Ungelöstes Problem Großgrundbesitz

von Aldo Marchesi

(Montevideo, 03. Oktober 2011, la diaria).- „Der Großgrundbesitz ist der größte Feind des sozialen Fortschritts.“ Diesen Satz sagte der uruguayische Präsident José Batlle y Ordóñez im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise 1929, seinem Todesjahr. Interimsmäßig regierte er drei Mal: 1899 sowie 1903–1907 und 1911–1915. Die damalige Krise hatte Batlles Diskurs radikalisiert, angesichts eines der für ihn wichtigsten Probleme des modernen Uruguay.

Der „Batllismo“, quasi das politische Programm von José Batlle y Ordóñez, versuchte die Landkonzentration auf verschiedene Weise zu verringern. Zum einen durch eine nach Umfang ansteigende Besteuerung von Land, zum anderen aber durch die gezielte Förderung von Besiedelung und die Entwicklung der Landwirtschaft, vor allem auch unter technologischen Gesichtspunkten. Zwar wurde die Mehrzahl von Batlles Projekten nicht umgesetzt, doch stellt der Batllismo einen Vorläufer der Kritik an den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen Uruguays dar, die durch die Landkonzentration hervorgerufen wurden.

Feudale Relikte

Zahlreiche Autoren schrieben über die Fesseln, welche der Großgrundbesitz für eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Modernisierung Uruguays bedeutete: zum Beispiel Emilio Frugoni, Rodney Arismendi, Vivián Trías, Carlos Quijano, Wilson Ferreira und Danilo Astori. In den 1950er Jahren zeigte das „neobatllistische“ Modell Schwächen. Für die deutlich erkennbare wirtschaftliche Stagnation machte ein großer Teil von Uruguays Eliten die „zurückgebliebene“ Struktur auf dem Land verantwortlich. Dabei wurde der Großgrundbesitz als sowohl wirtschaftlich unproduktiv als auch als sozial ungerecht kritisiert. Hier bestanden in gewisser Weise feudale Praktiken fort, die so gar nicht zusammen passten mit den Rechten, welche die Arbeiter*innen Mitte des 20. Jahrhunderts in den Städten erstritten hatten.

Populistische Agrarreformen in anderen Ländern

Die Überlegungen in Uruguay verliefen nicht weit entfernt von dem, was zu jener Zeit in ganz Lateinamerika geschah. Das Thema Agrarreform war kein fremder Begriff. Zu seinen Verteidiger*innen zählten einerseits populistische Bewegungen, von denen einige wichtige Agrarreformen anstießen, zum Beispiel in Mexiko, Guatemala und Bolivien. Unterstützung kam aber auch von auf Entwicklung ausgerichteten Strömungen aus der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und der Karibik CEPAL (Comisión Económica para América Latina y el Caribe). Diese hielten eine Agrarreform für unerlässlich, um den jeweiligen nationalen Kapitalismus zu entwickeln.

Einschnitt kubanische Revolution

In den stürmischen 1960er Jahren erhielt der Begriff schließlich neue Inhalte. Die kubanische Revolution verband ihn mit dem Aufbau der ersten sozialistischen Gesellschaft in Lateinamerika. Ab diesem Zeitpunkt verwandelte sich die Vorstellung einer Agrarreform zu einem Banner jener Verteidiger*innen einer revolutionären Vorstellungswelt, die der kubanischen Erfahrung nacheifern sollte. In diesem Zusammenhang sind auch die ersten Protestmärsche uruguayischer Zuckerrohrarbeiter 1962 und 1963 zu nennen.

Ausweitung des Binnenmarktes fördern

Doch auf das Thema Agrarreform hatte die radikale Linke keineswegs ein Monopol. Die Allianz für den Fortschritt (Alianza para el Progreso), 1961 von US-Präsident John F. Kennedy ins Leben gerufen, sah eine Agrarreform als ein entscheidendes Element ihrer Idee einer „Revolution in Freiheit“ an. Die Programme stützten sich hierbei auf Expert*innen, die mit der Entwicklungsphilosophie der CEPAL verbunden waren. Diese beharrten auf der Rolle, welche die Agrarreform für eine Ausweitung des Binnenmarktes in den lateinamerikanischen Ländern zu spielen habe, ebenso wie für eine Modernisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf dem Land sowie um Ungleichheit abzubauen. Der Druck der USA führte dazu, dass in vielen lateinamerikanischen Ländern Maßnahmen im Sinne einer Agrarreform ergriffen wurden. Trotz überwiegend schwacher Ergebnisse sorgten die Maßnahmen dafür, dass Debatten ausgelöst wurden und die Gesellschaften Forderungen erhoben, welche Auswirkungen auf die folgenden Jahrzehnte haben sollten.

Zwölf Jahre Diktatur in Uruguay

Dieses Klima wirkte auch auf Uruguay ein, das Land tat aber hinsichtlich einer Agrarreform nichts. Ein Bericht der Kommission für Investitionen und wirtschaftliche Entwicklung CIDE (Comisión de Inversiones y Desarrollo Económico) gab zwar 1965 die Empfehlung für eine Agrarreform ab, und zahlreiche führende Politiker der beiden traditionellen Parteien Uruguays, der konservativen Blancos und der liberalen Colorados, schlossen sich der Auffassung an, dass eine Agrarreform unumgänglich sei. Die uruguayische Linke allerdings konnte mit dem aus ihrer Sicht verzagten Bericht nichts anfangen und schlug radikalere Lösungen vor. Außer Worten steuerten Uruguays Regierungen in den 1960er Jahren nichts zu einer Agrarreform bei. 1971 schließlich brachten sowohl der konservative „Wilsonismus“ als auch das linke Parteienbündnis Frente Amplio das Thema wieder in die öffentliche Debatte ein. Unter der Diktatur, die Uruguay von 1973 bis 1985 beherrschte, verschwand die Agrarreform selbstverständlich von der Tagesordnung. Diese historischen Versäumnisse haben dazu geführt, dass Uruguay einen mäßig hohen Grad an Landkonzentration aufweist – verglichen mit den Zuständen in ganz Lateinamerika, dem Kontinent mit der ungleichsten Landverteilung weltweit.

Landwirtschaftliche Struktur schwindet

Ab den 1990er Jahren begann der Agrarsektor sich teilweise von der tiefen wirtschaftlichen Stagnation abzulösen, die Uruguay über mehr als drei Jahrzehnte ergriffen hatte. Auch nach der Krise 2002 erwies sich die Agrarwirtschaft als ein ganz wesentlicher Faktor für ein ungewöhnliches Wachstum. In diesem Zyklus zeigte sie eine gewisse Befähigung zur technologischen Erneuerung, verbesserte ihre Produktivität und begann allmählich ihre Produkte zu diversifizieren. Dennoch unterschieden sich die gesellschaftlichen Ergebnisse nicht grundlegend von jenen Zuständen, die zu Zeiten des ersten Batllismo die Kritiker*innen auf den Plan gerufen hatten. Verschiedene Ökonomen haben auf den engen Zusammenhang hingewiesen, der zwischen den Widerständen gegen einen Abbau der Ungleichheit und einem Wachstumsmodell besteht, das auf einer hochgradig konzentrierten Landwirtschaft basiert.

Was eigentlich ganz offensichtlich ist, scheint in der öffentlichen Debatte Uruguays aber kaum eine Rolle zu spielen. Heute wird darüber diskutiert, wer die Kosten für den Straßenbau in ländlichen Regionen bezahlt, nicht aber darüber, dass die landwirtschaftliche Struktur im Schwinden begriffen ist.

Frente Amplio handelt in Regierung nicht

Das Fehlen dieser Debatte steht in auffälligem Gegensatz zu der ausgiebigen Beschäftigung mit der Thematik während des 20. Jahrhunderts. Noch auffälliger aber ist, dass dies zu einer Zeit geschieht, in der die Frente Amplio an der Regierung ist, eine politische Kraft, die sich eigentlich als Synthese der fortschrittlichen Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts darstellt. Was hat zum Verstummen der Kritik geführt? Was hat sich in diesem Jahrhundert verändert? Kann das Thema Agrarreform denn außer Acht gelassen werden, wenn wir an eine fortschrittlichere Verteilung von Einkommen und Reichtum denken? Wenn jemand einen Beitrag zur Beantwortung dieser Fragen leistet, können wir uns vielleicht der Frage annähern, was es in diesem neuen Jahrhundert bedeutet, links oder fortschrittlich zu sein.

 

 

 

 

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