz der brutalen Repression mit mehr als 370 Toten nicht zurückgeht. Die meisten Opfer sind junge Menschen und die Situation führt auch zu einer enormen Zunahme der Emigration.

In den fünf Vierteln, die untersucht wurden, ist die Realität der Frauen noch komplexer. Fast 32 Prozent der jungen Frauen gaben an, Mutter zu sein, wohingegen nur 13 Prozent der männlichen Teilnehmer angaben, Vater zu sein. Mario de León wurde in Nicaragua geboren und wuchs, dank der Pflege der alleinerziehenden Mutter von vier Kindern, in La Carpio, San José, Costa Rica auf. „Meine Mutter hat jeden Tag von morgens sechs bis abends um neun in einem Supermarkt gearbeitet. Wegen ihr konnten wir lernen, wir hatten Essen und Kleidung“, sagt Mario. Kürzlich ist er dreißig geworden und arbeitet als Mathematik-Professor an der UCR. Mit sechs Jahren ist er nach La Carpio gekommen. Seine Familie hatte während des Kriegs in Nicaragua alles verloren. Die Familie lebte einige Zeit in Guatemala und ist Mitte der 1990er Jahre nach Costa Rica gekommen. „Die Lernbedingungen waren schrecklich. Die Schule bestand aus vier Blechen, einem Dach und einem Boden aus Erde. Es regnete, der Strom ging aus und der Unterricht fiel aus. Ich habe weiter gelernt, während das Wasser in die Wände lief. Man hat versucht sich selbst zu motivieren“, erinnert sich Mario. In diesem Jahr wurde in La Carpio eine moderne Schule für 2100 Schüler*innen eröffnet. Es gab zwar schon vorher Zugang zu Bildung, aber normalerweise gewährleistet der Staat in diesen Gemeinden qualitativ gute Dienstleistungen -wenn überhaupt- stark verzögert.

Laut Salvador Gutiérrez von der IOM zeigt die Studie, dass die Entwicklungszusammenarbeit der genannten Länder entscheidend sei, um das Problem der Migration anzugehen. „Man muss an den strukturellen Ursachen der Migration arbeiten: Armut, Ungleichheit, Sicherheit und Entwicklungsmöglichkeiten müssen aus einem breiten Blickwinkel heraus betrachtet werden“, sagt er. Das schließt für Gutiérrez die Schaffung von Möglichkeiten ein, die Migration zu regulieren; außerdem die Kooperation in Hinblick auf die öffentliche Sicherheit und die Verringerung der Ungleichheit zwischen den einzelnen Menschen, aber vor allem auch zwischen den Ländern. „Im Durchschnitt beträgt der Unterschied der Einkünfte zwischen dem Herkunfts- und dem Zielland weltweit eins zu 70 und man schätzt, dass das Verhältnis in den nächsten 25 Jahren eins zu 100 sein wird. Es ist sehr schwierig Migrant*innen davon abzuhalten dahin zu migrieren, wo es ein Einkommen und Wohlstand gibt“, gibt er an.

Das ist der Grund, so das Fazit der UCR-Studie, warum in den armen Gemeinden Zentralamerikas die Hälfte der jungen Leute denken, dass von der Emigration abhängt, ob man eine Zukunft hat.

 

 

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