Vargas Llosa und die Menschenrechte

von Wilfredo Ardito Vega

(Fortaleza, 11. Oktober 2010, adital).- „Staatsstreich! Staatstreich!“ schrieen verzweifelt die Ordensschwestern, als sie erfuhren, dass Mario Vargas Llosa in der zweiten Runde der peruanischen Präsidentschaftswahl gegen den Ingenieur Alberto Fujimori verloren hatte.

Drei Jahre zuvor war der Schriftsteller nach Peru zurückgekehrt, um sich an die Spitze der Proteste gegen die Erstarrung der gesellschaftlichen Verhältnisse unter der ersten Regierung Alan Garcías zu setzen. 1990 kandidierte Vargas Llosa schließlich für das Präsidentenamt und setzte im Wahlkampf seinen Schwerpunkt auf eine Liberalisierung der peruanischen Wirtschaft. Viele Peruaner*innen ängstigte die Aussicht auf den wirtschaftlichen „Schock“, den Vargas Llosa mit einer für Politiker*innen ungewöhnlichen Ehrlichkeit ankündigte. Misstrauen rief aber auch seine Verbindung mit den traditionell in Peru herrschenden Gruppen hervor. Für diese stand der millionenschwere und arrogante Wahlkampf des Bündnisses Demokratische Front FREDEMO (Frente Democrático). Trotz des Geschreis der verängstigten Damen akzeptierte Vargas Llosa seine Wahlniederlage und beschloss, zu seinem Leben als Literat zurückzukehren.

Zwei Jahre später, 1992, war es Fujimori, der für den ökonomischen Schock sorgte, vor allem aber einen Putsch gegen sich selbst inszenierte. Eine überwältigende Mehrheit der Peruaner*innen, darunter die Unternehmergruppen, die Vargas Llosa nahe gestanden hatten, unterstützten Fujimoris Vorgehen. Ursache hierfür war die Überzeugung, der Putsch sei notwendig gewesen, um der terroristischen Bedrohung durch die Guerillabewegung Leuchtender Pfad (Sendero Luminoso) Herr zu werden. Gegen die allgemeine Stimmung im Land erklärte Vargas Llosa, es handele sich um ein antidemokratisches Vorgehen. Von vielen erhielt er daraufhin die Antwort, er sei doch nur beleidigt, dass die Peruaner*innen 1990 nicht ihn zum Präsidenten gewählt hätten.

Nur wenigen war bewusst, dass der Selbstputsch einen anderen als den vorgegebenen Zweck verfolgte: Auf Grundlage der 1993 verkündeten neuen peruanischen Verfassung etablierte Fujimori ein neoliberales Wirtschaftsmodell: Die Rolle des Staates in der Wirtschaft wurde zurückgefahren und die sozialen Rechte abgebaut, alles zugunsten der Gewinne der Investor*innen. Nachdem der Terrorismus besiegt war, wurde auch tatsächlich wieder verstärkt in Peru investiert. Zugleich verstand es Fujimori, mit einer Politik der sozialen Fürsorge die Unterstützung breiter Schichten zu halten. Dies sicherte ihm 1995 die Wiederwahl, wobei er erneut gegen einen prominenten Peruaner siegte: den ehemaligen UNO-Generalsekretär Javier Pérez de Cuéllar.

Inmitten der allgemeinen Euphorie waren die einzigen Störenfriede die Menschenrechtsorganisationen, welche die Massaker in La Cantuta und Barrios Altos anprangerten, sowie Vargas Llosa. Er setzte seine Kritik an Fujimori fort, um den Preis einer Entfremdung von den befreundeten Unternehmerkreisen. Diesen gab er empört zu verstehen, dass die wirtschaftlichen Erfolge des „kleptomanischen Satrapenregimes“ in keinster Weise eine Machtkonzentration und Menschenrechtsverletzungen rechtfertigten. Häufig wurde Vargas Llosa dann entgegengehalten, er lebe ja nicht in Peru und sei und sei daher nicht Zeuge des positiven Wandels, der im Land vonstatten gehe.

Die Nachfolger Fujimoris hielten sowohl an seiner Verfassung als auch an seinem Wirtschaftsmodell fest. Paradoxerweise war es der Sozialdemokrat Alan García, der dieses Modell am entschlossensten vorantrieb, nachdem er 2006 zum zweiten Mal zum peruanischen Präsidenten gewählt worden war. Er traf sich sogar mit Vargas Llosa, und 18 Jahre nach den Protesten um eine Verstaatlichung des Bankwesens schien eine Wiederversöhnung der einstigen Gegner gelungen zu sein – wären da nicht die Menschenrechte gewesen, die Vargas Llosa weiterhin Kopfzerbrechen bereiteten. Als einige Medien im Januar 2007 berichteten, beim „Auge, das weint“ („El Ojo Que Llora“) handele es sich um ein Heiligtum zum Gedenken an die Terroristen, besuchte Vargas Llosa kurzentschlossen die Gedenkstätte, um sich ein eigenes Urteil zu bilden. Aus den Eindrücken entstand ein Artikel, in dem der Schriftsteller die Anschuldigungen als eine Folge von „Ignoranz, Dummheit und politischem Fanatismus“ zurückwies. Zugleich unterstützte Vargas Llosa den Bericht der Wahrheitskommission. 2009 bezog er erneut Stellung, als die peruanische Regierung eine Spende aus Deutschland zurückwies, die dem Bau eines Museums der Erinnerung (an den Bürgerkrieg 1980-2000, d.R.) zugute kommen sollte. Damit erreichte Vargas Llosa, dass Präsident García die Entscheidung daraufhin zurücknahm, und erklärte sich zudem bereit, den Vorsitz der Kommission zu übernehmen, die damit beauftragt war, dass geplante Museum zu errichten. Vor wenigen Wochen, am 13. September, schrieb Vargas Llosa allerdings einen wütenden Brief an García, in dem er erklärte, er werde die besagte Kommission unwiderruflich zu den Akten legen. Auslöser war das umstrittene Gesetzesdekret 1057. Vargas Llosa warf García vor, ein Bündnis mit den Kräften des „Fuijimorismus“ eingegangen zu sein.

Der Präsident hatte sich gegenüber der Kritik von peruanischen und internationalen Menschenrechtsorganisationen gleichgültig gezeigt. Auch auf die Stimmen des Vorsitzenden der peruanischen Bischofskonferenz, der Staatsanwaltschaft und der Anwaltsvereinigung von Lima hatte er nicht gehört. Der Brief von Vargas Llosa aber sorgte für einen „Staatsstreich“, jedoch ganz anders, als wie ihn die Ordensschwestern zwanzig Jahre zuvor beklagt hatten: Das Gesetzesdekret 1057 wurde kassiert und Verteidigungsminister Rafael Rey, der für das Dokument verantwortlich gezeichnet hatte, aus seinem Amt entlassen.

Am ersten Oktober erhielten die Mitglieder der Todesschwadron „Grupo Colina“ und der Fujimori-Vertraute Vladimiro Montesinos die schwere Strafe, die sie für ihre Verbrechen verdient haben. Dies wäre ohne den Brief von Mario Vargas Llosa wahrscheinlich nicht passiert. Sein Einsatz für die Menschenrechte lässt mich an Émile Zola denken, der sich ebenfalls nicht auf seinen Lorbeeren als Literat ausruhte. Er entschloss sich, einen Menschen zu unterstützen, den er zwar nicht persönlich kannte, von dem er aber wusste, dass er zu Unrecht verurteilt worden war: Der jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus. Zola stand der vorherrschenden öffentlichen Meinung in Frankreich allein gegenüber, aber er ließ nicht nach, bis Dreyfus aus dem Gefängnis freigelassen und rehabilitiert worden war.

Aus all diesen Gründen ist die Verleihung des Literaturnobelpreises 2010 an Vargas Llosa, nur wenige Wochen nach seinem Brief vom 13. September, die verdiente Anerkennung seines Lebenswerks nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als engagierter Bürger.

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