Zensus 2012: Weniger Indigene

von Sybila Tabra

(Lima, 08. August 2013, servindi).- Die Ergebnisse der Volksbefragung in Bolivien aus dem Jahr 2012 zur Bevölkerungsentwicklung und zur Wohnsituation haben zahlreiche Debatten unter Politiker*innen, Unternehmer*innen sowie in den Regionen ausgelöst. Grund dafür ist, dass laut Zensus mehr als die Hälfte der Bolivianer*innen keinem indigenen Volk angehören.

Laut der am vergangenen 31. Juli von der Nationalen Statistikbehörde INE (Instituto Nacional de Estadística) veröffentlichten Ergebnisse haben 58 Prozent der über 15-jährigen Bolivianer*innen erklärt, dass sie keinem der 36 in der bolivianischen Verfassung anerkannten indigenen Völker angehören.

Demnach sahen sich 2012 rund 2,8 Millionen Bolivianer*innen als Angehörige einer indigenen Nation bzw. eines indigenen Volkes an. Dies entspricht einem Anteil von 41 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Im Zensus von 2001 hatten sich noch 62 Prozent der Einwohner*innen selbst als Indigene bezeichnet. Damit ist die Zahl derjenigen, die sich als Indigene bezeichnen um 21 Prozent zurückgegangen.

Überraschter Präsident

Boliviens Präsident Evo Morales erklärte, davon ebenso überrascht zu sein, wie viele andere. „Die vorherigen Zahlen waren anders. Ich weiß nicht, ob wir uns in einer Phase der Entwertung befinden oder ob es sich um eine kolonialistische Mentalität handelt“, so der Präsident. Auch die Politologin Moira Zuazo ist der Ansicht, dass es sich um ein seltsames Ergebnis handelt, weil sich im Zeitraum seit dem letzten Zensus deutlich ein Prozess gezeigt habe, dessen Tendenz sich eher in Richtung einer indigenen Identität bewegt habe. „Dass sich diese Zahl reduziert, während in unserer Verfassung indigene Identitäten wieder Beachtung finden, welche die Basis des plurinationalen Staates sind, ist seltsam“, erläuterte Zuaso.

Nach Angaben der Forscherin sei es notwendig, die Resultate zu analysieren und in Betracht zu ziehen, andere Variablen zu wählen. „Man muss schauen, wie sich diese Zahl, dieser Prozentsatz auf die städtischen und die ländlichen Räume verteilt“. Ihre Ansicht nach besteht die große Frage darin, „ob die bolivianische Gesellschaft einen Prozess der Abkehr von der indigenen Identität erlebt und die zweite Frage wäre, was der Grund dafür ist“, unterstrich Zuaso.

Kritik am Zensus

Eine der kritisierten Fragen des Zensus war die Frage 49, weil dort nicht die Option „Mestize“ aufgelistet war. Allerdings bestand die Möglichkeit zu antworten, dass man keiner indigenen Nation oder keinem indigenen Volk angehöre. Leonardo Tamburini, ehemaliger Leiter des Zentrums für Juristische Studien und sozialwissenschaftliche Forschungen CEJIS (Centro de Estudios Jurídicos e Investigación Sociales) erklärt, dass man keinen wirklichen Zensus zum Indigenenanteil der Bevölkerung gemacht habe. „Was man getan hat ist, eine Stichprobenprüfung mit einer Frage zu machen. Diese sollte jedoch nicht dazu dienen, die indigene Bevölkerung des Landes herauszufiltern“.

Tamburini wies zudem darauf hin, dass die Fragen des Zensus nicht den Standards der UNO entsprächen. Der Rückgang des indigenen Bevölkerungsanteils sei zustande gekommen, weil die Antworten widersprüchlich waren. Die Umfrage sei tendenziös gewesen, weil man mit den jüngsten Regierungsmaßnahmen „versucht habe, die Präsenz der Indigenen im Land zu verringern“, so Tamburini.

Nach Ansicht des Soziologen Alfonso Hinojosa haben die Resultate des Zensus nichts mit dem Terminus zu tun. Man müsse zunächst analysieren, um welche Art von Daten es sich handele. Denn die 62 Prozent Indigenenanteil an der bolivianischen Bevölkerung im Zensus von 2001 standen im Zusammenhang mit wachsenden, ethnisch zugeordneten Forderungen. Hinojosa meint, „jetzt, so scheint es, gibt es eine gegenläufige Tendenz. Alles ist jetzt ethnisch. Das ist nicht nur Teil der politischen Agenda sondern auch des politischen Führungsstils. Es ist ein anderer Moment. Zweifellos ist die Selbstdefinition als indigen oder etwas anderes ein tiefgreifender Aspekt der Subjektivität. Und in vielen Fällen hat er mit Traumatisierungen zu tun. Es ist möglich, dass sich eine Person mit Diskriminierungserfahrungen nicht mehr als indigen bezeichnet“, so Hinosa. Die neuen Ergebnisse hätten keine Auswirkungen auf die Indigenen; zudem sei die Identität nicht in Stein gemeißelt, betonte der Soziologe. „Ich glaube, dass dieser geringere Prozentsatz in der ethnischen Selbstidentifikation nicht die Schaffung des Plurinationalen Staates beeinträchtigt“.

Für den bolivianischen Vizepräsidenten Álvaro García Linera gibt es zwei Klassen von BolivianerInnen: Die Bolivianer*innen und die indigenen Bolivianer*innen, was er als zusammengesetzte Realität bezeichnete. „Von einer Mestizen-Nation zu sprechen bedeutet eigentlich einen Ethnozid. Spricht man hingegen von einer staatlichen bolivianischen Nation und von kulturellen, indigenen, originären Bauernnationen, dann kann man damit den Respekt und die Wertschätzung der althergebrachten Nationen betonen. Aber auch die aktuelle, gemeinsame Konstruktion unserer bolivianischen Identität, an der wir alle beteiligt sind“, betonte García Linera.

Mehr Quechua als Aymara

Der Zensus von 2012 ergab zudem, dass es in Bolivien mehr Quechua-Indigene gibt als Aymara. 1.281.116 Menschen bezeichneten sich als Quechua, während sich 1.191.352 zu den Aymara zählten; damit sind diese die beiden zahlreichsten indigenen Völker des Landes. Die kleinsten ethnischen Gruppen, die sich selbst als solche bezeichnen, sind die Machineri mit 38 Personen und die Guarasugwe mit 42. Beide Völker kommen aus dem sogenannten Tiefland des bolivianischen Ostens.

Evaluation des Zensus

Die Ministerin für Entwicklungsplanung, Viviana Caro erklärte, die Qualität des Zensus von 2012 werde ab dem 19. August 2013 noch einmal von einer technischen Kommission überprüft, die sich aus drei internationalen Institutionen zusammensetze.

Nach den Worten der Ministerin seien die Büros des INE in den Departements bereits dabei, die erneute Auswertung vorzubereiten. Am 19. August werde eine erste Delegation des Lateinamerikanisch-Karibischen Zentrums für Demographie Celade (Centro Latinoamericano y Caribeño de Demografía) eintreffen, um einen Arbeitsplan zu erstellen. Sie erklärte, die Weltbank und der Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen Unfpa (United Nations Population Fund) begrüßten die Übereinkunft sowie die technischen Fähigkeiten des INE und würden bei der erneuten Auswertung behilflich sein.

Verwirrung um niedrigeres Endergebnis

Bereits im Januar 2013 hatte Präsident Evo Morales die vorläufigen Ergebnisse der Auszählung bekannt gegeben und erklärt, Bolivien habe 10.389.913 Einwohner*innen. In den Endergebnissen des INE heißt es jedoch, Bolivien habe 10.027.452 Einwohner*innen. Dies würde eine Differenz von 362.659 Bewohner*innen des Landes zwischen Vorauszählung und Endergebnis bedeuten.

Auch hatte Morales im Januar erklärt, das Departement Santa Cruz habe die meisten Einwohner*innen Boliviens. Im Endergebnis liegt auf Platz eins der Einwohnerzahl jedoch La Paz mit 2.706.351 Einwohner*innen und übertrifft Santa Cruz somit um mehr als 50.000 Einwohner*innen.

Nach diesen neuen Daten würde sich die politische und wirtschaftliche Landkarte Boliviens verändern, da die Erträge der Steueranteile neu verteilt werden müssten; denn dieser Verteilschlüssel basiert auf der Anzahl der Bewohner*innen jeder Region. Damit gingen diese Ergebnisse zu Lasten von sechs Provinzen, während drei Provinzen davon profitieren würden. Das betrifft sowohl die Steuerzuwendungen als auch die Anzahl der Sitze im Parlament.

Morales bezeichnete es als Fehler, schon Anfang des Jahres die vorläufigen Ergebnisse der Volkszählung 2012 bekannt gegeben zu haben. Gleichzeitig erklärte er die Endergebnisse für gültig, die von der INE am 31. Juli bekanntgegeben wurden. Morales sagte, die vorläufigen Ergebnisse stammten als einer manuellen Auszählung und von Hochrechnungen der INE; diese seien auf Druck einiger Funktionäre und Medien erstellt worden, um schon im Januar Zahlen veröffentlichen zu können.

 

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