„Wenn wir unser Land verlieren, kannst du dein Testament machen“

von Ismael Machado

(Fortaleza, 02. August 2013, aditalagencia pública-diário do Pará ).- Dieser denkwürdige Ausspruch der Ehefrau eines Grundbesitzers bringt das Klima der Bedrohung auf den Punkt, die seit Jahren das Leben von Nadia Pinho da Silva, bestimmt. Nadia Pinho da Silva ist Sprecherin der Bauernbewegung im rund 1.200 Kilometer von Belém entfernten Distrikt Santana do Araguaia, im Bundesstaat Pará, an der Grenze zu Mato Grosso.

Die 44-Jährige hat einen leichten Schlaf – beim kleinsten Geräusch von der Straße her, wird sie wach. Wenn es an der Tür klingelt, prüft sie sorgfältig wer draußen steht, bevor sie öffnet.

Ein ungewöhnliches Angebot

So lebt sie seit Januar 2007. Am 8. Januar jenen Jahres kam es zur Räumung eines Terrains vor dem Landgut Ouro Verde. 55 Familien hatten sich auf diesem Gebiet angesiedelt und zwei Jahre dort gelebt. Zum Zeitpunkt der Räumung, die die Militärpolizei von Belém auf Anordnung des Landwirtschaftsgerichts der Nachbargemeinde Redenção durchführte, war Nadia eine der Wortführerinnen der Besetzung. Auf die Räumung folgte eine ganze Serie von Neubesetzungen. Seither sind Anfeindungen und unverhohlene Bedrohungen Teil ihres Alltags geworden.

Mehr durch Zufall als durch persönliche Neigung war Nadia Pinho in die Rolle der Sprecherin der Bauernbewegung gelangt. Ihr Vater, der aus Ceará stammte, besaß eine kleine Parzelle in einer etwa 80 km vom Zentrum von Santana do Araguaia entfernten Ortschaft. Nadia wuchs in einer ländlichen Umgebung auf. Im Jahr 2003, als ihr Vater starb, verlor die Familie die Parzelle an Grileiros (illegale Landbesetzer*innen, die kommerzielle Interessen verfolgen), die sie an neue Eigentümer*innen weiterverkauften.

Im Jahr 2006 erhielt Nadia ein ungewöhnliches Angebot. Wenn sie bereit sei, für die Besetzer*innen zu kochen, die sich vor dem Landgut Vitória Regia angesiedelt hatten, werde sie ein Stück Land erhalten. Für eine Person wie Nadia, die ihr Leben lang von einem eigenen Stück Land geträumt hatte, klang das sehr verlockend. Zehn Alqueires (im Norden und Nordosten des Landes entspricht ein Alqueire rund 27.400 Quadratmetern) des Landstücks, auf dem sich insgesamt 27 Familien niedergelassen hatten, sollten ihr zufallen. Am Gründonnerstag des Jahres 2007 fuhr morgens ein Lieferwagen vor und näherte sich ihnen. Ob sie eigentlich wüssten, wo sie hier seien. Dies sei das Landgut Nobel. Bis dahin hatte noch nie jemand etwas davon gehört.

Unklare Besitzverhältnisse

Die Nachricht vom Problem mit den Besitzverhältnissen drang bis nach Brasilia vor. Der Richter am Landwirtschaftsgericht Gersino Filho bot sich an, in dem Konflikt zu vermitteln. Nadia hatte niemals zuvor einen Fuß in die Hauptstadt gesetzt. Bei der Verhandlung wurde eine Einigung mit dem Besitzer des Landguts ausgehandelt: Die Familien sollten das Gelände räumen, und die Nationale Behörde für Besiedlung und Landreform INCRA (Instituto Nacional de Colonização e Reforma Agrária) werde eine Begehung des Geländes und eine Einschätzung der Situation vornehmen. Die Landarbeiter*innen akzeptierten und zogen sich auf das Gebiet des Landguts „Victoria Regia“ zurück. Um ihre Interessen besser vertreten zu können, gründeten sie den Verband „Asociación de los Trabajadores Sin Tierra Brasil Nuevo“ (Landlosenverband Neues Brasilien).

Ende des Jahres kam es dann zu ersten Verstößen gegen die Vereinbarung. Ein Grundstücksverwalter des Landguts betrat bewaffnet das Gebiet der Landlosen. Traktoren walzten über die frisch bestellten Felder und zerstörten die Pflanzungen, Hütten gingen in Flammen auf. Die Regenfälle zum Jahresende geben in Pará üblicherweise den Startschuss für den Beginn der Aussaat; die Arbeiter*innen des Landlosenverbands hatten die Gelegenheit genutzt, um Getreide auszusäen, und sich dabei bis auf die Ländereine des Landguts Nobel vorgewagt. „Das gab Ärger. Wir wurden beschuldigt, uns nicht an die Abmachungen zu halten“, erinnert sich Nadia.

So kam es zur ersten Räumung im Jahr 2008. Die Familien mussten an den Rand der Landstraße BR-158 ausweichen. Nach neun Monaten kehrten sie auf das Gebiet des Landguts zurück. In dieser Zeit begann Nadia Pinho, sich der Kirchlichen Kommission für Landseelsorge CPT (Comisión Pastoral de la Tierra) anzunähern. Im Jahr 2010 kandidierte sie dann für die Leitung der Gewerkschaft der Landarbeiter*innen von Santana do Araguaia und wurde in dieses Gremium gewählt.

„Ich weiß, wer du bist“

Die erste Herausforderung bestand darin, eine Gruppe zu organisieren, die sich vorgenommen hatte, das Land einer Ansiedlung namens Verde-Bandera zurückzugewinnen. Die Nationale Behörde für Besiedlung und Landreform INCRA hatte das Land enteignet und anschließend hatten sich Grileiro-Agent*innen des Gebiets bemächtigt. Nachdem Nadia öffentlich die INCRA zur Rückgabe des besetzten Landes aufgefordert hatte, begannen die Drohungen gegen sie.

„Einmal hat mich ein Mann namens Amaral festgehalten und mir gesagt: Ich weiß, wer du bist. Du bist diese Gewerkschaftsführerin.” Eine Gruppe Landloser war einige Tage zuvor bei einer von der Gewerkschaft organisierten Besetzung verprügelt worden. Nadia hatte den Vorfall angezeigt. Der Mann sagte, sie habe bis zum nächsten Tag Zeit, ihre Anzeige zurückzuziehen. Nach Ansicht Nadias war der Mann für den Grundbesitzer João Moreira tätig. Die Gruppe Pé da Serra’ hatte einige seiner Ländereien besetzt.

Als Drahtzieherin eines Mordes beschuldigt

Das Terrain war einige Tage zuvor geräumt worden: einer der Bauern erlitt dabei eine Schussverletzung. Das Landgut befand sich im Prozess der Enteignung durch die INCRA, denn der Landwirt stand unter dem Verdacht, sich das Land einfach angeeignet zu haben. „Seine Frau Regina sagte zu mir: ‚Wenn wir unser Land verlieren, kannst du dein Testament machen.’“

Die Auseinandersetzungen mit den bewaffneten Handlangern der Großgrundbesitzer bereiteten Nadia Pinho immer wieder Kopfzerbrechen. Bei einer der Räumungsaktionen auf dem Landgut Nobel wurde ein 55-jähriger Besetzer von einem der bewaffneten Schergen öffentlich gedemütigt. Das Opfer schwor Rache. Am 14. Februar dieses Jahres setzte der Mann seinen Schwur in die Tat um und tötete den Pistolenträger, der ihn gedemütigt hatte. „Als sie Pedro verhafteten, boten sie ihm Strafmilderung an, wenn er mich als Drahtzieherin bezichtige. Und er hat angenommen”, erzählt Nadia. Am 22. Mai 2013 wurde ein Haftbefehl gegen Nadia Pinho und eine weitere Arbeiterin, Késia Furtado, erlassen.

Drohungen und 12 Tage Gefängnis

Auf Anraten der CPT stellte Nadia sich der Polizei und blieb 12 Tage im Gefängnis. Die Frau des Pistolenschützen schickte Nadia einen Drohbrief, und sein Bruder begann, um ihr Haus herumzuschleichen. Der Großgrundbesitzer sagt, er werde es nicht hinnehmen, dass man ihm seine Ländereien wegnimmt. „Das sind schon drei Fraktionen, die mir an den Kragen wollen“, fasst Nadia Pinho zusammen.

Als Witwe mit drei Kindern versucht sie, ihre Familie nicht in den Konflikt hineinzuziehen. „Für mich ist das kein Leben, ich habe keine Ahnung, was passieren wird. Ich habe eigentlich nicht vor, hier wegzugehen. Ich bin hier geboren und habe mein ganzes Leben hier verbracht. Ich bleibe hier, trotz Angst. Das ist das einzige, was ich machen kann“, ergänzt sie.

 

Die Serie „Auf der Todesliste – Marcadas para Morir” erschien bei Adital in Zusammenarbeit mit der Agencia Pública und der Tageszeitung Diário do Pará. Reportagen: Ismael Machado, Fotos: Ney Marcondes. Veröffentlicht von Adital mit Genehmigung der Agencia Pública.

poonal übersetzt einzelne Artikel der Serie. Bisher erschienen:

 

Dieser Artikel ist Teil unseres diesjährigen Themenschwerpunkts:

 

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