Millionen Menschen ohne Zugang zu sozialen Systemen

von Markus Plate

(San José, 09. August 2013, voces nuestras).- Vierzig von hundert Menschen in Zentralamerika leben nicht nur in Armut und gehen allenfalls informellen oder entrechteten Beschäftigungen nach, sondern sind von allen sozialen Sicherungssystemen ausgeschlossen. Zu diesem Ergebnis kommt die aktuelle Erhebung “Estado de Centroamerica”.

 

Wachsende Armut

Dies ist ein statistischer Bericht, der soziale, wirtschaftliche, politische und Umweltindikatoren erfasst, um daraus Schlüsse über die menschliche Entwicklung zu ziehen. Der Bericht basiert auf Daten der nationalen Statistikämter und wird u. a. vom Zentralamerikanischen Integrationssystem SICA (Sistema de Integración Centroamericana) finanziert.

Zwischen den Jahren 2000 und 2011, so der Bericht, ist die Bevölkerung Zentralamerikas von knapp 36 Millionen auf knapp 44 Millionen Menschen angewachsen. Im selben Zeitraum ist die Zahl jener, die in Armut und extremer Armut leben, um drei Millionen angewachsen. Mit einem Anteil von 62 Prozent bezogen auf die Gesamtbevölkerung ist Honduras nach wie vor das Land mit der größten Armut, dies allerdings bei einer geringfügigen Reduzierung.

In Nicaragua und El Salvador schwankt dieser Wert seit dem Jahr 2000 zwischen 40 und 50 Prozent, in Guatemala zwischen 50 und 60 Prozent. In Panama lebt mittlerweile nur noch ein Viertel der Bevölkerung in Armut, vor zehn Jahren war noch jede(r) Dritte arm. In Belize ist die Ungleichheit dagegen in den letzten zehn Jahren deutlich gewachsen, das Land steht nun auf einer Stufe mit El Salvador und Nicaragua. Costa Rica gelang bis 2007 eine deutliche Armutsreduzierung, seither ist der Wert aber wieder auf das Niveau von 2000 zurückgefallen.

Zu geringe Investitionen in Gesundheitssysteme

Nur jede fünfte Zentralamerikanerin bzw. jeder fünfte Zentralamerikaner hat das Glück, Mitglied in einem vollwertigen sozialen Sicherungssystem zu sein. Alle anderen müssen im Krankheitsfall, nach einem Unfall, bei Arbeitsunfähigkeit oder im Alter sehen, wie sie über die Runden kommen. Allgemein investieren die Staaten Zentralamerikas äußerst wenig in ihre Gesundheitssysteme.

Nicaragua gibt 3,7 Prozent seiner öffentlichen Ausgaben für Gesundheit aus. Bei Honduras, El Salvador und Panama sind es zwischen 2 und 3 Prozent und in Guatemala sogar nur ein mickriges Prozentchen. Allein Costa Rica erreicht dem Papier nach mit knapp 9 Prozent leidlich zufriedenstellende Werte.

Im Bildungswesen zeigt sich das gleiche Bild: Costa Rica investiert 7 Prozent seines öffentlichen Budgets, was kaum ausreicht, aber immer noch mehr ist als in Honduras (6 Prozent), Nicaragua (5,2 Prozent), Panama (3,8 Prozent) und El Salvador (3,4 Prozent). Auch hier ist Guatemala Schlusslicht, mit gerade mal 1,6 Prozent.

40 Prozent der costa-ricanischen Kinder leben in Armut

Ein weiterer Indikator dafür, wie wichtig Bildung für die Überwindung von Armut und Ausgrenzung ist, ist der Prozentsatz junger Menschen, die über die Grundschule hinaus im Schulsystem bleiben: Costa Rica und Panama nähern sich hier den 70 Prozent, El Salvador gelang in den letzten Jahren ein deutlicher Anstieg auf mittlerweile gut 60 Prozent. Nach deutlichen Verbesserung stagniert Nicaragua seit 2007 knapp unter der 50 Prozent-Marke, für das Jahr 2011 konstatiert das nationale Bildungsministerium jedoch einen deutlichen Anstieg von Abbrechern auf nahezu einem Fünftel.

Honduras meldet für 2009 und 2011 zwei sprunghafte Verbesserungen, der Index liegt nun etwa auf dem Niveau Nicaraguas. Die prozentualen Verbesserungen im Bildungsbereich werden jedoch durch das Bevölkerungswachstum weitgehend aufgezehrt, die absolute Anzahl von Jugendlichen, die nicht über die Grundschule hinauskommen, liegt annähernd auf dem Niveau des Jahres 2000.

Laut Evelyn Villareal, Koordinatorin der Studie, sind die Bildungsausgaben nach wie vor viel zu gering, um damit die soziale Ausgrenzung irgendwann überwinden zu können. Ein niedriger Bildungsstandard erhöhe, so Villareal, das Risiko von Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung, auch wenn viele Jugendliche gerade deswegen nicht mehr zur Schule gehen, weil sie einer Arbeit nachgehen (müssen). Die Armut trifft im übrigen vor allem Kinder und Jugendliche, wie das Beispiel Costa Rica belegt: Während hier nur knapp ein Viertel der Bevölkerung als arm gilt, leben 40 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Armut, so Jorge Vargas Cullell, der den nationalen statistischen Jahresbericht betreut.

Gewalt und Drogenhandel

Die soziale Situation ist direkt für das Klima von Gewalt und Kriminalität verantwortlich, legt der Report nahe. Für Evelyn Villareal sind Armut und Unterbeschäftigung der ideale Nährboden für die Gewalt, die Zentralamerika auf traurige, weltweite Spitzenplätze katapultiert hat. Die Zahl von Morden pro 100.000 Einwohner*innen, die in Europa üblicherweise um 1 liegt, schnellt in den drei gewalttätigsten Ländern Zentralamerikas auf fast Hundert hoch: Honduras 86,5, El Salvador 68,5, Guatemala 38 (Zahlen von 2011). Allerdings meldet El Salvador für das laufende Jahr einen Rückgang der Mordfälle um fast die Hälfte.

Nach wie vor gelten offiziellen Kriminalstatistiken zufolge die Maras (Jugendbanden), der Drogenhandel und andere Bereiche des organisierten Verbrechens als Hauptgründe für dieses Szenario.

Zentralamerika bleibt (neben einigen Ländern der Karibik), die gewalttätigste Region der Welt, auch wenn sich die Ziffern in den letzten Jahren geringfügig verringert haben. Dieser Rückgang beruhe aber vor allem darauf, dass die verschiedenen Drogenkartelle die Region unter sich aufgeteilt hätten und es somit weniger oft zu blutigen Verdrängungskämpfen komme, so die Studie.

170.000 Morde in den letzten zehn Jahren

El bleibt festzuhalten, dass in den letzten zehn Jahren in Zentralamerika fast 170.000 Menschen ermordet worden sind, davon 87 Prozent im Dreieck Guatemala, Honduras, El Salvador. Andererseits hat sich im selben Zeitraum die Anzahl der Gefangenen in den Gefängnissen Zentralamerikas verdoppelt. In El Salvador sind die Gefängnisse mittlerweile drei Mal so viele Menschen in den Gefängnissen, als die Anzahl von Gefangenen, für die diese ausgelegt sind.

Im Bereich der Kindersterblichkeit ist die Situation deutlich besser geworden, die Zahl pro Hunderttausend Neugeborener sank seit 2000 von 26 auf 17,5. Der Analphabetismus konnte im selben Zeitraum weiter gesenkt werden, jedoch wiederum mit deutlichen regionalen Unterschieden: Während in Belize, Costa Rica, Panama und Nicaragua weniger als 3 Prozent der Bevölkerung nicht oder nicht ausreichend lesen und schreiben können, liegt dieser Prozentsatz in Guatemala, Honduras und El Salvador noch im zweistelligen Bereich.

CC BY-SA 4.0 Millionen Menschen ohne Zugang zu sozialen Systemen von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert