Zehn Jahre Regierung der Arbeiterpartei: „Der Platz der Ethik in der Politik blieb leer“

Interview: Graziela Wolfart, Instituto Humanitas Unisinos (IHU)

(Fortaleza, 28. März 2013, adital-poonal).- Seit Anfang 2003 stellt die Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) den brasilianischen Präsidenten. Nach der achtjährigen Präsidentschaft Lulas folgte 2011 Dilma Rousseff. Der politische Philosoph Renato Janine Ribeiro zieht in dem folgenden Interview eine kritische Bilanz.

 

Renato Janine Ribeiro, Jahrgang 1949, ist Professor für Ethik und politische Philosophie, an der der Universität von São Paulo (USP – Universidade de São Paulo). Sein Studium führte ihn auch an die Pariser Sorbonne. In seiner Arbeit beschäftigt er sich unter anderem mit Fragen der Demokratie und der politischen Kultur Brasiliens. Renato Janine Ribeiro beteiligt sich immer wieder an politischen Debatten in Brasilien.

Welche sind die wichtigsten Punkte beim Blick zurück auf die zehn Jahre, in denen die Arbeiterpartei den Präsidenten bzw. die Präsidentin Brasiliens gestellt hat?

Als voller Erfolg ist der soziale Einschluss zu werten, der es ermöglichte, dass 50 Millionen Brasilianer*innen von den Klassen D und E in die Klasse C aufstiegen. Diese wurde damit zur größten im Land. Die Arbeiterpartei erklärte den Kampf gegen das Elend und das Projekt der Schaffung einer Mittelklasse in Brasilien zu Prioritäten. Selbst die Opposition schlug bei den letzten Wahlen vor, das Sozialprogramm Bolsa Família zu erweitern, welches sie zuvor immer kritisiert hatte.

Die Arbeiterpartei bewies, dass die Linke Kompetenz haben kann, um zu regieren. Regierungswechsel wurden somit in Brasilien möglich. Zuvor gab es immer die Befürchtung, dass die Arbeiterpartei nicht über das Personal verfüge, um Brasilien zu führen. Und schließlich spielte die Arbeiterpartei eine Rolle bei der großen politischen Veränderung, die Südamerika nach links schwenken ließ. Begleitet von der Erlangung einer größeren Autonomie gegenüber den USA. Soweit zu den positiven Punkten.

An welche Grenzen stößt eine Partei, die in einem Land wie Brasilien zehn Jahre an der Macht bleibt?

Der größte Schwachpunkt ist: Die Arbeiterpartei fehlt in der Opposition. Dem sozialdemokratischen PSDB und der grünen Bewegung fehlt die Hartnäckigkeit, welche die Arbeiterpartei in jenen 21 Jahren auszeichnete. Außerdem hat sich der PT zu stark der Regierung angepasst.

Welchen Beitrag hat die Arbeiterpartei in der Bundesregierung für die Konsolidierung der Demokratie in Brasilien geleistet?

In der Opposition hatte der PT zwei zentrale Anliegen: Den Kampf gegen Elend und Armut sowie die Forderung nach Ethik in der Politik. Die extreme Armut in Brasilien zu bekämpfen, das war eindeutig ethisch. Es gab keine Trennung zwischen der moralischen und der sozialen Agenda der Partei.

An der Regierung allerdings begann sich diese enge Verbindung aufzulösen. Ein Beispiel: 2006, die erste Amtszeit Lulas neigte sich dem Ende zu, warb der PSDB mit dem Slogan „Für ein anständiges Brasilien“. Drei Jahre zuvor wäre es vollkommen undenkbar gewesen, die Arbeiterpartei aus ethischer Richtung anzugreifen. Heute wird ihr die Politik des sozialen Einschlusses zugute gehalten, ethische Prinzipien erwähnt niemand mehr. Das ist Besorgnis erregend, weil der angestammte Platz der Arbeiterpartei leer blieb.

In der Opposition konnte man noch alles und alle kritisieren, denn die Macht hatten ja die anderen. An der Regierung mussten gewisse ethische Forderungen dann allerdings zurückgeschraubt werden. Um zu regieren müssen nämlich Bündnisse geschlossen werden. Die Frage ist einfach: Wie weit gibt man nach? Gab die Arbeiterpartei vielleicht mehr nach als sie es hätte tun sollen? Schließlich kehrten viele dem PT den Rücken.

Dies hat natürlich Folgen für das Vertrauen der brasilianischen Gesellschaft in die Parteien generell. Es gibt nicht mehr die Partei, die völlig anders ist als die Konkurrenten. Es gibt kein ethisches Projekt mehr, das versucht, die gesamte brasilianische Gesellschaft zu verändern. Der Regierung der Arbeiterpartei ist die Steigerung der Kaufkraft wichtiger als die Utopien der Vergangenheit, etwa Kultur und Bildung betreffend.

Der Platz der Ethik in der Politik blieb leer. Die einzige Gruppe, die anstreben kann, ihn zu besetzen, sind die Grünen.

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