Wie die Militärdiktatur den „Mythos Amazonasgebiet“ schuf

von Eliane Brum*

(Berlin, 01. April 2014, cimi).- “Wenn man im Amazonasgebiet irgendetwas tun möchte, dann soll man nicht um Erlaubnis dafür bitten – sondern es einfach machen.“ Das erklärte Carlos Aloysio Weber, ehemaliger Befehlshaber des 5. Bataillons für das Ingenieurs- und Bauwesen der brasilianischen Streitkräfte. Das Bataillon war während der Militärdiktatur (1964-1985) eines der ersten, das sich im Amazonasgebiet niederließ.

„Was meinen Sie, wie wir 800 Kilometer Straße bauten?“

In einem Interview mit der Zeitschrift „Realidade“, die sein Wirken bei der Erschließung des im Nordwesten Brasiliens gelegenen Bundesstaates Rondônia als „legendär“ bezeichnete, gab der Oberst zu Protokoll: „Was meinen Sie, wie wir 800 Kilometer Straße bauten? Vielleicht, indem wir um Erlaubnis baten? Wir gingen genauso vor wie die Portugiesen, die die Spanier auch nicht um Erlaubnis fragten, ob sie die Tordesillas-Linie überschreiten dürften. Wenn all das, was wir taten, nicht geklappt hätte, säße ich im Gefängnis.“ Eine Aussage, die an Klarheit nichts zu wünschen übrig lässt. Aus ihr spricht die Gewissheit, keine Strafe befürchten zu müssen, ebenso wie der Stolz, dass es für das eigene Handeln keine Grenzen gibt.

Der Oberst sieht das Amazonasgebiet als Territorium an, in das man eindringen und es anschließend mit Gewalt beherrschen darf. Was die Diktatur im Amazonasgebiet tat, weit entfernt von den Machtzentren Brasiliens, aber auch von den Stimmen des Widerstands, und vor allem was sie mit den hier lebenden indigenen Völkern tat, muss noch sehr viel gründlicher erforscht werden. Die Gräuel, die bislang aufgedeckt wurden, bilden sicher nur die Oberfläche.

„Land ohne Menschen für Menschen ohne Land“

Die Militärdiktatur verwurzelte in der Vorstellung der Brasilianer*innen die Vision, dass der Amazonas-Regenwald ein Gebiet ist, das ausgebeutet werden muss. Die Propaganda, die das Regime produzierte, klingt auch jenen in den Ohren, die erst später geboren wurden – Slogans wie „Integrieren, um nicht auszuliefern“ und „Land ohne Menschen für Menschen ohne Land“.

Die Diktatur zementierte die Vorstellung des Amazonasgebietes als einer „grünen Wüste“. Hierbei verkannte sie den gesamten anzutreffenden menschlichen Reichtum, die kulturelle und biologische Vielfalt, schlicht das Leben. Die Verbreitung dieser Fantasie gelang allerdings so gut, dass sie für die Wahrheit genommen wurde. Eine Wahrheit, der die Brasilianer*innen auch nach der Rückkehr zur Demokratie weiter anhingen. Nur so ist das Paradox zu erklären, dass eine Ex-Guerillera, Präsidentin Dilma Rousseff – von der Militärdiktatur ins Gefängnis geworfen und gefoltert – in der Demokratie das Entwicklungsmodell ihrer Peiniger*innen für das Amazonasgebiet vorantreibt.

Demokratie greift Projekte der Diktatur wieder auf

Schon unter der Vorgängerregierung Lula, aber mit noch mehr Nachdruck seit dem Amtsantritt Rousseffs, wurden und werden einst von den Militärs konzipierte Großprojekte den Völkern, die den Regenwald bewohnen, aufgezwungen. Ein Beispiel – das umstrittenste, aber keineswegs das einzige – ist das Staudammprojekt Belo Monte am Fluss Xingu im Bundesstaat Pará.

Dieses verstößt sowohl gegen die brasilianische Verfassung als gegen internationale Verträge – von weiteren Aspekten von Willkür ganz abgesehen. Übereinkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) legt fest, dass indigene Völker das Recht haben, in Zusammenhang mit Projekten angehört zu werden, die ihre traditionelle Lebensweise beeinträchtigen. Dies war bei Belo Monte nicht der Fall. Viele weitere Staudammprojekte laufen, die ebenfalls auf den entschiedenen Widerstand von indigenen Völkern, afrikanischstämmigen Brasilianer*innen (Quilombolas) und Uferbewohner*innen stoßen.

Umweltzerstörung mit staatlichen Krediten

In einer Demokratie führen Großunternehmen, die mit öffentlichem Geld der Brasilianischen Entwicklungsbank BNDES (Banco Nacional de Desenvolvimento Econômico e Social) finanziert werden, Arbeiten aus, die das Ökosystem einschneidend verändern, ohne ihren Verpflichtungen nachzukommen. Die Demokratie nutzt mit der “Aufhebung aus Sicherheitsgründen” (“Suspensão de Segurança”) ein Instrument der Diktatur, um sicherzustellen, dass die Großprojekte fortgeführt werden.

Höhergestellte Gerichte können auf diese Weise Entscheidungen untergeordneter Instanzen annullieren. Das Ganze, um Schaden für die öffentliche Ordnung, Gesundheit, Sicherheit oder die staatliche Wirtschaft abzuwenden, den die Urteile angeblich heraufbeschwören würden. Der Mechanismus kam im Fall Belo Monte zum Einsatz, um eine für die Betroffenen günstige Gerichtsentscheidung zu kippen. Das gleiche Spiel bei der Erweiterung der Carajás-Eisenbahnstrecke für den Transport von Eisenerz.

Jeder darf sich an Ausplünderung beteiligen

Und die große Mehrheit der Brasilianer*innen erstaunt es nicht – was wiederum keineswegs erstaunt – , dass das „Groß-Brasilien“ der Diktatur sich unter anderen Namen in der Demokratie konsolidiert. Die Gewalt wird nicht als Gewalt entschlüsselt, der Autoritarismus nicht als Autoritarismus. Das Gefährlichste ist immer das, was wir nicht als gefährlich erkennen, das, was sich als unvermeidlich etabliert – und die Gewalt, die der Staat im Amazonasgebiet ausübt, wird als naturgegeben hingenommen.

Man könnte es als Überraschung ansehen, dass der von der Diktatur geschmiedete Mythos des Amazonasgebietes in der Demokratie fortbesteht. Dieser Mythos hat sich aber in die alleinige Wahrheit verwandelt. Diese ermöglicht, dass das Amazonasgebiet als Objekt behandelt wird, das ausgeplündert werden darf – sei es vom Staat oder sei es von Privatunternehmen. Jeder darf zugreifen: Politiker*innen jeder Couleur, illegale Landbesitzer*innen, Holzfäller*innen oder UnternehmerInnen.

Inner-brasilianischer Kolonialismus

Jede und jeder, der in diesem Gebiet verbleibt, weil sie oder er hier geboren wurde und Wurzeln hat, wird zu einem Hindernis – wie die indigenen Völker. Kein Hindernis für die Entwicklung, die bis zur Erschöpfung vorangetrieben wird, sondern ein Hindernis für die Aufrechterhaltung dieses Mythos. Die Vorstellungwelt, die seit Jahrzehnten die Zerstörung des Regenwaldes und der in ihm lebenden Völker legitimiert, muss gewahrt werden.

Der Regenwald ist dieser Auffassung zufolge nicht dazu da, um in ihm zu leben, sondern um ihn auszubeuten und zu nutzen. Das Amazonasgebiet hat dem Zentrum zu dienen – im 21. Jahrhundert ein Denken aus kolonialer Zeit. In den Augen vieler handelt es sich ausschließlich um eine Rohstoff-Quelle. Außerdem soll das Amazonasgebiet die Energie für die großen brasilianischen Konzerne liefern, die für den Export produzieren.

Mächtige Agrarlobby übt Druck auf Regierung aus

Der Wald steht aber auch der Verschiebung der Agrargrenze im Wege. Im Kongress in Brasília bildet die Agrarlobby parteiübergreifend die größte Fraktion. Ihr Einfluss auf die Regierung ist riesig. Nicht unterschätzt werden sollte die einigende Wirkung der Losung „die Gringos wollen sich das Amazonasgebiet nehmen.“ Durch Schaffung einer äußeren Bedrohung lässt sich bei Bedarf Nationalismus schüren. Die Nutznießer*innen sind bekannt. Dabei weiß eigentlich jeder, dass der „Gringo“ seit langem bei Großprojekten multinationaler Unternehmen in Brasilien mitmischt, die zur Vertreibung der örtlichen Bevölkerung geführt haben. Immer mit Unterstützung der jeweiligen brasilianischen Regierung. Ob in der Diktatur oder in der Demokratie.

In einer Zeit, in der globale Erwärmung, Umweltzerstörung und Wassermangel weltweit auf der politischen Agenda vorne stehen, müssen neue Feinde geschaffen werden. Die indigenen Völker werden der, überwiegend städtischen, Bevölkerung Brasiliens daher als Entwicklungshemmnis verkauft. Nicht nur von den konservativen Kräften in der Gesellschaft, sondern auch in offiziellen Äußerungen von Teilen der Regierung Rousseff.

* Die Journalistin und Dokumentarfilmerin Eliane Brum wurde vielfach mit nationalen und internationalen Reportagepreisen ausgezeichnet. Als Kolumnistin schreibt sie regelmäßig für das Nachrichtenmagazin „Época“.

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